GESTERN - HEUTE - MORGEN: 1968 und der Zugang zu neuen Welten 2. Teil

von John Holloway *, 17.03.2009, Veröffentlicht in Archipel 168

Im Kapitalismus existiert nützliche Arbeit (Tätigkeit) in Form von abstrakter Arbeit, aber das Verhältnis zwischen Form und Inhalt kann hier nicht so klar eingegrenzt werden. Doch das tiefste Innere ist zu erkennen, allerdings im Gegensatz zur äußeren Erscheinung: «Tätigkeit» bleibt nach wie vor im tiefsten Inneren bestehen und steht im Gegensatz zur äußeren Erscheinung als abstrakte Arbeit.

Dies ist eine tagtägliche Erfahrung, weil wir immer wieder anstreben, unserer täglichen Beschäftigung einen irgendwie gearteten Sinn zu geben. Auch während des Verrichtens von abstrakter Arbeit versuchen wir, uns nicht ausschließlich den Regeln des Geldes unterzuordnen. Als Lehrer geht es uns um mehr, als nur brave Mitglieder der Kapitalgesellschaft heranzuziehen, als Fließbandarbeiter lassen wir in freien Sekunden die Finger auf unserer Luftgitarre hin und her gleiten, als Krankenpflegerinnen geht es uns darum, den Patienten über den Anreiz des Geldverdienens hinausgehend zu helfen, als Studenten träumen wir von einem Leben, das nicht gänzlich vom Geld bestimmt wird. Es gibt eine antagonistische Beziehung zwischen unserer Tätigkeit und der Abstraktion oder der Entfremdung, die das Kapital befiehlt, sie besteht nicht nur aus Unterwerfung, sondern auch aus Widerstand, Revolte und einem Streben nach Überwindung dieser Gegebenheiten.

Das gab es schon immer, aber es explodiert 1968, als eine Generation herangewachsen war, die nicht mehr durch die Erfahrung von Faschismus und Krieg eingeschüchtert worden war, und sich erhoben hat mit der Parole: «Wir wollen unser Leben nicht mehr unter die Herrschaft des Geldes stellen, wir wollen nicht mehr alle unsere Tage der abstrakten Arbeit widmen, wir wollen statt dessen etwas anderes tun.» Die Revolte gegen das Kapital manifestiert sich ganz klar als das, was sie schon immer war und immer sein soll: eine Revolte gegen die Arbeit. Dabei wird klar, dass wir nicht von einem Klassenkampf im Sinne von Arbeit gegen Kapital sprechen können, denn Arbeit ist auf derselben Seite wie das Kapital, sie schafft Kapital. Es ist kein Kampf der Arbeit gegen das Kapital, sondern der Lebenstätigkeit gegen die Arbeit und somit gegen das Kapital. Das kam 1968 zum Ausdruck in den Universitäten, den Fabriken, auf den Straßen. Es verunmöglichte dem Kapital, die Ausbeutungsrate in genügendem Maße zu erhöhen, um auch die Profitrate beizubehalten und somit den Fordismus aufrecht zu erhalten.

Es ist die Kraft des Tätigwerdens, also zu sagen «Nein wir wollen nicht so leben, wir wollen es anders machen», welche das im Fordismus beschriebene, auf der extremen Abstrahierung der Arbeit basierende Kampfmuster auseinandersprengt. Es ist eine Revolte, die sich gegen alle Aspekte der abstrakten Arbeit wendet: nicht nur gegen die Entfremdung der Arbeit im engeren Sinne, sondern auch gegen die Vergegenständlichung (Fetischisierung) von Sex, Natur, Zeit, Raum, sowie gegen die staatlichen Formen der Organisation dieser Fetischisierung. Da gab es eine Befreiung, eine Emanzipation: Es wurde möglich, Dinge zu denken und zu tun, die vorher nicht möglich waren. Die Kraft dieser Explosion führte zu einer Aufspaltung des Begriffs «Arbeit» als solchen (wie von Marx entwickelt, jedoch von der Praxis der marxistischen Tradition eingegrenzt) und damit aller anderen Denkbegriffe.

Diese Explosion wirft uns in eine neue Welt. Sie wirft uns auf ein neues Schlachtfeld, das sich dadurch charakterisiert, dass die Schlachtordnung offen ist. Das ist der entscheidende Punkt: Wenn wir vorpreschen und von neuen Formen der Herrschaft (Weltreich oder Post-Fordismus) sprechen, so verbauen wir uns die neuen Dimensionen, für deren Offenhaltung wir kämpfen. Mit anderen Worten, es besteht eine echte Gefahr, dass wir mit der Analyse des so genannten neuen Herrschaftsparadigmas diesem zu einer Stabilität verhelfen, welches es nicht verdient und die wir sicher auch nicht wollen. Das eng geknüpfte Netz, das vor der Explosion bestand, ist zerrissen. Es liegt im Interesse des Kapitals, es nach einem neuen Muster wieder zusammenzufügen. Antikapitalismus geht in die andere Richtung: zu zerreißen und die Risse soweit wie möglich aufzustemmen.

