Seit einiger Zeit kennen und unterstützen wir den Verein A4 – «Association d’Accueil en Agriculture et Artisanat». Dieser selbstverwaltete Verein für die Aufnahme in Landwirtschaft und Handwerk, getragen von Menschen verschiedenster Herkunft, entstand 2021 in Frankreich. Hier stellen seine Mitglieder ihn vor:
Wir waren ein paar Freundinnen und Freunde in einem Pariser Vorort, die während des ersten covid-bedingten Lockdowns (Frühjahr 2020) über die Rückkehr aufs Land diskutierten. Wir sind über verschiedene Migrationswege nach Europa gekommen, haben Probleme mit den Papieren, arbeiten in den Städten, wo wir Arbeit finden, unter grossen Spannungsverhältnissen. Wir werden als billige Arbeitskräfte betrachtet, die man ausbeuten kann, da wir keine Rechte haben. Wir sind nicht nur wegen uns hier, sondern auch, um unsere Familien in der Heimat zu unterstützen. Wir haben auch Schwierigkeiten, stabile Unterkünfte zu finden. Wir wollen in Würde leben und einer Arbeit nachgehen, die uns liegt und erfüllt. Einige von uns möchten sich niederlassen und die Berufe ausüben, die sie in ihrem Heimatland ausgeübt haben, d. h. Landarbeit oder Handwerk (Metellbearbeitung, Tischlerei...). Andere von uns würden gerne irgendwann in ihr Land zurückkehren und die Fähigkeiten, die sie sich hier angeeignet haben, dort in die Praxis umsetzen, um ihre Familien zu ernähren (Käse herstellen z.B. ...). Solange unsere Rechte jedoch nicht anerkannt werden, haben wir nur Anspruch auf prekäre Arbeitsverhältnisse und ein Leben von der Hand in den Mund. Also fingen wir an zu überlegen, wie wir diese Problematik konkret angehen könnten.
Parallel dazu standen wir in Kontakt mit Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für den Zustand der bäuerlichen Landwirtschaft in Frankreich interessieren. In den nächsten zehn Jahren wird die Hälfte der Landwirtinnen und Landwirte in Frankreich in den Ruhestand gehen. Die Agrarindustrie wächst immer mehr; die Zersiedelung der Landschaft ist nicht aufzuhalten, und die kleinen landwirtschaftlichen Höfe verschwinden. Einige von uns haben in grossen landwirtschaftlichen Betrieben gearbeitet. Auch hier waren wir billige Arbeitskräfte, erledigten täglich dieselben Aufgaben, lernten nichts und lebten unter Bedingungen, die man als moderne Sklaverei bezeichnen könnte. Damals wurden wir in die ZAD de Notre-Dame-des-Landes (in Westfrankreich)1 eingeladen, um über unsere Arbeitserfahrungen in der Agrarindustrie zu berichten. Diese Veranstaltung bot uns die Gelegenheit, andere Menschen zu treffen, die aufs Land zurückkehren wollten und ebenfalls Schwierigkeiten mit ihren Papieren hatten. Gemeinsam haben wir daraufhin das A4-Projekt ins Leben gerufen. Die offizielle Gründung fand im Jahr 2022 statt.
Gastfreundliche Orte
A4 soll Verbindungen zwischen Menschen in der Stadt und Menschen auf dem Land herstellen, zwischen Menschen, die Arbeit suchen oder sich weiterbilden möchten, und solchen, die Gastgeber·innen sein möchten. Die Idee ist es, ein Netzwerk von gastfreundlichen Orten zu schaffen, die Ausbildung, Praktika, Austausch, Arbeit oder sogar eine Niederlassung in der Landwirtschaft oder im Handwerk anbieten, um die Legalisierung oder Stabilisierung der Situation jedes Einzelnen zu erleichtern. So treffen wir uns mit Bauern, Bäuerinnen und Handwerker·innen, um gemeinsam mit ihnen dieses Netzwerk aufzubauen und einen Austausch von Know-how und Fähigkeiten zu ermöglichen: sowohl um gute Arbeitsbedingungen oder Ausbildungen zu finden als auch um die Herausforderungen und Fragen zu verstehen, denen sich die Landwirt·innen und Handwerker·innen heute stellen müssen, und um gemeinsame Lösungen zu finden. Wir bemühen uns, dass jede·r Einzelne unter guten Bedingungen empfangen wird. Zu diesem Zweck haben wir ein Aufnahmeprotokoll erstellt und eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die als Bindeglied zwischen dem gastgebenden Ort und der aufgenommenen Person fungiert. Eine weitere Arbeitsgruppe sucht nach einem Ort, den wir für unsere eigenen Aktivitäten erwerben können und an dem wir Personen aufnehmen können, die dies wünschen. Andere Arbeitsgruppen untersuchen rechtliche Fragen, suchen nach Finanzierungsmöglichkeiten, überlegen, wie wir füreinander sorgen können, oder erstellen ein Verzeichnis und eine Kartografie des Netzwerks, um den Austausch zu erleichtern. Wir starteten auch eine Umfrage, um sichtbar zu machen, wie die Arbeit in der Landwirtschaft heutzutage funktioniert.
