«Gaza ist nicht Auschwitz, und dennoch handelt es sich um einen Völkermord», sagen zwei israelische Holocaust-Historiker. Das Verbrechen des Völkermords hat eine sehr starke symbolische Bedeutung im universellen Bewusstsein, aber es hat auch einen Status und eine genaue rechtliche Definition. Diese ermöglicht es, jenseits von Affekten und politischen Reden, die Tatsache eines Völkermordes zu beweisen oder nicht zu beweisen.
Nach der Befreiung von Auschwitz, deren 80. Jahrestag wir heute feiern, hat die internationale Gemeinschaft Rechtsregeln aufgestellt, um weitere Massengräueltaten zu verhindern und die Täter·innen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Begriff «Genozid», im Deutschen Völkermord, wurde von Raphael Lemkin, einem polnischen Juristen, 1943 erarbeitet, indem er das altgriechische Wort «γένος» (genos - Abstammung, Familie, Sippe, Gruppe, Rasse) und das Suffix «-cide», vom lateinischen Wort caedere, (töten), miteinander verband. Lemkin hat «Völkermord» juristisch definiert. Diese Definition beruht (wir werden darauf zurückkommen) auf dem Verbot von fünf Handlungen, wobei jede dieser Handlungen in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Menschengruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Nachdem das neu geschaffene Wort in den Nürnberger Prozessen (1945–1946) benannt wurde, erlangte der Begriff mit der 1948 in Paris verabschiedeten Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords in der Rechtsprechung Bedeutung. Diese Definition wurde später in die Statuten von Rom aufgenommen, in denen die Sonderrechte des Internationalen Strafgerichtshofs festgelegt wurden. Die Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948 war einer der ersten Texte, die Israel bei seiner Gründung verabschiedete. Die Konvention, in der eine der Klauseln eindeutig besagt, dass Völkermord nicht nur aus begangenen Verbrechen besteht, sondern auch aus der Anstiftung zu solchen Verbrechen.
Die ersten Warnrufe
Sehr oft bezieht sich Völkermord auf einen koordinierten Plan, der darauf abzielt, die wesentlichen Lebensgrundlagen einer nationalen Gruppe zu zerstören, sodass diese Gruppe verkümmert und abstirbt wie Pflanzen, die unter einer Plage gelitten haben. Dieses Ziel kann durch die gewaltsame Zersetzung der politischen und sozialen Institutionen, der Kultur des Volkes, seiner Sprache, seiner nationalen Gefühle und seiner Religion erreicht werden. Es kann umgesetzt werden, indem jede Grundlage für persönliche Sicherheit, Freiheit, Gesundheit und Würde beseitigt wird. Völkermord richtet sich gegen eine Gruppe als Ganzes und der Angriff auf Einzelpersonen ist im Vergleich zur Vernichtung der Gruppe, der sie angehören, nur zweitrangig.
Seit dem Beginn der israelischen Offensive in Gaza am Tag nach dem 7. Oktober warnten die meisten internationalen Institutionen regelmässig vor der Gefahr eines Völkermordes durch den hebräischen Staat. Im November 2023 alarmieren mehr als zwanzig UN-Berichterstatter·innen gemeinsam vor «einem laufenden Völkermord». Sie belegen ausdrücklich die zunehmende Anstiftung zum Völkermord und die offensichtliche Absicht, «das belagerte palästinensische Volk zu vernichten». Die Berichterstatter·innen sind besorgt über «die offensichtlich zum Völkermord anstiftende und entmenschlichende Rhetorik hochrangiger israelischer Regierungsbeamter». Sie zeigen sich «tief besorgt über die Unterstützung einiger Regierungen für Israels Kriegsstrategie gegen die belagerte Bevölkerung im Gazastreifen und über das Versagen des internationalen Systems, aktiv zu werden, um den Völkermord zu verhindern»[1] . Dies ist das erste Mal in diesem Konflikt, dass der Begriff offiziell verwendet wird. Im Januar 2024 erkannte der Internationale Gerichtshof das plausible Risiko eines Völkermords an und empfahl Maßnahmen, die jedoch alle nicht ergriffen wurden. Im August 2024 beschuldigte Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für die palästinensischen Gebiete, Israel, einen Völkermord zu begehen. Kurz darauf veröffentlichten zahlreiche humanitäre Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch und Ärzte ohne Grenzen fast gleichzeitig erschütternde und ausführliche Berichte unter verschiedenen Titeln: «Der palästinensische Völkermord durch Israel» (Amnesty)[2] oder «Gaza: Überleben in einer Todesfalle» (MSF)[3]. Amnesty zufolge ist der Völkermord für Israel zu einem Mittel geworden, um das wichtigste militärische Ziel zu erreichen, nämlich die Zerstörung der Hamas. In den Augen der israelischen Regierung erscheint Völkermord demnach als der Preis, der zu zahlen ist, um die Hamas zu besiegen, oder als «eine akzeptable Konsequenz». Die Entscheidung, die palästinensische Zivilbevölkerung zu opfern, «belegt einen beabsichtigten Völkermord».