Tätigkeit versus (abstrakte) Arbeit Die alte Konstellation bestand aus dem Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital mit allem, was dazugehört wie Gewerkschaften, Zünfte, Parteien, Wohlfahrtsstaat und so weiter. Wenn wir mit Recht sagen, dass die neue Konstellation den Gegensatz zwischen Tätigkeit und abstrakter Arbeit zum Mittelpunkt hat, heißt das, radikal zu überdenken, was Antikapitalismus, was Revolution bedeutet. Alle gewohnten Praktiken und Ideen die mit abstrakter Arbeit verbunden sind, müssen hinterfragt werden: Arbeit, Sexualität, Natur, Staat, Zeit, Raum, all diese Dinge werden zu Orten der Auseinandersetzung.

Die neue Konstellation (oder besser die Konstellation, die ihr Gesicht 1968 erstmals zeigte und immer noch damit kämpft, geboren zu werden) ist die Konstellation von Tätigkeit versus abstrakte Arbeit. Das heißt, dass erstere im Grunde etwas Negatives ist. Tätigkeit gibt es innerhalb und in Opposition zu abstrakter Arbeit. Innerhalb insofern, als dass sie aus der abstrakten Arbeit ausbricht und darüber hinaus existiert (als Kooperative, soziales Zentrum, als Junta de Buon Gobierno). (1) Sie ist immer gefährdet, immer geformt durch ihren Antagonismus zur abstrakten Arbeit und durch sie bedroht. Sobald wir sie ins Positive wenden, sie als selbstständigen Bereich, als Sozialismus in einem bestimmten Land oder in einem bestimmten Gemeinschaftszentrum ansehen; wenn wir sie als eine Kooperative sehen, die sich nicht einfach nur gegen den Kapitalismus wendet, kann sie sich in ihr Gegenteil verwandeln. Die Anstrengungen gegen den Kapitalismus sind schnelllebig und unstabil: Sie erreichen ihren Höhepunkt nur kurz vor ihrem Dahinschwinden und können nicht nach den positiven Aspekten von Institutionen beurteilt werden.

Die Bewegung der Tätigkeit gegen Arbeit ist anti-identitär und deshalb eine Bewegung des nicht Identitären gegen das einer bestimmten Identität Zugeordnete. Das ist aus praktischen Gründen wichtig, weil das Kapital einfach immer wieder versucht, die neuen Auseinandersetzungen innerhalb gewisser Identitäten zu strukturieren. Der Kampf der Frauen, der Schwarzen, der Indigenen stellt kein Problem dar, ein System von abstrakter Arbeit wiederherzustellen, solange dieser inhaltlich innerhalb der respektiven Identitäten stattfindet. Im Gegenteil, die Konsolidierung der abstrakten Arbeit hängt wahrscheinlich sogar davon ab, dass Identitäten neu gemischt wieder zu Identitäten gemacht werden, und der Kampf so wieder zu einem identitätsabhängigen Kampf reduziert wird. Die zapatistische Bewegung stellt für den Kapitalismus keine Herausforderung dar, solange es eine Bewegung für die Rechte der indigenen Bevölkerung bleibt. Erst wenn sie über das hinauswächst, wenn die Zapatisten sagen: «Wir sind indigen aber, auch mehr als das», wenn sie sagen, dass sie die Welt erneuern wollen, eine Welt schaffen, die auf dem gegenseitigen Respekt der Würde beruht, dann stellen sie eine Bedrohung für den Kapitalismus dar. Der Kampf der Tätigkeit ist der Kampf, die fetischisierten (zementierten) Kategorien von Identität zu überwinden. Wir kämpfen nicht so sehr für die Rechte der Frauen, als für eine Welt, in der die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter (und damit die Genitalisierung der Sexualität) als überwunden gilt, nicht so sehr für Naturschutz, als viel mehr für ein radikales Umdenken in der Beziehung zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen von Leben, nicht so sehr für Rechte von Migranten als für die Aufhebung der Grenzen.

Hier und jetzt! In all diesen Umwälzungen ist die Zeit ein entscheidender Faktor. Gleichförmige Zeit war vielleicht überhaupt der beste Zement für die alten Zustände, dem Zustand der abstrakten Arbeit, von der Linken wie von der Rechten genau so unhinterfragt akzeptiert. Aus dieser Sicht konnte die Revolution, wenn es sie überhaupt geben sollte, nur in der Zukunft stattfinden. Das ist vorbei. Was vorher als fester Begriff «zukünftige Revolution» bestand, kann heute als purer Unsinn angesehen werden. Es ist zu spät für die «zukünftige Revolution». Sowieso, mit jedem Tag an dem wir die «zukünftige Revolution» planen, stellen wir den Kapitalismus den wir hassen, wieder her, und die Absicht für eine solche erledigt sich von selber. Revolution ist hier und jetzt oder gar nicht. Das war 1968 uneingeschränkt der Fall: Die Bewegung wartete nicht, bis eine Partei beschlossen hatte, jetzt sei der richtige Moment. Dies ist auch ersichtlich in der Parole der Zapatisten Ya basta vom Januar 1994: Genug! Jetzt! Nicht: «Wir warten, bis der nächste Kondratieffsche Zyklus seinen Kreis vollendet hat.» Und nicht: «Wir warten, bis die Partei die Staatsmacht übernommen hat.» Revolution hier und jetzt!

