Seit dem letzten Artikel in Archipel(1) über die prekäre Situation von Migrant·inn·en in den italienisch-französischen Alpen sind über zwölf Monate vergangen. Deshalb ist es an der Zeit, erneut über deren Lage zu berichten.
In den letzten Jahren sind hier Tausende von Menschen aus Kriegs- und Krisenländern wie Afghanistan, Syrien, Irak oder afrikanischen Ländern durchgegangen. Während einer Beruhigung der Lage im Dezember 2022, die wahrscheinlich auf starke Schneefälle zurückzuführen war, kamen immer noch zwischen fünf und zwanzig Menschen pro Nacht auf der französischen Seite an.
Eine Brise frischer Luft
Nach vielen Wirrnissen im Frühjahr vergangenen Jahres konnten «Les terrasses solidaires» schlussendlich ein grosses Gebäude, ein leerstehendes Sanatorium, in den Höhenlagen der französischen Grenzstadt Briançon kaufen. Der Verein ist ein Zusammenschluss von verschiedenen Initiativen, die bisher eine Notunterkunft für die ankommenden Migrant·inn·en gegenüber dem Bahnhof betrieben hatten. Das Haus für dieses «Refuge» gehörte jedoch der Stadt und es wurde geschlossen, nachdem ein fremdenfeindlicher Bürgermeister von einer rechtskonservativen Partei gewählt worden war. Das neue Gebäude ist zum Glück viel grösser als die alte Unterkunft und hat die Qualität des Empfangs erheblich verbessert. Die Aufnahmekapazität liegt bei 61 Personen, die zwar öfters überschritten wird, aber die Ankömmlinge müssen nicht mehr in den Gängen schlafen, sondern kommen in anständigen Zimmern unter. Ein grosser Saal ermöglicht es den freiwilligen Helfer·inne·n, den ganzen Tag über verschiedene Aktivitäten zu organisieren. Es gibt ein paar bezahlte Kräfte, aber ohne die Freiwilligen wäre das Projekt auf Dauer nicht haltbar. Auch die sogenannten «Maraudeurs», die freiwilligen Bergretter·innen, konnten sich mit ihrem Material in den Räumen einrichten und eine Gruppe von Freiwilligen fand Platz, um eine Orientierungs- und Rechtsberatung durchführen zu können. Ausserdem steht ein Raum für medizinische Beratungen zur Verfügung, die von «Médecins du Monde» und der «PASS» (Permanence d'accès aux Soins de Santé) durchgeführt werden. Psycholog·inn·en sind auch daran beteiligt, da viele Migrant·inn·en unter traumatischen Erfahrungen leiden. Wenn diese Betreuung nicht ausreicht, werden die Ankömmlinge weiterhin bedingungslos im Spital von Briançon behandelt – es ist die einzige öffentliche Einrichtung in der Region, die sich um die Einhaltung der Gesetze und Menschenrechte bemüht.
Die Gesamtsituation ist nach wie vor sehr schwierig, aber der Erwerb dieses Ortes wirkt wie eine grosse Brise frischer Luft – zumindest was die Aufnahme der Exilierten betrifft, sobald sie in Frankreich eingetroffen sind. Die Notunterkunft ist weiterhin auf die Grosszügigkeit privater Spender·innen angewiesen, da der Staat keinerlei Hilfe leistet. Dieser beharrt vielmehr auf der Demütigung und Abschiebung der Schutzsuchenden.
Nach und nach ist es den freiwilligen Bergretter·inne·n gelungen, eine Organisationsstruktur aufzubauen. Ein Auto konnte angeschafft werden, und nach jedem Schneefall werden Teams gebildet, die mit grosser Effizienz die Wege für die Migrant·inn·en abstecken. Damit wird das Risiko bei der Überwindung der Bergpässe verringert, die im schlimmsten Fall bis zu zehn Stunden dauern kann. Im Rahmen der Partnerschaft zwischen «Médecins du Monde» und der Initiative «Tous Migrant-es», welche die Bergrettungen organisiert, ist auch regelmässig ein/e Arzt/Ärztin oder ein/e Krankenpfleger/in mit dabei. Die fast tägliche Anwesenheit der «Maraudeurs» in den Alpen schränkt die brutalen Verhaltensweisen der Polizei ein – wie zum Beispiel die Organisierung von Hinterhalten und Menschenjagden. Unbegleitete Minderjährige werden nun meistens der Kinderfürsorge anvertraut, wenn sie in Begleitung von Helfer·inne·n festgenommen werden, während sie früher systematisch abgeschoben wurden.