Menachem Klein, emeritierter Professor an der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv, meint im November 2024, dass «die Informationen, die uns aus dem Gazastreifen erreichen, zeigen, dass Israel systematisch auf Methoden zurückgreift, die unter Völkermord fallen». Der israelische Wissenschaftler stellt klar: «Völkermord ist kein Plan, der darauf abzielt, jeden Palästinenser in Gaza zu vernichten. Völkermord besteht aus einer Skala extremer Gewalt, die einem Gebiet und seiner Bevölkerung zugefügt wird, sowie der systematischen Zerstörung aller seiner Institutionen, mit dem Ziel, die kollektive Identität einer Gruppe zu zerstören. Genau das tut Israel, indem es alle Krankenhäuser, Universitäten, Gerichte und Behörden zerstört. Israel zerstört die kollektive Identität der Menschen in Gaza. Das ist eindeutig Völkermord»[4].
Daniel Blatman und Amos Goldberg, zwei israelische Holocaust-Historiker, veröffentlichten im Januar 2025 in der Zeitung Haaretz einen Artikel mit dem Titel: «Gaza ist nicht Auschwitz, und dennoch handelt es sich um einen Völkermord»[5]. Raz Segal, ebenfalls israelischer Historiker und Leiter des Holocaust- und Shoah-Programms an der Stockton University (USA), spricht von einem «Lehrbeispiel des Völkermords»[6]. Wie man sieht, gibt es zahlreiche Warner·innen, die sich einig sind. Für sie ist der Völkermord erwiesen und unbestreitbar. Was braucht es noch, um zu bestätigen, dass der Tatbestand des Völkermordes erfüllt ist? Wie bereits erwähnt, wird Genozid in der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 definiert. Die Konvention definiert Völkermord als eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Diese Handlungen werden in fünf Punkten definiert, und es ist der Vorsatz dieser Handlungen, der Völkermord von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen unterscheidet: Tötung von Mitgliedern der Gruppe, schwere Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Unversehrtheit von Mitgliedern der Gruppe, vorsätzliche Unterwerfung der Gruppe unter Lebensbedingungen, die zu ihrer vollständigen oder partiellen physischen Zerstörung führen, Massnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe und gewaltsamer Transfer von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. Es handelt sich um einen Völkermord, wenn auch nur eine dieser Handlungen nachgewiesen werden kann und diese vorsätzlich begangen wurde. Im Fall der israelischen Offensive gegen die Palästinenser·innen sind die drei ersten Tatbestände erfüllt, von Israel vorsätzlich begangen und unbestreitbar nachgewiesen.