Eine Umfrage mit Folgen
Die Idee zu dieser Umfrage entstand während unserer dritten Forschungsreise im Jahr 2022, die uns in die Region Côtes d'Armor, nach Lannion geführt hatte. Zwei Mitglieder von A4 lebten dort und boten an, die Treffen rund um die Vereine, Projekte und Freund·innen zu organisieren, die sie bereits kannten. So waren Kollektive zur Unterstützung von Sans-Papiers, eine Schule für Landwirtschaft und Projekte für städtische Gärten oder Gemüsegärten die Gastgeber·innen der Treffen. Im Anschluss an diese Reise wurde die lokale Gruppe A4 in Lannion gegründet.
Viele von uns arbeiteten in landwirtschaftlichen Betrieben, ohne französische Papiere zu haben oder sich im Asylverfahren zu befinden. Wir sind hier, wir haben kein Recht zu arbeiten, aber dort, wo wir arbeiten, profitiert der Landwirtschaftsbetrieb von uns. Angesichts dieser Ungerechtigkeit begannen wir mit der Umfrage. Sie zeugt von einer langen Geschichte von Recherchen und Gerichtsurteilen, die von den erbärmlichen, sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen ausländischer und insbesondere saisonaler Arbeitnehmer·innen in Frankreich zeugen. Arbeitgeber in der Landwirtschaft wurden immer wieder in Gerichtsurteilen wegen Menschenhandels verurteilt. Das Besondere an unserem Ansatz ist, dass die Recherchen mit und von den ausländischen Arbeitnehmer·innen durchgeführt werden. Im Februar 2024 organisierten wir in Lannion zwei Wochen lang Schulungen für Tonaufnahme und Methodik und begannen dann mit den Interviews. Zunächst werden wir uns in unserer Untersuchung auf die Region Côtes d'Armor konzentrieren, in der viele Fälle von Ausbeutung ausländischer Arbeitnehmer·innen bekannt sind, in der sich aber auch Menschen miteinander organisieren und Widerstand leisten. Wir möchten solche Untersuchungen überall in Frankreich durchführen, sobald wir über die entsprechenden Mittel verfügen.
Damit verfolgen wir drei Ziele:
Die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft anprangern, die Arbeitsbedingungen durch die Selbstorganisation der Arbeitnehmer·innen zu verbessern, unsere Legalisierung mit allen legalen Mitteln fördern.
Die Ergebnisse werden es uns auch ermöglichen, bei Gewerkschaften, lokalen Behörden und öffentlichen Institutionen für unsere Anliegen vorzusprechen. Der Erfolg einer bäuerlichen Landwirtschaft hängt vom Kampf gegen Ausbeutung und für die Legalisierung ausländischer Arbeiter·innen ab.
