In der kapitalistischen Gesellschaft ist Arbeit ein wichtiges, wenn nicht das einzige Mittel, um teilzuhaben. Die Auffassung, wer nicht arbeitet, sei ein Nichtsnutz, existiert aber noch nicht lange und genau betrachtet, scheint sie reichlich verrückt.
«Mit den modernen Produktionsmethoden ist die Möglichkeit gegeben, daß alle Menschen behaglich und sicher leben können; wir haben es stattdessen vorgezogen, daß sich manche überanstrengen und die andern verhungern. Bisher sind wir noch immer so energiegeladen arbeitsam wie zur Zeit, da es noch keine Maschinen gab; das war sehr töricht von uns, aber sollten wir nicht auch irgendwann einmal gescheit werden?»
Bertrand Russell,
Lob des Müßiggangs, 1932
Offenbar sind wir achtzig Jahre und eine Weltwirtschaftskrise später kein bisschen klüger geworden, im Gegenteil: Die Arbeitsproduktivität in Industrie und Landwirtschaft dürfte sich seither ungefähr verzehnfacht haben, und doch kann keine Rede davon sein, dass sie zum Zwecke eines behaglichen und sicheren Lebens aller Menschen eingesetzt würde. In Europa, dem es ja immer noch vergleichs-weise gut geht, ist die Arbeitslosigkeit auf Rekordhöhe angestiegen und steigt weiter, während die verbliebenen Inseln der globalen Wettbewerbsfähigkeit schon seit Jahren mit neuen, durch Arbeitsverdichtung verursachten Volkskrankheiten kämpfen: Vom Burn-out-Syndrom über den gewohnheitsmäßigen Psychopharmaka-Konsum bis hin zum plötzlichen Tod durch Überarbeitung.
Nun handelt es sich allerdings bei der von Russell konstatierten übertriebenen Arbeitsamkeit keineswegs bloß um eine einfach abzulegende, da obsolet gewordene Gewohnheit aus Zeiten, in denen es noch keine Maschinen gab. Tatsächlich wurde im Mittelalter, das die Arbeit als Selbstzweck nicht kannte, weniger gearbeitet als heute. Der Grund dafür ist simpel: Arbeit nach heutigem Verständnis, also die abstrakte, von ihrem Inhalt unabhängige Verausgabung von Arbeitskraft, ist historisch spezifisch. Es gibt sie nur im Kapitalismus. Die hier ja allgemein verbreitete Vorstellung, dass «jede Arbeit besser als keine» sei, wäre in jeder anderen Gesellschaftsformation zu Recht als völlig verrückt angesehen worden.
Diese Verrücktheit beherrscht als abstraktes Prinzip die gesellschaftlichen Beziehungen im Kapitalismus. Von kriminellen Aktivitäten einmal abgesehen, ist Arbeit – als eigene oder als Aneignung fremder Arbeit – das einzige Mittel, an der Gesellschaft teilzuhaben. Auf den Inhalt der jeweiligen Tätigkeit kommt es dabei nicht an; ob ich Kartoffeln anbaue oder Streubomben produziere, spielt keine Rolle, solange mein Produkt einen Käufer findet und so dafür sorgt, dass aus Geld mehr Geld wird. Arbeit als Basis der Wertverwertung ist Selbstzweck und gesellschaftliches Zwangsprinzip, dessen einziger Sinn darin besteht, immer mehr «tote Arbeit» als Kapital anzuhäufen.
Seine Ketten lieben
Ein Zwang, dem alle gleicher-maßen unterworfen sind, lässt sich nur dann dauerhaft aufrechterhalten, wenn die an ihn Gefesselten gelernt haben, ihre Ketten zu lieben. Auch darin unterscheidet sich die bürgerliche Gesellschaft von ihren Vorgänger_innen. Von Aristoteles über Augustinus bis zu Thomas von Aquin, haben antike und mittelalterliche Philosophen die Muße und nicht etwa die Arbeit als Weg zum guten Leben propagiert:
«Es gilt als ausgemacht, dass die Glückseligkeit sich in der Muße findet.» (Aristoteles, 384 - 322 v. Chr.)1
«Arbeit und Tugend schließen einander aus.» (Ders.)