Ein Narrativ des Hasses
Internationale Institutionen haben seit Beginn der israelischen Offensive unzählige belastende Beweise für die Handlungen des hebräischen Staates gesammelt. Zum einen die Erfassung hunderter öffentlicher Erklärungen von Regierungsvertretern, hochrangigen Offizieren oder Knessetmitgliedern. Seit Jahrzehnten haben öffentliche Hassreden, entmenschlichende und rassistische Äusserungen die Möglichkeit und den Willen zur Massenvernichtung der Palästinenser·innen und ihrer Lebensgrundlagen in den Köpfen der Menschen verankert. Aufrufe zu systematischer Gewalt haben im Laufe der Zeit das Prinzip des Völkermords legitimiert. Am 9. Oktober 2023 erklärte der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant: «Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln dementsprechend». Am 11. November bezeichnete der israelische Landwirtschaftsminister Avi Dichter die Zwangsumsiedlung der Gaza-Bevölkerung als «Nakba von Gaza 2023», während der israelische Minister für Kulturerbe Amihai Eliyahu vom Abwurf einer Atombombe sprach und Präsident Isaac Herzog ganz Palästina die Schuld für den Angriff der Hamas vom 7. Oktober gab. General Ghassan Alian, der Koordinator der Regierungsaktivitäten in Gaza, sagte: «Es wird keine Elektrizität und kein Wasser [in Gaza] geben, es wird nur Zerstörung geben. Ihr wolltet die Hölle, ihr werdet die Hölle bekommen»[7]. Hinzu kommen unzählige Videos, die von Soldaten im Gaza-Einsatz gefilmt wurden, Bilder von Übergriffen, Massakern und Hassreden.
Ein verwüsteter Horizont
Zum anderen ist die Realität der Zerstörungen und Massaker im Gazastreifen, einem ummauerten Gebiet von 41 km Länge und 6 bis 12 km Breite, das etwa halb so gross ist wie der Grossraum Madrid und von 2 Millionen Menschen bewohnt wird, die keine Möglichkeit haben, ihm zu entfliehen. 25.000 Tonnen Bomben haben dieses Gebiet ausgelöscht – das entspricht der doppelten Sprengkraft der Atombombe von Hiroshima. Es handelt sich um die höchste Intensität von Bombardierungen, die in allen anderen Kriegen, einschliesslich des Zweiten Weltkrieges, beobachtet wurde. 70 Prozent der Opfer sind Kinder und Frauen. 80 Prozent der Überlebenden haben keinen Zugang zu sauberem Wasser und 90 Prozent der Krankenhäuser sind zerstört. Die Bombardierungen haben die Umwelt verschmutzt und den Gazastreifen unbewohnbar gemacht. Sie haben die Infrastruktur für die Wasserversorgung, die Abwasserentsorgung und die Nahrungsmittelversorgung zerstört. 90 Prozent der Bevölkerung sind oder waren zwangsumgesiedelt. 63 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen sind verwüstet. So hat Israel eine tödliche Mischung von Krisen verursacht, die künftigen Generationen schweren Schaden zufügen werden. Über die Gegenwart hinaus zeigt das absichtliche Töten von Kindern die Wahl, der Zukunft keinen Raum zu lassen. Das Töten und Verletzen von Kindern in Gaza durch die israelische Armee «sind die schlimmsten der festgestellten Konflikte» hat eine Untersuchungskommission der UNO am 13. März erklärt: «Die Kommission hat festgestellt, dass die israelischen Einheiten die Fähigkeit der Palästinenser·innen im Gazastreifen – als ethnische Gruppe – Kinder zur Welt zu bringen, teilweise zerstört haben: Sie haben systematisch die Versorgung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zerstört. Es handelt sich dabei um zwei kriminelle Tatbestände des Völkermordes.» Die Überlebenden sind zu einem langsamen Tod verurteilt, da es ihnen an medizinischer Versorgung und der Möglichkeit, sich angemessen zu ernähren, mangelt.
Die öffentlichen Erklärungen israelischer Regierungsvertreter wie die des damaligen Verteidigungsministers Yoav Gallant, der am 9. Oktober 2023 verlauten liess, dass eine «vollständige Belagerung» des Gazastreifens, wie er sie durchführen würde, bedeutete, dass es «keine Elektrizität, keine Nahrung, kein Wasser, keinen Treibstoff» mehr geben würde, eine Aussage, die von Israel Katz, dem damaligen Energieminister, am 12. Oktober 2023 bestätigt wurde, belegen einmal mehr die Absichtlichkeit. Die meisten historischen Stätten werden ausgelöscht, was die Absicht unterstreicht, die Vergangenheit zu zerstören. Zur Vernichtung von Menschen kommt die Zerstörung von landwirtschaftlichen Flächen, Vieh, Fischereigeräten, Telekommunikationsmitteln und Bildungseinrichtungen durch israelische Militäroperationen. Die Zerstörung des palästinensischen kulturellen und historischen Erbes, die die israelische Armee massiv und methodisch betreibt, ist Teil des Völkermords und relativ gut dokumentiert, obwohl dies aufgrund der anhaltenden Bombardierungen schwierig ist.