Die Gefahr erzeugt der Staat
Dennoch erhalten wir immer noch erschütternde Berichte über das Verhalten der französischen Grenzpolizei (PAF) auf dem Pass von Montgenèvre in deren Räumlichkeiten, die vor äusseren Blicken abgeschottet sind. Schutzsuchende wurden von Polizisten beraubt(2), und oft werden sie vor ihrer Rückschiebung nach Italien die ganze Nacht in einem unbeheizten Container neben dem Zollgebäude eingesperrt. Dies geschieht bei Temperaturen, die manchmal bis auf minus 20°C fallen.
Eine Frau, die es geschafft hatte, nach Frankreich zu gelangen, nachdem sie zuerst einmal festgenommen und nach Italien zurückgeschickt worden war, sagte aus, dass sie während ihrer Nacht bei der PAF nur bei weit geöffneter Toilettentür unter den spöttischen Blicken zweier Polizisten urinieren durfte. Und im letzten Dezember kam es zu einem fast tödlichen Vorfall: Nach einem Hinterhalt der Polizei und anschliessender Menschenjagd stürzte ein Mann in eine Schlucht, fiel auf den Kopf und blieb stundenlang bewusstlos liegen, bevor er in das Krankenhaus von Briançon gebracht wurde und sich dort erholen konnte. Die asphaltierte Strasse zwischen Clavière, dem letzten italienischen Dorf vor der Grenze, und dem Ort Montgenèvre auf dem gleichnamigen französischen Pass ist eigentlich nicht gefährlich. Die Geflüchteten werden vielmehr vom Staat in Gefahr gebracht, der seine Grenzen geschlossen hält – ein Beschluss, der vom französischen Staatsrat noch im Juli 2022(3) bekräftigt wurde. Dadurch werden die Migrant·inn·en in unwegsames Gelände abgedrängt, wo sie neben allen Mühen und Hindernissen – und teilweise zum ersten Mal in ihrem Leben – mit Schnee konfrontiert sind. Die illegalen Praktiken der Grenzpolizei wie Hinterhalte und Menschenjagden bringen die Exilierten dann noch mehr in Lebensgefahr.
Darüber hinaus fehlt es den Geflüchteten an Ausrüstung, einerseits an Bergausrüstung (Skimäntel und -hosen, Handschuhe und Mützen, Rucksäcke und Thermoskannen, Schneeschuhe und Gamaschen), oder auch an Telefonen, um sich zurechtfinden und um Hilfe rufen zu können, und andererseits fehlt es ihnen an städtischer Kleidung, um ihren Weg in Frankreich und womöglich darüber hinaus fortsetzen zu können.
Nach den Erzählungen der in Frankreich ankommenden Migrant·inn·en werden sie auf der italienischen Seite vor dem Aufstieg durch die Berge in einer Notunterkunft in Oulx sowie in einem besetzten Haus in Cesana untergebracht, das im Juli letzten Jahres von No-Border-Aktivist·inn·en eröffnet wurde.
Eine erfolgreiche Aktion
Um mit einer positiven Note abzuschliessen, möchte ich gerne von der grossen «Maraude» berichten, die auf dem «Col de Montgenèvre» am Samstagabend des 12. März 2022 stattgefunden hat. «Tous Migrant·es» hatte dazu aufgerufen, unterstützt von verschiedenen solidarischen Kollektiven der Region. Der Begriff «Maraude» bezeichnet die gemeinsame Aktion von Freiwilligen, um Migrant·inn·en in Bergnot zu retten, sie vor der Abschiebung zu schützen und an einen sicheren Ort zu bringen.
