Es ist etwas faul im Königreich von François Hollande. Das, was seit den Pariser Anschlägen vom 13. November 2015 im Rahmen des ausgerufenen Ausnahmezustandes passiert, läutet eine neue Ära ein; ein neues Kapitel wird aufgeschlagen und seine Zeilen werden in braun geschrieben.
Man sagt uns, dass es unsere Werte seien, die am 13. November angegriffen wurden: die Grundwerte der Republik Frankreich. Die offensichtliche und prompte Reaktion des Staates, um seine Werte zu verteidigen, ist folgende: Er versucht dieselben mit seinem ganzen Gewicht zu zerquetschen. Wenn Staat böse, Staat immer so machen!1 «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», sagen sie uns. Auf die Freiheit können wir noch lange warten, wenn Frankreich offiziell im Europarat erklärt, dass es im Rahmen des Ausnahmezustandes der europäischen Menschenrechtskonvention zuwiderhandeln wird, obwohl es diese unterschrieben hat. Freiheit verwandelt sich in totale Willkür mit den über 2000 Hausdurchsuchungen (bereits bis zum 1. Dezember 2015!), die ohne triftigen Grund durchgeführt wurden. Es hagelt Hausarreste2, die willkürlich bestimmt werden: Aktivisten und Aktivistinnen verschiedener Vereine, jemand der in der Nacht gejoggt ist, Menschen, die vor Jahren an einer Demonstration teilgenommen haben etc… Und die Brüderlichkeit kam unter anderem in der brutalen Verwüstung der Moschee von Aubervilliers durch die Ordnungskräfte zum Ausdruck – das einzige Ergebnis dieser erfolglosen Durchsuchung: mehrere Tausend Euro Schaden.
Nach den Anschlägen gegen das Satiremagazin Charlie Hebdo im Januar 2015 konnte man das wahre Gesicht des Staates erahnen, mit Massnahmen wie einem behördlichen Ausreiseverbot für eigene Staatsangehörige oder der Bombardierung von Trainingslagern in Syrien, in denen sich vermutlich auch junge Franzosen aufhielten. Und jetzt kommt es zum Verlust der französischen Nationalität oder zum Einreiseverbot für Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft.
Die Freiheiten sind am Wanken
Wo und wann hat man schon gesehen, dass ein Staat den eigenen Bürger_innen die Einreise in ihr Land verweigert? Die Verfassung, Grundlage unseres so genannten Zusammenlebens, wird vom Premierminister ausgehebelt; er ersucht den Senat, den Verfassungsrat in Hinblick auf das Gesetz zur Verlängerung des Ausnahmezustands nicht einzuschalten, obgleich er sich bewusst ist, dass einige der Massnahmen unvereinbar mit der Verfassung sind. Da gibt es kein Federlesen, der übliche Klimbim fällt weg, man geht einfach drauf los mit einem Rundumschlag. Und der Staat erscheint in vollem Glanz. Das Demonstrationsverbot, das sowohl während des Beginns als auch während des Abschlusses der Klimakonferenz COP21 in Paris, aber auch in fast allen französischen Städten galt, wurde am 30. November 2015 von einigen tausenden Demonstrant_innen durchbrochen, insbesondere auf dem Place de la République in Paris. Hier wurde diese neue Repressionsmethode angewendet, die bereits in Lyon bei den Demonstrationen im Jahr 2008 gegen den umstrittenen CPE (contrat première embauche/ Erstanstellungsvertrag) erprobt wurde: nämlich der «Polizeigewahrsam unter freiem Himmel», bei dem Hunderte von Leuten mehrere Stunden vor Ort blockiert werden, einschliesslich Ein- und Ausgangsverbot durch die Polizeisperre. Diejenigen, die jetzt in Paris versucht hatten, gegen dieses polizeiliche Fangnetz zu demonstrieren, wurden mit Tränengas und Knüppeln angegriffen. Einige Demonstrant_innen wehrten sich mit Wurfgegenständen, darunter auch mit Kerzen, die vor dem Mahnmal der Anschläge vom 13. November angezündet worden waren. Natürlich kam das in der Presse nicht gut an, und die Protestierenden wurden allseits kriminalisiert. Die Tatsache, dass die Einsatzpolizei denselben Altar mit Füssen getreten und verwüstet hatte, wurde dagegen kaum erwähnt. Die Bilanz von diesem 30. November sah dann folgendermassen aus: 340 Festnahmen und 317 Personen in Polizeigewahrsam3. Innenminister Cazeneuve leiert den ewigen Refrain von den «guten, aufrichtigen Demonstranten und den bösen Gewalttätigen» herunter – dieselbe alte Litanei, um die «guten» Demonstrant_innen nicht einzuschüchtern und sie glauben zu lassen, dass sie sich ausserhalb der repressiven Massnahmen befänden. Die Exekutivgewalt rechtfertigte im Nachhinein das Demonstrationsverbot mit den Zusammenstössen – als ob die Zusammenstösse nicht ihren Ursprung auch in diesem Verbot gehabt hätten. Die mediale politische Inszenierung und die Repressionen richten sich vor allem gegen diejenigen, die sich in den Kämpfen gegen den Flughafen von Notre-Dame-Des-Landes bei Nantes, gegen den Staudamm von Sivens im Tarn, gegen den TAV (treno ad alta velocità / Hochgeschwindigkeitszug) zwischen Lyon und Turin oder gegen das Atommüll-Endlager in Bure eingesetzt haben. Geht es darum, Stimmung gegen diese Bewegungen zu machen, die einen beträchtlichen Störfaktor für die so genannt COP21-kompatiblen Infrastrukturprojekte repräsentieren, um massiv gegen sie vorgehen zu können? Offenbar ist jetzt alles möglich, alles erlaubt – seitens des Staates natürlich.