Intensivierung und Erweiterung
Ob bei dieser Forschungsarbeit oder bei den zahlreichen anderen Aktivitäten unseres Vereins, gibt es viele Möglichkeiten, uns zu unterstützen und sich zu engagieren. Heute sind wir etwa fünfzehn Personen, die das Projekt tragen. Wir waren von Anfang an alle ehrenamtlich tätig, und im Laufe des Jahres 2023 haben wir begonnen, finanzielle Unterstützung zu erhalten, wodurch wir zwei Vollzeitäquivalente schaffen konnten, um uns weiterhin voll einbringen zu können. Es gibt etwa hundert Freiwillige, die entweder in speziellen Arbeitsgruppen oder in lokalen Gruppen tätig sind. Im Anschluss an die Recherchereisen, bei denen wir verschiedene Gebiete kennenlernen, sollen sich lokale Gruppen bilden, die in den jeweiligen Regionen eine selbstständige Dynamik ermöglichen. So wird die Verbindung zu den Bauern, Bäuerinnen und Handwerker·innen vor Ort fortgesetzt, der Austausch intensiviert und das Netzwerk ausgebaut. Das Hauptziel von A4 ist es, dass die Organisation von denjenigen getragen wird, an die sie sich richtet, und nicht von denjenigen, die über bessere Französischkenntnisse verfügen, sich besser ausdrücken können oder in einer entscheidenden Position sind. Wir sind davon überzeugt, dass wir unsere Würde nur dann wiedererlangen können, wenn wir unser Leben selbst in die Hand nehmen.
Das kann Zeit brauchen, aber wir nehmen uns diese Zeit: Zeit zum Übersetzen, Zeit zum Erklären, Zeit, um sicher zu stellen, dass alle verstehen und sich ausdrücken können, Zeit, um uns gegenseitig durch die Schwierigkeiten zu begleiten, die wir durchmachen, und Zeit, um durch die aktive Beteiligung jedes/r Einzelnen wirksamer zu sein als durch schnelle Fortschritte. Ebenso müssen viele Verhaltensweisen von Rassismus abgebaut werden, und wir bilden uns weiter, um diese horizontaleren und respektvolleren Funktionsweisen zu verbessern. Wir halten alle drei bis vier Monate mehrtägige Präsenztreffen per Videokonferenz ab und arbeiten in Zweier- oder Dreiergruppen, wobei jede Person bestimmte Aspekte eines Projekts beherrscht und wir uns gegenseitig beobachten und inspirieren. Auf diese Weise möchten wir erreichen, dass jede/r seine/ihre Kompetenzen erweitert, sich weiterbildet und seine/ihre Projekte vorantreibt. Wir helfen uns gegenseitig, indem wir unser Know-how miteinander teilen.
Wie weit sind wir heute?
In den zwei Jahren unseres offiziellen Bestehens haben wir bereits für rund fünfzig Personen an fünfzehn verschiedenen Stellen Ausbildungsplätze und Praktika gefunden – unter anderem in der Konservenindustrie, als Koch, in der Saisonarbeit, in einer Bäckerei, im Gemüseanbau, auf Baustellen ... Wir haben 3000 m2 Gewächshäuser in Lannion (mit Erdnüssen, Paprika, Ananas…) aufgebaut, 5 Recherchereisen gemacht, 5 lokale Gruppen gegründet (in Grenoble, Lannion, St Affrique, in der Ile-de-France und im Anjou). Trotzdem fühlen wir uns noch immer wie am Anfang dieses Abenteuers. Wir müssen noch viel lernen, und die verschiedenen Zusammenkünfte und Kooperationen ermöglichen es uns, Lösungen für die Hindernisse zu finden, die auftreten können: Arbeitgeberzusammenschlüsse von Bauern und Bäuerinnen, die allein kein volles Gehalt erwirtschaften können. Verbindungen zwischen Gastgeber·innen und Unterstützungsvereinen, um die Aufnahme gemeinsam zu bewältigen und vieles mehr. Wir möchten auch unsere Kompetenzen zur Geltung bringen. Denn auch wenn unsere Diplome in Frankreich nicht anerkannt sind, beherrschen wir Techniken, besitzen Fähigkeiten und haben Studienabschlüsse, die wir gerne in die Praxis umsetzen und auch an andere weitergeben möchten. Wir suchen nach würdigen Arbeits- und Lebensbedingungen, denn was die Arbeit an sich betrifft, sind wir in Manchem schon Expertinnen und Experten.
Das A4 – Kollektiv
- Die ZAD («Zone à défendre») von Notre-Dame-des-Landes bei Nantes steht für den erfolgreichen Ausgang einer jahrelangen Besetzung von einem Gelände, das für den Bau eines Flughafens vorgesehen war. Auf der ZAD wird heute alternative und bäuerliche Landwirtschaft betrieben.