«Bei der Muße soll nicht etwa träges Nichtstun locken, sondern das Erforschen und Auffinden der Wahrheit.» (Augustinus, 354 – 430)
«Es ist also zu sagen, dass das beschauliche Leben schlechthin besser ist als das tätige Leben.» (Thomas von Aquin, 1225 - 1274)
Es gab auch andere Stimmen, so etwa die von Begründern bestimmter Mönchsorden, die die Arbeit als Mittel zu Askese und Selbstkasteiung anpriesen. In großem Stil und auf die gesamte Bevölkerung bezogen, hat das aber erst der Protestantismus getan:
«Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat». (Martin Luther, 1483 - 1546 )
Und der Aufklärung blieb es vorbehalten, das Arbeitsethos, also die moralische Verpflichtung zur Arbeit, zum Selbstzweck zu erheben:
«Es ist von der größten Wichtigkeit, daß Kinder arbeiten lernen. Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muß.» (Kant: Über Pädagogik, 1803)
«Die größte moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu tun. Und zwar aus Pflicht.» (Ders.: Metaphysik der Sitten, 1797)
«Es gibt nur eine Ausflucht vor der Arbeit: Andere für sich arbeiten zu lassen.» (Ders.: Kritik der Urteilskraft, 1790)
«Unter den drei Lastern: Faulheit, Feigheit und Falschheit scheint das erste das Verächtlichste zu sein.» (Ders.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798)
«Man erkundige sich nur näher nach den Personen, die durch ehrloses Betragen sich auszeichnen! Immer wird man finden, dass sie nicht arbeiten gelernt haben oder die Arbeit scheuen.» (Fichte, Reden an die deutsche Nation, 1807)
Wie sich schon in den letzten Zitaten andeutet, ist die Liebe zur Arbeit mit dem Hass auf die Müßiggänger eng verbunden:
«Jeder muss von seiner Arbeit leben können, heißt der aufgestellte Grundsatz. Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt, und es gibt kein solches Recht, wo die Bedingung nicht erfüllt worden». (Fichte, Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 1796)
«In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperierten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.» (Kant: Physische Geographie, 1802)
«Der Barbar ist faul, und unterscheidet sich vom Gebildeten dadurch, daß er in der Stumpfheit vor sich hin brütet, denn die praktische Bildung besteht eben in der Gewohnheit und in dem Bedürfen der Beschäftigung.» (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820)
Die ausgrenzenden und rassistischen Auslassungen der Aufklärungsphilosophen sind keine bloßen Betriebsunfälle, sondern gehören zum innersten Gehalt ihrer Arbeitsideologie. Weil das Aufklärungsdenken die Arbeit zum eigentlichen Daseinszweck «des Menschen» verklärt, muss es im Umkehrschluss alle Nichtarbeitenden aus der «menschlichen Rasse» ausschließen: Der Mensch muss arbeiten; wer nicht arbeitet, kann folglich kein vollwertiger Mensch sein.
Es ist die Wut des weißen Arbeitsmannes über den selbst auferlegten Zwang, die sich hier ausagiert. Sie richtet sich gegen alles, was diesem Zwang nicht zu unterliegen und ein Leben ohne Arbeit zu führen scheint: Gegen die Frauen, die in dem von der Arbeit abgespaltenen Privatbereich der bürgerlichen Familie für das «eigentliche Leben» zuständig sind; gegen jede Art Volk (die Zuschreibungen sind hier vielfältig), dem sich ein Leben in Saus und Braus ohne Arbeit andichten lässt; und gegen das «raffende Kapital», das sich den von anderen geschaffenen Mehrwert ohne eigene Arbeit aneigne. Die modernen Ideologien des Sexismus, Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus sind auch im Arbeitsethos fundiert.
Arbeit wird knapp
Seit den 1970er Jahren haben die mikroelektronischen Rationalisierungspotentiale in immer stärkerem Maße die Arbeit aus dem Produktionsprozess verschwinden lassen und den Kapitalismus damit in die Krise geführt. Gleichwohl hat sich der innere und äußere Zwang zur Arbeit nicht verringert, sondern durch die zunehmende Verknappung der «Arbeitsplätze» sogar verschärft. Die Bedingungen für die Herausgefallenen sind härter geworden: Es sind inzwischen zu viele, als dass sich ihre menschenwürdige Versorgung mit der Aufrechterhaltung der globalen Wettbewerbsfähigkeit noch dauerhaft vereinbaren ließe. Der «Sachzwang, Menschen in Arbeit zu bringen» (Angela Merkel), vernebelt schon die Problemwahrnehmung: Nicht das allmähliche Verschwinden der Arbeit sei schuld an der Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen seien es, die daher mit allen zur Verfügung stehenden Zwangsmitteln in gar nicht mehr existente Arbeit gebracht werden müssen. Ähnliches vollzieht sich auf europäischer Ebene: Den ins Hintertreffen geratenen «Pleitestaaten» werden Austeritätsprogramme aufgezwungen, auf dass sie, ist das Tal der Tränen erst durchschritten, wieder wettbewerbsfähig werden. Das ist so aussichtsreich, wie es ein Versuch des Deutschen Fußballbunds wäre, durch geeignete Trainingsprogramme alle achtzehn Bundesligavereine auf die vier vorhandenen Champions-League-Plätze zu hieven.
Offenbar kann die Lösung nur in der Abschaffung der Arbeit liegen, was freilich die Abschaffung des Kapitalismus bedeutet. Dagegen steht auch das über mehrere Jahrhunderte andressierte Arbeitsethos:
«Man wird behaupten, daß wohl ein wenig Muße angenehm sei, daß die Leute aber nicht wüßten, womit ihre Tage ausfüllen, wenn sie nur vier von vierundzwanzig Stunden arbeiten würden. Soweit das in der modernen Welt zutrifft, ist damit unserer Zivilisation das Urteil gesprochen; für jedwede frühere Epoche hätte es nicht gegolten.» (Bertrand Russell: Lob des Müßiggangs, 1932)
Was Hegel «dem Barbaren» zuschrieb, fällt auf uns selbst zurück: Dass nämlich, wer beschäftigungslos ist, nur noch «in der Stumpfheit vor sich hin brütet». Anders gesagt: Das bürgerliche Subjekt mag sich ein Leben ohne Arbeit auch deswegen nicht vorstellen, weil hinter seinem Arbeitsethos das Grauen vor der eigenen Leere lauert.
* Ortlieb ist Mathematiker und Mitglied der deutschen Zeitschrift Exit!Krise und Kritik an der Warengesellschaft. Die Langfassung dieses Textes ist unter dem Titel Zwang und Ethos in der Zeitung konkret 5/2012 erschienen.
- Diese und fast alle weiteren Zitate finden sich auf der lesenswerten Internetseite www.otium-bremen.de.