Drei Monate lang sollen wir den Ausnahmezustand aushalten – wenn nicht länger. Premierminister Manuel Valls erklärte inzwischen, dass der Ausnahmezustand, der offiziell bis Ende Februar 2016 gilt, weiter ausgedehnt werden soll. Wohin wird das führen? Welche Spielräume öffnen sich dadurch für die Polizeiführung? Was wird danach zur Gewohnheit werden?
Mit Vollgas an die Wand
Die einzige Antwort unserer Eliten ist kriegerisch und auf die so genannte Sicherheit fixiert, wie bereits erwähnt. Ich dachte gutgläubig, dass der Ausnahmezustand – als ausserordentliche Massnahme – vorübergehend sein würde; letzte Spuren vom Glauben an den Rechtstaat… Doch die Ausnahme riskiert zur Regel, zum Alltag zu werden. Zu Beginn des Plan Vigipirate (nationales Sicherheits- und Überwachungssystem) hiess es auch, er sei nur vorübergehend. Seit 1986 läuft dieser nun ohne Unterbrechung, bei mehr oder minder hohen Alarmstufen.
Inzwischen wurde dem Staatsrat ein Vorschlag für eine Verfassungsänderung zur Stellungnahme übermittelt. Das ist also die Richtung, die unser Befehlshaber Hollande einschlägt. Danach würde die Beendigung des Ausnahmezustands sechs Monate dauern. Es könnte eine schrittweise Aufhebung gewisser Massnahmen geben, andere könnten aber beibehalten werden. Da jedoch der Premier- und der Innenminister angefangen haben, für eine Verlängerung des Ausnahmezustands den Weg zu ebnen und die Gemüter gleichzuschalten, kann man davon ausgehen, dass das Theater dann während eines Jahres so weitergehen wird. Aber das ist erst der Anfang… Die Bedingungen für Hausdurchsuchungen könnten erweitert werden. Momentan muss trotz des Ausnahmezustands immer noch ein Beamter der Strafverfolgungsbehörde dabei anwesend sein. Möglicherweise wird das bald nicht mehr der Fall sein. Jedenfalls ist, zur Freude der Polizeigewerkschaft, kein richterlicher Befehl mehr notwendig; so kann sich die Polizei jetzt auch um «die Fälle kümmern, zu denen sie davor keinen Zugang hatte». Für die Hausarreste ist die Sachlage noch nicht sehr klar, da es viele verschiedene Meinungen dazu gibt. Zum Beispiel erfahren wir in Le Monde vom 5. Dezember 2015, dass die Polizisten gerne «die Möglichkeit in Betracht ziehen würden, Leute, die in der nationalen Personenfahndungsdatei aufgelistet sind, während des Ausnahmezustands in Verwaltungshaft zu nehmen. […] Das wird durch ein Dokument belegt, das am 1. Dezember von der Direktion der öffentlichen Freiheiten und juristischen Angelegenheiten (direction des libertés publiques et des affaires juridiques / DLPAJ) erstellt wurde». Die Zahl der Personen in diesem Fiches S - Register soll von 5‘000 im Jahr 2012 auf 10‘000 im Jahr 2015 angestiegen sein, davon seien 5‘000 im Zusammenhang mit «Islamismus» erwähnt und andere als Links- oder als Rechtsextreme notiert. Man spricht auch von einer Verknüpfung der Dateien. Besonders interessant ist dafür die präzise und gehaltvolle Datei der Sozialversicherung, in der auch die Ausländer_innen ohne Aufenthaltsgenehmigung aufgezeichnet sind. Und es gibt immerhin 80 verschiedene behördliche Polizeidateien. Dazu kommt die allseitige Ausdehnung der Polizeibefugnisse mit einer «Auflockerung der Notwehr für Polizisten». Die Polizei tötet zwischen 10 und 12 Personen im Jahr, und man fragt sich, welche Bilanz sie erreichen wird, falls eine solche Massnahme durchkommt. Hinzu kommen die Sicherheitsfirmen, die sich für «Auflockerungen bezüglich der Sozialgesetzgebung» aussprechen, um von der 35-Stunden-Woche wegzukommen, und dafür «eine Sonderregelung von bis zu 48 