Im Jahr 1979, als es in Frankreich knapp eine Millionen Arbeitslose gab und die Gehälter der Arbeiter noch nicht aufgehört hatten anzusteigen, veröffentlichte ein unbekannter Ökonom einen Essay unter dem provokativen Titel: "Auf dass die Krise sich zuspitze!" François Partant, ehemaliger „Entwicklungsbanker“, legte um 1970 alle seine Ämter in internationalen Institutionen nieder, aus Ablehnung der Aufträge, die er zwanzig Jahre lang ausgeführt hatte: die Modernisierung der Ökonomien der Dritt-Welt-Länder mit dem Ziel, sie durch Wohlstandstransfers aus den am weitesten industrialisierten Ländern in die „entwickelte“ Welt zu integrieren.
Partant hatte nicht nur bemerkt, dass diese Transfers ineffizient waren – in dem Sinne, dass sie damals weder den Ökonomien dieser Länder (Iran, Elfenbeinküste, Brasilien...) zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhalfen, noch ihren Bewohnern ermöglichten, sich dem westlichen „Lebensstandard“ anzunähern –, er war auch zu dem Schluss gekommen, dass die Zielsetzungen der Organisationen, für die er arbeitete, an sich falsch waren. Die philanthropische Vorstellung von Entwicklung maskierte vor allen Dingen die erzwungene Umwandlung zum industriellen Kapitalismus derjenigen Regionen der Welt, die bis dahin eher nicht unter diese Herrschaft fielen – das heißt Regionen, die ihre eigenen Formen von Überfluss und Armut kannten, ihre eigenen sozialen Hierarchien und ihre eigenen Vorstellungen von Gleichheit und Würde. Diese Vorstellungen waren oft nicht vollkommen und mitunter sehr kritisch zu betrachten, wurden aber durch die Zerstörung der Subsistenzwirtschaft, die Flucht vom Land in die Elendsviertel und den Einzug des Konsumismus in keinem Fall in eine wünschenswerte Richtung verändert.
Als Entscheidungsträger und Arbeiter der „entwickelten“ Welt ungläubig begreifen mussten, dass die Wachstumsraten aus den Zeiten des Wirtschaftswunders, für viele gleichbedeutend mit materiellem Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit, nicht wiederkehren würden, schreckte Partant nicht davor zurück, das Nest zu beschmutzen. Er erfreute sich an der Verlangsamung des Wachstums, am Anstieg der Arbeitslosigkeit und an der Unfähigkeit der Regierungen, die Wirtschaft durch Konsumanreize anzukurbeln. Schonungslos prangerte er die Grundlagen des wundersamen Wohlstands der westlichen Länder seit dem Zweiten Weltkrieg an: die Modernisierung der Landwirtschaft, die Marktförmigkeit von Lebensweisen und die Bürokratisierung von Solidaritäten, die brutale und direkte Ausbeutung natürlicher Ressourcen der Bevölkerungen des Südens, der entfremdende Charakter der gestückelten und automatisierten Arbeit auf den Feldern, in den Fabriken und in den Büros des Nordens. Seine Argumentation trug noch jene Geisteshaltung der 68er-Bewegung in sich, die sich weigerte, im kapitalistischen Überfluss, den der Taylorismus ermöglicht hatte und der in den ersten Supermärkten Gestalt annahm, eine greifbare Emanzipation zu sehen. Und die davon ausgingen, dass es keine (über das einzelne Arbeitskollektiv hinausgehende) kollektive Finalität, kein brauchbares politisches Programm zur Veränderung der Gesellschaft sein konnte, den Arbeitgebern Lohnerhöhungen abzuringen, wie wichtig und wohltuend das auch sein mochte.
Soweit so gut - aber muss man sich gleich die Zuspitzung der Krise herbeiwünschen? Dies erklärt sich darin, dass Partant damals, zum Ende der 70er Jahre, noch Hoffnung in manche politische Gruppen am Rande der entstehenden Öko- und Anti-Atom-Bewegung setzte, die die Frage der Subsistenz außerhalb der industriellen und staatlichen Kreisläufe aufwarfen. Er hoffte, dass die Krise immer mehr Menschen die unabänderliche Absurdität eines Systems vor Augen führen würde, das auf Konkurrenz, Automatisierung und Aufgabe der Selbstbestimmungsrechte des Einzelnen und der Gemeinschaften zugunsten großer Institutionen basierte. Er ging davon aus, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit, zusammen mit einer Bewusstwerdung der Zerstörung natürlicher Gleichgewichte durch die moderne Ökonomie, Menschen aus unterschiedlichen beruflichen und sozialen Milieus zur gegenseitigen Unterstützung, zur Experimentierfreude, zur Aneignung des von Industrie und verschiedenen Fachleuten in Beschlag genommene theoretische und praktische Wissen anregen würde; dass entlassene Arbeiter und vom teuren Benzin abhängige Vorstädter Gemüsegärten anlegen würden; dass manche Landstriche neu besiedelt werden würden; dass es immer mehr Kooperativen geben würde, die „benutzerfreundliche“ Techniken anwenden und dezentralisiert Strom herstellen; dass ein Teil der Bevölkerung die technischen Spielereien der High-Tech-Industrie meiden und sich vielmehr an eine Bestandsaufnahme eigener Bedürfnisse machen würde.