An diesem Abend versammeln sich nicht weniger als 300 Menschen vor den Gebäuden der Grenzpolizei, um auf die alarmierende Situation für die Geflüchteten an der Grenze aufmerksam zu machen. Während der Reden bemerken plötzlich Teilnehmer·innen der Zusammenkunft, dass etwa 200 Meter unterhalb des Zollgebäudes in Richtung Italien eine Festnahme im Gange ist. Spontan sammelt sich eine Gruppe, die das Polizeifahrzeug aufsucht, in dem die schutzsuchenden Menschen bereits eingesperrt sind. Die Gruppe und alle anderen beschliessen aus dem Stand heraus, die x-te Festnahme nicht vor ihren Augen geschehen zu lassen. An diesem Abend sind wir viele, und das Kräfteverhältnis ist zu unseren Gunsten. Ohne Gewalt gelingt es den erfahrensten Aktivist·inn·en, die Festgenommenen aus dem Polizeifahrzeug zu holen. Danach bildet sich ein Ring von allen Teilnehmenden um die Geflüchteten, um Übergriffe der Polizei zu verhindern. Nachdem die Ankömmlinge im Fahrzeug von «Médecins du Monde» aufgenommen wurden, bildet sich eine Kolonne von etwa zwanzig Autos, die sich in Richtung Briançon in Bewegung setzt. Am Ortsausgang von Montgenèvre stoppt die Gendarmerie den Konvoi mit der deklarierten Absicht, alle Autos kontrollieren zu wollen. Die Entscheidung der Karawane fällt ohne Zögern: Die Kontrolle wird kollektiv verweigert. Obwohl die Ordnungshüter·innen unter verschiedenen fadenscheinigen Gründen mit Geldbussen drohen, hält die Kolonne durch. Nach dem Eintreffen eines Offiziers der Gendarmerie und kurzen Verhandlungen kann der Demonstrationszug dann doch ohne Kontrollen nach Briançon fahren.
Danach geht der Abend weiter und es bilden sich kleine Gruppen von «Maraudeurs», um die Pisten der Skistation von Montgenèvre zu erkunden, deren Atmosphäre sich wie jede Nacht in einem seltsamen Wechselspiel zwischen Luxustourismus und schreiender humanitärer Katastrophe bewegt. Wieder trifft eine Schar von «Maraudeurs» auf eine Gruppe von Migrant·inn·en, die gerade auf der französischen Seite angekommen ist. Die erschöpften Menschen werden über die Situation vor Ort informiert und sie bitten darum, in Briançon abgesetzt zu werden. Auch hier können die Geflüchteten in ein Fahrzeug von «Médecins du Monde» einsteigen, das von einer Menschenmenge bis zum Ortsausgang von Montgenèvre zu Fuss begleitet wird. Dieses Mal bildet sich ein Korso von etwa fünfzig Autos, die das Fahrzeug von «Médecins du Monde» mit seinen Passagier·inn·en bis zu den «Terrasses solidaires» in Briançon begleiten wollen. Erneute Blockade durch die Gendarmerie, erneute kollektive Verweigerung der Kontrolle. Einige Teilnehmer·innen hören, wie die Gendarmen unter sich den Wunsch äussern, «diese Scheiss-Linken zu verprügeln». Aber auch dieses Mal kann die Kolonne bei der Ankunft des Gendarmerie-Offiziers ohne Kontrolle weiterfahren. Ein schöner Erfolg!
Dieser Abend hat all denjenigen neue Energie gegeben, die hier regelmässig ihre Zeit opfern und die Berge durchqueren, um den Menschen zu helfen, die in der Hoffnung kommen, hier eine schönere Welt zu finden als diejenige, die sie verlassen mussten. Natürlich weiss jede·r, dass es unmöglich ist, jeden Abend 300 Menschen an der Grenze zu versammeln, um das kleine Kunststück zu vollbringen, der Polizei die Stirn zu bieten. Aber es war eine gute Gelegenheit, alle daran zu erinnern, dass die Grenze nur eine unsichtbare Linie ist und dass es jederzeit möglich ist, sie zu verwischen, und sei es auch nur für einen Augenblick.
Guillaume Tellier
- www.archiv.forumcivique.org/fr/artikel/migration-frankreich-ueber-berge-und-grenzen/
2.www.basta.media/police-racket-violence-sur-mineur-detournement-de-fonds-publics-refugies-proces-PAF-Montgenevre
- www.infomigrants.net/fr/post/42240/le-conseil-detat-valide-le-retablissement-des-controles-aux-frontieres-interieures-francaises