Im November 1811 begann in England die Aufstandsbewegung der Ludditen. Zahllose freie Textilhandwerker revoltierten gegen die Industrialisierung ihres Berufes, die sie dazu zwang, ihre Form von gemeinschaftlichem Leben, gegründet auf häuslicher Wirtschaft, aufzugeben, um zukünftig als Lohnarbeiter in Fabriken zu arbeiten, dem Arbeitsmarkt ausgeliefert und von einem Chef abhängig zu sein.
Sie zerstörten die neuen Web-, Spinn- und Appreturmaschinen und steckten bis einschließlich 1812 und später mehrere Fabriken in Brand. Dabei beriefen sich die Handwerker auf Ned Ludd, der um 1790 herum als erster eine Maschine mit Hammerschlägen zerstörte und erklärten «König Ludd» oder «General Ludd» zu ihrem fiktiven Oberhaupt.
Dieser Widerstand gegen die Industrialisierung sollte sich in der Folge über ganz Europa ausbreiten und noch heute begehren Bewohner in zahlreichen so genannten «Schwellen»-ländern gegen große Industrieprojekte auf, weil sie ihres Grund und Bodens und ihrer natürlichen Lebensgrundlagen beraubt werden.
Das Aufkommen des Industrialismus
Industrialismus entspricht einer Denkweise, die Technik und Großindustrie als nicht zu hinterfragende Tatsachen und Triebfedern jeglichen Fortschritts ansieht.
Das Wort tauchte um 1820 auf und mit ihm die entsprechende Überzeugung. Es war die Periode der beginnenden Industrialisierung der westlichen Welt, welche mannigfache soziale und kulturelle Umwälzungen mit sich bringen sollte. Im engeren Sinne ist Industrialismus die Bezeichnung des industriellen Systems von Saint-Simon (1760-1825), des Aristokraten und Philosophen, der nach seinem Tod zum Inspirator der ersten sozialistischen Bewegung in Frankreich wurde: dem Saint-Simonismus. Saint-Simon prägte die sprachliche Neubildung «Industrialismus» 1824 in seinem Werk «Katechismus der Industriellen». Es erschien ein Jahr vor seinem Tod. Der Begriff umfasst die Gesamtheit neuartiger Überzeugungen in der Welt der Industrie: Fortschrittsglaube, blindes Vertrauen in die Maschine und die unumstößliche Überzeugung, dass die Großindustrie zur Bedingung für Glück, Freiheit und Selbstbestimmung wird.
Für Saint-Simon lag «Das Paradies vor uns, es ist irdisch» und die Industrie, indem sie die alten Götter verdrängt, sollte das Aufkommen einer brüderlichen und im Überfluss lebenden Gesellschaft befördern1. Diese Idee sollte viele Hoffnungen wecken und das Wort «Industrialismus» fand schnell großen Anklang. Es drückte mehr und mehr die Erwartungen des Industriellenmilieus aus, eines Ökonomen etwa wie Jean-Baptiste Say, aber ebenso des Staates; der entstehenden Industrie konnte man damit einen utopistischen und emanzipatorischen Inhalt geben, der im Kontrast stand zu den Besorgnissen und Zweifeln, die die Ausbreitung der industriellen Produktion begleiteten. Auf Anhieb erhielt das Wort eine politische und popularisierende Funktion, es ging um die Herausbildung eines Konsenses über die von der «industriellen Revolution» zu erwartenden Wohltaten.
Der Ökonom Charles Dunoyer präsentierte 1827 zweifelsohne die anschaulichste Definition für Industrialismus in einer Broschüre, die den Titel «Historische Notiz zum Industrialismus» trug. Er meinte, dass die Industrie zum «Ziel moderner Nationen» werden solle, dass «sie das Lebensprinzip der Gesellschaft [sei] und sie allein die Fähigkeit [hätte], dieser Prosperität, Moralität, Friedfertigkeit etc. zu verleihen». Weit davon entfernt, lediglich den Theoretikern der damals neu entstehenden Industrie vorbehalten zu sein, fand der Begriff schnelle Verbreitung. 1838 beispielsweise schrieb die Gesellschaft der Industriellen von Mulhouse, der elsässische Großindustrielle angehörten, einen Wettbewerb aus, um «die beste Abhandlung zum Industrialismus in seiner Beziehung zur Gesellschaft unter moralischen Gesichtspunkten» prämieren zu können.
