Seit November 2018 gehen in Frankreich jeden Samstag zehntausende Menschen in gelben Warnwesten auf die Strasse, um für eine gerechtere Verteilung des Reichtums, soziale Einrichtungen, direktere Demokratie und eine menschenwürdigere Gesellschaft zu demonstrieren.
Die Forderungen der Gilets Jaunes (Gelbwesten) sind von Verkehrsinsel zu Verkehrsinsel, von Gemeinde zu Gemeinde verschieden. Ende Januar 2019 wurde von den «linkeren» gelben Westen ein gemeinsamer Appell an die Regierung formuliert. «Wir Gelbwesten der Verkehrskreisel, der Parkplätze, der öffentlichen Plätze, der Versammlungen, der Demonstrationen, wir haben uns am 26. und 27. Januar in einer Versammlung der Versammlungen getroffen.» So beginnt der Appell, den rund 300 Delegierte, von rund einhundert Abordnungen, in der kleineren ostfranzösischen Industriestadt Commercy, in der Nähe von Nancy, verabschiedeten. Seit Wochen zirkulierte der Aufruf der örtlichen Protestbewegung von Commercy, zu diesem Delegiertentreffen zusammenzukommen.
Letztendlich fand dieser Appell in einer Reihe von Städten ein Echo, darunter auch in der Hauptstadt und in manchen Pariser Trabantenstädten, wo die Gelbwesten-Bewegung jedoch schwächer verankert ist als in kleineren und mittleren Gemeinden. Der Ansatz der Teilnehmer·innen an der Zusammenkunft in Commercy, den man als den linkesten Pol der aktuellen Protestbewegung (oder jedenfalls als einen Teil davon) betrachten kann, beruht in hohem Mass auf der Schaffung basisdemokratischer Organisations-, Diskussions- und Koordinationsstrukturen. Ferner rückt er stark die soziale Frage in den Fokus und nicht den Willen zur Reduktion von Steuern, der auch von reaktionären Kräften aufgegriffen und politisiert wird. Der Appell fordert eine Umverteilung der Reichtümer, die Anhebung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen, aber auch etwa die Rücknahme des geplanten Gesetzes zur Kriminalisierung unangemeldeter Demonstrationen.
Repression um jeden Preis
Die gewalttätige Repression durch Polizeieinsatzkräfte wird in scharfen Worten kritisiert. Laut offiziellen Angaben des Innenministers Christophe Castaner wurden seit dem Beginn der Proteste am 17. November 2018 und bis zum elften Aktionstag am 26. Januar 2019 insgesamt 9‘228 mal Hartgummigeschosse eingesetzt, die mit dem Apparat LBD 40 (für «Werfer von 40-Millimeter-Defensivmunition») abgeschossen werden. Bis Anfang Februar des Jahres verloren zwanzig Menschen dabei ein Auge. Fünf Personen wurde eine Hand abgerissen, zuletzt am 11. Februar bei dem Demonstranten Sébastien Maillet, in diesem Falle durch eine Polizeigranate vom Typ GLI F4. Diese enthält 25 Gramm TNT-Sprengstoff und ist ferner mit Tränengas gefüllt; kein vergleichbarer EU-Staat weist eine ähnliche Waffe im Arsenal seiner Polizeikräfte auf. Der Einsatz des Granatentyps GLI F4 wurde theoretisch durch das Innenministerium verboten, nachdem in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober 2014 der junge Umweltaktivist Rémi Fraisse durch eine solche Granate getötet wurde. In der Praxis allerdings dürfen die Sicherheitskräfte ihn nach wie vor einsetzen, bis ihre Vorräte aufgebraucht sind, voraussichtlich bis 2021. Gelb verkleidete Neofaschisten
In dem gemeinsam formulierten Appell heisst es weiter: «Wir sind weder rassistisch noch sexistisch noch homophob», und soziale Rechte müssten «unabhängig von der Nationalität» gewährleistet werden. Umwelt- und klimapolitische Massnahmen werden ebenfalls befürwortet, sofern die Belastungen «gerecht» ausfielen und nicht, wie in der Regierungspolitik unter Emmanuel Macron, die Armen bestraften. Nicht alle, die im Zusammenhang mit der Protestwelle seit November 2018 aktiv wurden, sind in vergleichbarer Weise progressiv. Höchst unterschiedliche Kräfte versuchen an die aktuelle Protestbewegung anzudocken, auch vom absolut entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums. Wie zum Beweis dafür fand am Samstag, den 26. Januar, in der Nähe des Bastille-Platzes und des «Lyoner Bahnhofs» in Paris eine Attacke von faschistischen Elementen in gelben Westen gegen den Demonstrationsblock der undogmatisch-trotzkistischen Partei NPA (Neue Antikapitalistische Partei) statt, der ebenfalls im Zuge der Gelbwesten-Kundgebungen unterwegs war. In Wirklichkeit handelte es sich eher um zwei Angriffe der Neofaschisten: zunächst mit Fäusten auf der Höhe des Fronttransparents, wenig später mit Steinwürfen auf den gesamten Demoblock, der dabei auseinander gesprengt wurde. An diesem Angriff waren rund fünfzig Personen aus dem Kern sowie dem Umfeld der Gruppe Les Zouaves beteiligt. (…) Es handelt sich um eine informelle Gruppe, der sowohl ehemalige Mitglieder der für ihre Gewalttätigkeit bekannten studentisch-neofaschistischen Gruppe GUD (Groupe Union Défense) angehören als auch Vertreter der «identitären Bewegung» sowie Fussball-Hooligans.
Inzwischen gibt es mehrere Solidaritätsbekundungen mit den Angegriffenen, auch aus Gewerkschaften, vor allem von der Union Syndicale Solidaires, einem Zusammenschluss linksalternativer Basisgewerkschaften. Und es zirkulieren Aufrufe für fraktionsübergreifende «antifaschistische Wachsamkeit» bei den nächsten Protestterminen. (...)
Bernard Schmid, Paris, Ende Januar 2019