Wir wissen, dass daraus nichts wurde. Die 80er Jahre brachten das genaue Gegenteil von dem, was Partant forderte: die Rehabilitierung der Unternehmen und des Profits in den Köpfen, der Einzug der ersten Computer in die Haushalte, die massenhafte Vermehrung von Atommeilern in den Landschaften (trotz der Katastrophe von Tschernobyl). Man kann nicht sicher sagen, ob die damalige Wirtschaftskrise je überwunden wurde – in gewissem Sinne ist die heutige einfach eine Fortsetzung. Sicher und am wichtigsten aber ist, dass während dieser ganzen Jahre die Wirtschaft über den Menschen triumphiert hat. Lange bevor die Börsen im Herbst 2008 zusammenbrachen, lange bevor die Rezension drohte, standen wir vor einer Krise der Zivilisation. Und auch wenn diese Krise schon Jahrzehnte anhält, und trotz des Medien- und Werberummels zur „Rettung des Planeten“, möchte fast niemand etwas von ihr wissen.
Die Frage, der wir in diesem Text nachgehen möchten, ist folgende: kann man heute wie François Partant vor 30 Jahren fordern, „auf dass die Krise sich zuspitze“? Oder anders gefragt, kann man sich zu einer Zeit, in der keine einzige gesellschaftliche Gruppe in der Lage ist, ohne Industrieerzeugnisse zu überleben und zu leben, etwas von einer Zuspitzung der ökonomischen Krise erwarten? Ist es beispielsweise sinnvoll zu hoffen, dass die Krise sich verschärft, weil es sich ausschließlich um eine Krise des Kapitals handelt, oder, noch hypothetischer, eine Krise der Eliten, um „ihre Krise“, wie man es oft hört? Oder aber: Ist es sinnvoll zu denken, dass die Wirtschaftskrise dazu beiträgt, dass die Menschen sich der Krise der Zivilisation bewusst werden? Sicher, um Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man sich zunächst fragen, ob es sich tatsächlich um eine Krise des Kapitalismus handelt. Und falls ja, was sind die Verbindungen mit der soziokulturellen Krise, deren Wurzeln bis in die Zeiten des Wirtschaftswachstums der letzten beiden Jahrhunderte zurückreichen?
Die Widersprüche des Kapitalismus
Das kapitalistische System ist zwischen zwei oft widersprüchlichen Erfordernissen gefangen. Sein Funktionieren erfordert, dass die Unternehmen günstige Verhältnisse zur Ausbeutung der Beschäftigten vorfinden – dass sie der Arbeitskraft möglichst wenig bezahlen müssen, dass sie gegenüber der Konkurrenz und bezüglich der Ertragserwartungen ihrer Aktionäre etc. rentabel sind. Aber das Funktionieren der modernen Ökonomie bedarf gleichzeitig eines Absatzmarkts, auf dem die Unternehmen ihre Produkte absetzen können. Wenn die Waren sich vor allem an schlecht bezahlte Arbeitnehmer richten, verkaufen sie sich schlecht und alle Rentabilisierungsanstrengungen, die Preise und vor allem die Löhne zu drücken, waren umsonst.