Das Ziel war, einer allgemein verbreiteten Meinung, wonach «der Industrialismus die Quelle sozialer Demoralisierung» sei, entgegenzutreten und nachzuweisen, dass die Industrie im Gegenteil «Wohlstand und Glück» mit sich bringe.
Der Glaube an den Industrialismus hat mit dem Aktivwerden von Drückerkolonnen, Zeitungen und Institutionen, die eifrige Verfechter dieser Überzeugung waren, ständig zugenommen. Um sich jedoch letztlich durchzusetzen, mussten die Anhänger des Industrialismus die vielen Gegenmeinungen einfach niederhalten und diskreditieren.
Zweifel und Besorgnisse
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es tatsächlich viele Zweifel und Besorgnisse über die Industrie, die auf heutige Debatten verweisen. Arbeitergemeinschaften revoltierten gewaltsam gegen den Einzug der Maschine und ihre Unruhe stiftenden Auswirkungen. Es gab Ärzte, wie z.B. Fodéré, die ohne Unterlass «die mechanischen Gewerke und Manufakturen [anprangerten], die nicht nur für die unmittelbar Beschäftigten, sondern auch für die Anwohner gesundheitsschädlich sind»2. Selbst wenn der «Industrialismus» von Kreisen in Paris ausgeheckt wurde, wurde er doch überall von Arbeitern abgelehnt, die gegen den Einzug der Maschine opponierten, ebenso wie von Ärzten, die die Auswirkungen einer unkontrollierten Industrialisierung fürchteten.
Kurz nach dem Tod von Saint-Simon brachten verschiedene Autoren Einwände gegen seine Utopie des Industrialismus vor. In der Auseinandersetzung um den Industrialismus prangerten ihn beispielsweise Stendhal und Benjamin Constant an und bezeichneten ihn als Bedrohung für die Freiheit. Katholiken und Traditionalisten geißelten das «Überhandnehmen des Industrialismus, welcher uns einzusperren droht in der schändlichen Sphäre materieller Genüsse», sie sahen ihn als Krieg, der geführt werde gegen «alles, was dem Menschen an Immateriellem, Edlem und Gesundem eigen ist» (Le semeur, 29.10.1834). In derselben Zeit gab es andere sozialistische Gruppen, die die Begeisterung der Saint-Simonisten für die Industrie nicht teilten. So war es Charles Fourier, Autor von Die neue Welt der Industrie und Vergesellschaftung (1829), welcher der Industrie und den Maschinen keine entscheidende Rolle in seinem neuen Projekt einer Utopie zugesteht. Für ihn war das Phalansterium3 zuallererst ein ländliches Universum und er misstraute technischen Verfahren, den «Missständen der Industrie» und der «Illusion des Industrialismus». Noch 1840 warnte die Zeitung La Phalange zugleich mit der Beschreibung einer neuen Dampfmaschine den Leser: «Ist es nicht angebracht, das immer schnellere Zunehmen der Feuermaschinen, dieser Monster aus Eisen, zu fürchten, deren Gefräßigkeit droht, alles Brennbare dieser Welt zu verschlingen?».
Es brauchte eine gewisse Zeit, bis über den Industrialismus Einvernehmen herrschte, und dies war das Ergebnis einer beharrlichen Propagandaarbeit mit dem Ziel, die Industrie zum einzig möglichen und denkbaren Schicksal der menschlichen Gesellschaft zu machen.
Mehr als ein Jahrhundert lang funktionierte das perfekt, erschwerte und verdrängte jegliche Kritik am Modell der westlichen Großindustrie und der theoretischen Auffassung von Entwicklung, welche dieses hervorbrachte, trotz der Verwüstungen, der Umweltschäden und des Elends, die sie bis zum heutigen Tage verursacht hat. Heute erleben wir, wie unter der gleichzeitigen Wirkung weltweiter ökologischer Veränderungen, fortwährender Einbrüche von Wirtschaft und Finanzen und den verhängnisvollen Auswirkungen allgemeinen Wirtschaftskriegs die Krise dieses Einvernehmens eingesetzt hat.