Wie können wir also einem Völkermord zusehen, ohne zu reagieren und akzeptieren, dass er ungestraft mit der Zustimmung der Demokratien und der aktiven Unterstützung einiger von ihnen begangen wird? Wie können wir trotz der offensichtlichen Tatsachen tolerieren, dass die Lehren aus den Völkermorden des 20. Jahrhunderts nicht gezogen werden? Wie ist es möglich, den Völkermord an den Palästinenser·innen zu relativieren, zu rechtfertigen oder zu leugnen, ohne sich damit in den abscheulichen Kreis der Holocaust-Leugner einzureihen, der die grausamsten Episoden unserer Zeitgeschichte negiert? Die Geschichte lehrt, dass ein dauerhafter Frieden nicht ohne Gerechtigkeit geschaffen werden kann. Heute schliessen sich Hunderte von Jurist·innen, Anwält·innen und Rechtsprofessor·innen aus der ganzen Welt den Expert·innen und Berichterstatter·innen der Vereinten Nationen an, um die Verbrechen im Gazastreifen juristisch als Völkermord zu qualifizieren. Die Anerkennung des Völkermordes in Gaza durch die internationale Gemeinschaft ist ein unumgänglicher Schritt für das palästinensische Volk. Der Staat Israel, der zum Völkermordstaat geworden ist, wird seine Erlösung – wer weiss, vielleicht eines Tages – darin sehen, um Vergebung für die begangenen Verbrechen zu bitten und diese auch zu erhalten. Dann wird die Vision eines «egalitären Binationalismus» eine Chance haben, geboren zu werden. Nur dann werden Juden, Jüdinnen und Palästinenser·innen zwischen «dem Fluss und dem Meer» auf der Grundlage gleicher Rechte und ohne Privilegien der Einen gegenüber den Anderen zusammenleben können,
Denis Brutsaert
www.unric.org/fr/palestine-eviter-un-genocide-a-gaza-et-une-nouvelle-nakba/#_ftn1
www.amnestyfr.cdn.prismic.io/amnestyfr/Z1CyeZbqstJ98CpQ_Gazagenocidereport.pdf
www.msf.fr/communiques-presse/gaza-un-rapport-de-msf-denonce-la-campagne-de-destruction-totale-menee-par-israel «Was unsere medizinischen Teams während des gesamten Konflikts vor Ort beobachtet haben, stimmt mit den Beschreibungen einer wachsenden Zahl von Rechtsexperten und Organisationen überein, die zu dem Schluss kommen, dass in Gaza ein Völkermord stattfindet. Obwohl wir nicht die rechtliche Autorität haben, die Absichtlichkeit festzustellen, sind die Anzeichen für ethnische Säuberung und die laufende Zerstörung, einschliesslich Massakern, schweren physischen und psychischen Verletzungen, Zwangsumsiedlungen und unmöglichen Lebensbedingungen für belagerte und bombardierte Palästinenser, unbestreitbar.»
www.rfi.fr/fr/moyen-orient/20241113-gaza-aide-humanitaire-%C3%A9tats-unis-ont-ils-lanc%C3%A9-un-ultimatum-pour-rien-plan-eiland
www.haaretz.com/israel-news/2025-01-30/ty-article-magazine/.highlight/theres-no-auschwitz-in-gaza-but-its-still-genocide/00000194-b8af-dee1-a5dc-fcff384b0000
www.contretemps.eu/un-cas-decole-de-genocide/ Shaw https://fr.wikipedia.org/wiki/Risque_de_g%C3%A9nocide_%C3%A0_Gaza_depuis_2023
www.newarab.com/analysis/erase-gaza-how-genocidal-rhetoric-normalised-israel.
www.newarab.com/analysis/erase-gaza-how-genocidal-rhetoric-normalised-israel