Dieser Widerspruch überschattet alle industrialisierten Volkswirtschaften seit über 150 Jahren. Er ist auch der unmittelbare Ausgangspunkt der berühmten Krise von 1929. Während zwei oder drei Jahrzehnten gelang es dann in den „am weitesten entwickelten“ kapitalistischen Staaten, diesen Widerspruch zu bannen. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Mitte der 70er Jahre setzten die Unternehmen und die westlichen Staaten eine Politik der bisweilen massiv ansteigenden Löhne um, die vor allem darauf abzielte, eine erneute allgemeine Krise durch Produktionsüberschuss abzuwenden, indem den Arbeitern die Möglichkeit gegeben wurde, die immer zahlreicheren industriellen Erzeugnisse zu konsumieren. Innerhalb der vor allem nationalstaatlich organisierten Ökonomien (1960 war die französische Produktion fast ausschließlich für den eigenen Markt bestimmt), akzeptierten die herrschenden Klassen gerne, dass der technische Fortschritt von einer Art sozialen Fortschritts begleitet wurde, nämlich der Anhebung des Lebensstandards der Arbeiterklasse, gemessen an ihrer monetären Kaufkraft. Sicher gab es eine relative Angleichung der sozialen Verhältnisse, allerdings auf der Grundlage einer allgemeinen Enteignung der Mittel zur Produktion und Lebensführung: Lohnarbeit für alle, Zerstörung jener Techniken, die eine Produktion in menschlicheren Maßstäben ermöglichen, Verdrängung von kostenlosen Beschäftigungen und Selbstversorgung durch kostenpflichtige Konsumangebote und die Notwendigkeit, immer mehr Geld verdienen zu müssen, um den immer höheren modernen Lebensstandard beibehalten zu können.
Vor dem Hintergrund eines hartnäckigen aber konfusen politischen Aufbegehrens gegen diesen Fortschritt kommt es in den 1970er Jahre schließlich zu erheblichen Veränderungen. Die am weitesten entwickelten Industrieökonomien werden „entnationalisiert“, ein Vorgang, der als die „neue internationale Arbeitsteilung“ bekannt wird, oder auch geläufiger als wirtschaftliche Globalisierung: in den Ländern des Nordens ist ein immer größerer Teil der Inlandsproduktion für den Export bestimmt und ein wachsender Anteil der Konsumprodukte kommt aus anderen Ländern. Die kapitalistische „Aufwärtsspirale“ der Nachkriegsjahrzehnte kommt zum Erliegen, da die Kaufkraft der Lohnarbeiter auf lokaler Ebene keine unmittelbaren Absatzmöglichkeiten hervorbringt. Die Unternehmen legen erneut den Schwerpunkt auf eine Rentabilitätssteigerung durch Kostensenkung. In direkter Folge wächst die Kaufkraft der weniger wohlhabenden Klassen in den westlichen Ländern weniger stark, stagniert oder lässt ab den 1980er Jahren, besonders in den angelsächsischen Ländern, sogar nach. Davon unbeeinflusst steigt der Konsum weiter an und die neusten technologischen Wunderwerke finden in nahezu allen Bevölkerungsschichten der Länder des Nordens Verbreitung.
Denn das Kapital findet immer wieder effiziente Mittel, um den steten Warenabsatz zu sichern und die Anzeichen des grundsätzlichen Ungleichgewichts seiner Akkumulation aufzuschieben. Eines dieser Mittel ist die Vergabe von Verbraucherkrediten, die in den Jahren vor der aktuellen Krise eine wesentliche Rolle gespielt haben. In den USA wurde ein Teil der Unter- und Mittelschicht buchstäblich an den Tropf gehängt, um weiter ohne nachzudenken Geld ausgeben zu können und so das Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, das längst durch Lohnkürzungen und geringe steuerliche Umverteilung verpfändet war. Amerika lebte seit langem mit einer auf ihrer Spitze stehenden Kreditpyramide und das einzig Erstaunliche daran ist, dass es durch die Beschaffenheit unserer sozialen Ordung für solch einen langen Zeitraum möglich war, den unvermeidlichen Crash aufzuschieben – als ob die Ausmaße des Abgrunds, der sich vor allen Beteiligten eröffnete, eine derartige Angst vor dem Hinschauen verursachte, dass sie auf paradoxale und undefinierte Weise das Vertrauen aufrecht erhielt (gewissermaßen ein „falsches Vertrauen“).
Allerdings verschweigt man, wenn man den Crash als unvermeidlich beschreibt, das Wesentliche: Dass nämlich die Krise nicht in erster Linie eine Finanzkrise ist, dass es keine finanztechnischen Zusammenbrüche mit schmerzhaften Folgen für die Realwirtschaft gegeben hat, wie man es immer wieder hört, sondern das Platzen einer Finanzblase, die sich nur deshalb gebildet hatte und solche Ausmaße annehmen konnte, weil sie über die tatsächlichen Ausmaße der Widersprüche innerhalb der Realwirtschaft hinwegtäuschen sollte. An erster Stelle sei die Tendenz zur weltweiten Überproduktion in Zeiten genannt, in denen das Kapital diejenigen schlecht bezahlt, die mehr konsumieren könnten, und gleichzeitig auf Schwierigkeiten trifft, weitere falsche Bedürfnisse bei jenen zu wecken, die über eine Kaufkraft oberhalb des im industrialisierten Leben Notwendigen verfügen.