Recht und Industrialismus
Die Rechtsordnung, in der wir leben, ist zu großen Teilen in der Epoche des erwachenden Industrialismus geboren. Weit davon entfernt, uns zu beschützen, bildet sie einen der Pfeiler des normgebenden Regelwerkes, welches uns daran hindert, über die Wachstumsideologie hinauszudenken.
Wie kann der Einfluss der Macht gebrochen werden? Wie können die Exzesse einer mörderischen, weil kapitalistisch funktionierenden Industrie beherrscht und reguliert werden? Recht und Gesetz werden häufig als entscheidende Instrumente präsentiert, die geeignet sein sollen, Begehrlichkeiten der Macht und der kapitalistischen Großindustrie in die Schranken zu weisen. In den Medien wird die Umweltgesetzgebung als das wesentliche Mittel dargestellt, wirtschaftliches Wachstum in Harmonie mit der Natur zu bringen. Und völlig zu Recht wächst die Empörung über das Aufweichen der Umweltgesetze unter der Regierung Sarkozy, um «dem Wachstum einen neuen Schub [zu] verleihen». Aber wenn nun Rechtsnormen nicht die Lösung sondern das Problem sind?
Umweltrecht bildet heute ein sehr komplexes und vielgestaltiges Ensemble, immer technischer und umfangreicher, lokal und global zugleich. Der Einfachheit halber wird häufig unterschieden zwischen Rechtsnormen, die den Naturschutz betreffen und solchen, die auf den Kampf gegen Verschmutzung und andere von der Industrie ausgehende Gefahren hinzielen. Oft wird das Umweltrecht als ein sehr junges hingestellt, es tauchte in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf, als man sich der Verwüstungen durch die Industriegesellschaft bewusst zu werden begann. Die Weltumweltkonferenz 1972 in Stockholm könnte dafür als Entstehungszeitpunkt gelten. In deren Abschlussdeklaration heißt es, dass «der Mensch ein fundamentales Recht auf Freiheit, Gleichheit sowie zufrieden stellende Lebensbedingungen besitzt in einer Umwelt, deren Qualität ihm garantiert, in Würde und Wohlbefinden zu leben. Er hat die heilige Pflicht, die Umwelt für heutige und zukünftige Generationen zu schützen und zu verbessern».
Im vergangenen Jahr hat das Umweltministerium verschiedene Kundgebungen zum 200. Jahrestag des Dekrets von 1810 über gesundheitsschädliche Betriebsstätten organisiert. Dieser Text begründete ein System der Einstufung von Betriebsstätten: Ein Verzeichnis ordnet Industrieanlagen entsprechend ihres Grades von Gesundheitsschädlichkeit und sieht vor, dass jeder an einer Neugründung interessierte Unternehmer eine Anfrage stellt und sich einer umfassenden Datenerfassung unterwirft.
Industrieanlagen wurden so in drei Klassen eingeteilt, abhängig von ihrer «Unzulänglichkeit», und die unter Eins firmierenden mussten von Wohngebieten ferngehalten werden.