Was das nun bedeuten soll? Es kann nur eine Vielfalt von einzelnen Kämpfen bedeuten, das Schaffen von Räumen und Momenten, in welchen wir hier und jetzt danach streben, die Gesellschaftsform zu leben, die wir kreieren wollen. Das bedeutet, Risse im System der kapitalistischen Vorherrschaft herbeizuführen, Momente und Räume, wo wir sagen: «Nein, wir werden nicht tun, was das Kapital von uns verlangt, wir werden tun, was wir für wichtig und wünschenswert halten.»

Es ist unvermeidbar, diesen antikapitalistischen Kampf als eine Vielfalt von sehr unterschiedlichen Kampfformen zu verstehen. Es ist keine Vervielfachung von Identitäten, sondern die schnelle Bewegung anti-identitären Kampfes, der manchmal passt, manchmal abweicht, ansteckt und abstößt, ein kreatives Chaos von Rissen, die sich vervielfachen und verbreiten und manchmal auch wieder zugedeckt werden, um danach wieder aufzutauchen und sich abermals zu verbreiten. Es ist die vielstimmige Revolte der Tätigkeit gegen abstrakte Arbeit. Es muss unbedingt vielstimmig sein. Seine Vielstimmigkeit nicht anzuerkennen, würde bedeuten, sich einer neuen Form der Abstraktion zu unterwerfen. Die Welt, die wir versuchen zu schaffen, die Welt der nützlichen Tätigkeit oder bewussten Lebenstätigkeit, ist notwendigerweise eine vielgestaltige Welt. Das bedeutet natürlich auch Organisationsformen, die diese Vielstimmigkeit ausdrücken und daran angepasst sind, mit anderen Worten: anti-staatliche Formen.

Von außen gesehen – und manchmal auch von innen – scheint diese Vielstimmigkeit lediglich ein chaotischer Lärm zu sein, ohne Richtung oder Einheitlichkeit, ohne roten Faden. Das ist falsch. Der rote Faden ist nicht mehr derselbe wie vor 1968, aber da ist einer, mit zwei Strängen. Der erste ist ein simples NEIN, Ya basta! Der zweite ist die Würde, wir leben jetzt das Leben, das wir leben wollen, mit anderen Worten: Wir tun es.

Vielleicht können wir daraus den Schluss ziehen, dass die Krise der Arbeiterklasse 1968 Prosa, ihre Geburt jedoch Poesie ist: die Krise der Arbeiterklasse als abstrakte Arbeit, deren Geburt jedoch nützlich-schöpferische Tätigkeit. Die dazwischen liegenden Jahre haben uns gezeigt, wie schwierig, jedoch wie wichtig es ist, Poesie zu verfassen.

1968…

…steht nicht nur für Paris und den französischen Mai. 1968 steht für eine ganze Reihe von Aufständen, Revolten und Revolutionen rund um die Welt in einem explosiven Zeitraum von etwa drei Jahren, ohne klaren Anfang und ohne klares Ende. In den Vereinigten Staaten machte der «Summer of Love» von 1967 den Weg frei für militante Proteste gegen den Vietnamkrieg, es gab Aufstände in mehr als hundert Städten und einen Riesenaufruhr anlässlich des demokratischen Parteitags in Chicago. In Mexiko City wurden monatelange politische Unruhen erst durch das Massaker von Tlatelolcho beendet, als nur wenige Tage vor Eröffnung der Olympischen Spiele 200 bis 300 Menschen umgebracht wurden. Während der Spiele grüßten die Athleten Tommie Smith und John Carlos vom Siegerpodest mit der erhobenen Faust der Black Power-Bewegung.

In der Tschechoslowakei ging der Prager Frühling erst zu Ende, als die russischen Panzer das Land überrollten. Nationalistische Einwohner der zweitgrößten Stadt Nordirlands warfen sowohl die Polizei als auch loyalistische Schläger hinaus und riefen die autonome Zone Freies Derry aus. Es gab Aufstände, Streiks, Besetzungen und alle Arten von politischer Aktivität in unzähligen anderen Ländern wie Deutschland, Pakistan, Bolivien, Spanien, Japan, Polen, Belgien, Schweden, Großbritannien, Brasilien, Nigeria, Senegal, Serbien, Österreich, Türkei, Hong-Kong, Ägypten und Libanon. Italiens heißer Herbst von 1969 eröffnete ein Jahrzehnt der Autonomen Bewegung..

* John Holloway (geb. 1947 in Dublin) ist Politikwissenschaftler. Er lehrt seit 1993 an der Benemérita Universidad Autonoma de Puebla (BUAP) in Puebla/Mexiko.

  1. Juntas de Buon Gobierno – Juntas der guten Verwaltung – sind von den Zapatisten in deren autonomen Gebieten eingesetzte Räte.