Die endlose Krise
Es herrscht also sehr wohl eine Wirtschaftskrise: die der kapitalistischen Akkumulation. Diesmal ist es keine Erfindung und kein Komplott der Eliten. Das die Welt beherrschende Produktions- und Tauschsystem stößt tatsächlich auf relativ ernste Schwierigkeiten. (Natürlich auf Systemebene, wodurch den Vorstandsvorsitzenden großer Unternehmen oder Banken die immerwährende Möglichkeit nicht genommen wird, doch noch riesige Dividenden zu kassieren.) Es handelt sich dabei nicht um vorübergehende Schwierigkeiten – vielmehr reifen sie seit Mitte der 1970er Jahre heran, ohne jedoch unüberwindbar zu sein, zum Missfallen derer, die zum x-ten Mal mit Pauken und Trompeten den Untergang des Systems ankündigen. Dass in einem geizigen Kapitalismus (der seine Sklaven schlecht bezahlt) die Gefahr der Überproduktion und die Schwierigkeit, neue und dauerhaft kaufkräftige Märkte zu erfinden, ans Tageslicht kommen, tut gewissermaßen jenen einen Gefallen, die dieses System festigen wollen. Denn so sind sie gezwungen, die Maßnahmen zur Regulierung und Zähmung zu vervielfachen, um die Maschine für ein paar Umdrehungen mehr in Gang zu halten: häusliche Dienstleistungen, Selbst-Unternehmertum, Stellen und Projekte im „Öko-Sektor“ usw.
Aber die Krise kann vor allem deswegen relativiert werden, und ihre Verwalter brauchen sich keine Sorgen zu machen, weil die Weltbevölkerung, vor allem im Norden, materiell und psychologisch vollkommen von der Industrie abhängt, und weil zur Stunde kein konsequenter politischer Widerstand gegen diese Abhängigkeit existiert. Ein Zusammenbruch des Kapitalismus ist undenkbar ohne einen organisierten Aufstand gegen die sozialen Beziehungen, auf die er gründet, und die sind heute mindestens ebenso von Nahrungsabhängigkeiten geprägt und von Herrschaftsbeziehungen wie sie traditionellerweise beschrieben werden.
Letztendlich verschlimmert oder mäßigt die Wirtschaftskrise selbst keinesfalls die Krise der Zivilisation, die schon begonnen hatte, als der Kapitalismus noch großzügig war (als er noch gut bezahlte). Die Zivilisationskrise sorgt eher dafür, dass die Krise des Kapitals einen bestimmten Punkt nicht überschreitet. Denn zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wie auch schon während des gesamten 20. Jahrhundert, folgen der Enteignungsprozess der Menschheit und der Krieg der großen Industrie gegen die Autonomie von Individuen und Gemeinschaften, ihrem Lauf. Um uns zu ernähren, uns einzurichten, uns zu amüsieren, uns zu pflegen, und last but not least um ununterbrochen mit unseresgleichen über die sakro-sankten, vergifteten Medien Internet und Mobiltelefon zu „kommunizieren“, sind wir alle immer abhängiger von einer Unzahl an unerreichbaren und unkontrollierbaren Handlungsinstanzen (undurchsichtige Bürokratien, Atomkraftwerke, lächerliche Superstars). Die multinationalen Konzerne, über die alle meckern, haben unser Leben fest im Griff; und bis jetzt verstärkt der ökologische Aspekt der Zivilisationskrise diesen Einfluss noch weiter. Die Umweltkatastrophe wird zum praktischen Vorwand, einen weiteren Schritt in der mentalen und materiellen Betreuung der Bürger durch große Organisationen und ihre Propaganda zu machen.
Was sich tatsächlich seit Partants Ausruf „Auf dass die Krise sich zuspitze!“ geändert hat, ist, dass es keine Gründe mehr gibt, darauf zu hoffen, dass die Verschlechterung ihrer Lage den modernen Bürgern eine außergewöhnliche Reaktion entlockt. Es ist sinnlos, auf eine Zuspitzung der Wirtschaftskrise (oder auch der Umweltkrise) zu setzen und auf eine nennenswerte politische Reaktion zu hoffen, davon zeugen die letzten dreißig Jahre tagtäglich auf niederschmetternde Weise. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Wirtschaftskrise tendiert dazu, die Krise des politischen Bewusstseins noch zu verschärfen. Sie bietet allen die perfekte Gelegenheit, über die eigene Rolle in der Gesellschaft hinwegzusehen und sich bequem hinter dem karikaturenhaften Bösen und der Verantwortungslosigkeit zu verstecken. Und das, wo doch die Verantwortungslosigkeit die meistverbreitete Eigenschaft auf der Welt ist.