Ein zweifelhaftes Gründungs-dekret
Wer kein Spezialist ist, erkennt den Sinn dieses Textes nicht, in offiziellen Kreisen wird er jedoch als erste Etappe des allmählichen Zutagetretens einer französischen Umweltgesetzgebung präsentiert. Eigentlich hätte dieser Text die Profitgier der Kapitalisten und die Umweltverschmutzungen durch die Industrie im Namen des Allgemeinwohls dämpfen müssen. Die offizielle Staatsdoktrin sieht in ihm denn auch einen ersten Schritt beim Bewusstwerden der Notwendigkeit, dass die schlimmsten Auswirkungen eines ungebremsten industriellen Wachstums zu bekämpfen sind. Folgte man dieser Doktrin, so stellt der Text in der Tat die Altehrwürdigkeit eines Staates unter Beweis, der über den Parteien steht und der eingreift, wenn die Gier der Großindustriellen durch eindeutige Grenzen gezähmt werden soll. Mehrere historische Abhandlungen jüngeren Datums klären jedoch in deutlich anderer Weise über diesen «Gründungstext» auf.4
Das Dekret vom 15. Oktober 1810 über die Einstufung von Betriebsstätten ist das Ergebnis langjähriger Mühen. Es erlangte unter napoleonischer Herrschaft Gesetzeskraft. In dieser Zeit entwickelten sich die chemische Industrie und mit ihr die Umweltverschmutzungen, denen eine Vielzahl von Klagen seitens betroffener Anwohner folgten. Hinter dem Text steht eine starke Lobby, die Wissenschaftler, Industrielle und Vertreter des Staates, wie z.B. den ehemaligen Innenminister Chaptal, vereint. Weit davon entfernt, den Einfluss von Industriellen zu beschränken, stärkt dieses Dekret vielmehr die Macht der Chemiebranche über die Ärzteschaft und die Lokalpolitik und vertraut den Bergbauingenieuren – dieser Speerspitze des industriellen Wachstums – die Aufgabe von Risikoeinschätzungen an. Und es verhindert in keiner Weise schädliche Auswüchse der Industrie, sondern dient vielmehr dazu, die Industriellen vor gerichtlicher Verfolgung zu schützen, welche das Wachstum ihrer Branchen bedrohen würde. Indem schon damals die Anwendung des Gesetzes industriegläubigen Technokraten unter napoleonischer Herrschaft überlassen wurde, welche höchstselbst an einer Modernisierung des Landes interessiert war, um seine militärische Schlagkraft zu erhöhen, beschränkte und beschnitt dieses Dekret die Eingriffsmöglichkeiten der einfachen Bürger. Der augenscheinliche Zwang für die die Umwelt schädigende Großindustrie, Genehmigungen bei Behörden einzuholen, war in Wirklichkeit lediglich eine notwendige Bedingung zu ihrem Schutz, denn dank dieses Gesetzes waren die Industriellen der Rechtssprechung der Gerichte und dem Druck der Anwohner entzogen.
Von Anfang an erwies sich also die Gesetzgebung, die eigentlich gefährliche Auswüchse einer unkontrollierten industriellen Entwicklung beschränken sollte, ganz im Gegenteil als eine ihrer gewichtigen Rückhalte. Sie war eben nicht die Manifestation eines um das Wohl des Volkes besorgten Staates. Dieser erste Gesetzestext, der die schädlichen Wirkungen der Industrie regulieren sollte, zeugt vielmehr von den engen, den Beginn der Moderne kennzeichnenden Verflechtungen zwischen Industrie, Wissenschaft und Armee. Den Nutzen daraus zog eine industrialistische, wissenschaftsgläubige und zentralistische Politik.
* Historiker an der Université der Bourgogne, Autor von «Face au monstre mécanique. Une histoire des résistances à la technique» (Dem Maschinenmonster gegenüber. Eine Geschichte des Widerstandes gegen die Technik) (Verlag IMHO 2009) und «Les Luddites. Bris de machine, économie politique et histoire» (Die Ludditen. Sturm auf die Maschinen, politische Ökonomie und Geschichte) (Verlag è®e, 2006)
- Pierre Musso, Saint-Simon, L’industrie contre l’Etat, Verlag L’Aube, 2010
- Über die Bildung des industrialistischen Konsenses am Beginn des 19. Jahrhunderts siehe: Thomas Le Roux, Le laboratoire des pollutions industrielles, Paris 1770-1830, Verlag Albin Michel 2010 und François Jarrige, Au temps des tueuses de bras. Le bris de machines à l’aube de l’ère industrielle, Rennes, UPR (universitäre Presse von Rennes), 2009
- Wortbildung aus: frz. Phanantère, gr. Phalanx «Kampfeinheit» und lat. Monestarium «Klösterliche Gemeinschaft»
- Histoire de la pollution industrielle, France, 1789-1914, G. Massard-Guilbaud, EHESS, 2010; Thomas Le Roux, (s. Fußnote 2)