Arbeitsstunden» fordern. Aber das ist nicht alles. Die Huffington Post teilt uns auf ihrer Webseite mit, dass man «laut Claude Tarlet, Präsident der Union der privaten Sicherheitsfirmen, über zusätzliche Sonderregelungen nachdenken müsse […]. Man könne in Betracht ziehen, dass einigen Privatunternehmen, […] ab dem Moment, da sie unter die exklusive Kontrolle des Staates fallen, unter besonderen Bedingungen die Befugnis erteilt würde, ihr Personal zu bewaffnen. Der Staat brauche diesen Sektor im Rahmen der Gewährleistung der inneren Sicherheit und des Kampfes gegen den Terrorismus. Denn trotz der Ausschreibung von 5‘000 neuen Stellen in der Polizei und der Gendarmerie, werden die öffentlichen Ordnungskräfte nicht alleine ausreichen, um den Bedarf zu decken, schätzt er ein.»
Eine der geplanten Massnahmen ist die Verlängerung des Polizeigewahrsams wegen Terrorismusverdacht von 6 auf 8 Tage und für eine einfache Ausweisüberprüfung bis auf 8 Stunden. Und es geht weiter: Auf der Webseite von Atlantico ist folgendes zu lesen: «Die Ordnungskräfte verlangen zum Beispiel die Erlaubnis, Fahrzeuge und Gepäckstücke ohne die Zustimmung der Leute durchsuchen zu können und möchten Ausweiskontrollen durchführen, ohne besondere Gründe nennen zu müssen.» Weitere Wünsche: «eine Massnahme zur Meldepflicht von Reisen» (intermediäre Massnahme vor dem Hausarrest), die Möglichkeit, «[eine durchsuchte Person] in das Polizeirevier oder in die Gendarmerie zu bringen, [um] DNA-Proben zu entnehmen», während des Ausnahmezustands «offene und geteilte WLAN-Verbindungen zu verbieten», sowie «öffentliche WLAN-Verbindungen […] strafrechtlich zu verbieten». Andere Vorhaben wären da, die Schwelle der Radargeräte «bei einer bestimmten Zone zu senken, damit die Gesamtheit des Verkehrs erfasst und somit ein Fahrzeug lokalisiert werden kann», oder weiter… «die Kommunikation über TOR-Netzwerke in Frankreich zu verbieten und blockieren». Diese Netzwerke zur Anonymisierung von Verbindungsdaten, bekan-ntlich im Iran bereits blockiert, «werden von zahlreichen Aktivisten und Dissidenten autoritärer Staaten benutzt», kritisiert die Internet-zeitung Numerama diesen Plan.
Steigbügelhalter der Rechtsextremen
Und, last but not least, geht es noch um den Verlust der Staatsangehörigkeit. Hollande will das französische «Droit du sol»4 zerstören. Ein Verfassungsrecht, das seit über 200 Jahren für Gleichberechtigung steht. Hollande will jetzt die «Aberkennung der Staatsbürgerschaft unter bestimmten Umständen» in der Verfassung verankern, auch für diejenigen, die in Frankreich geboren sind. Bisher wurden derartige Vorschläge ausschliesslich vom Front National geäussert. Damit wären wir bei der Erschaffung der berühmten «Stammfranzosen» (français de souche), die der rechtsextremistischen Strömung der Identitaires so am Herzen liegt. Ab dem 3. Februar 2016 soll der Vorschlag zur Verfassungsreform dem Parlament zur Debatte vorgelegt werden. Premierminister Valls dazu: «Diese Massnahme soll vor allem symbolischen Wert haben, es geht hier nicht in erster Linie um Effizienz»
Wenn man sich ansieht, wie der Ausnahmezustand im Alltag abläuft, mit brutalen Hausdurchsuchungen, wie zum Beispiel ein Krebs- und Herzkranker zu Boden geworfen und in Handschellen gelegt wird oder wie die Polizei mit Schlagstöcken gegen fünf Harmonika- und Tamburinspieler vorgeht, dann könnte man bald meinen, in einem totalitären Staat zu leben.
Sicher ist, dass all diese Massnahmen ein Ressentiment in der Bevölkerung nähren, das zwangsläufig eines Tages in irgendeiner Art zum Vorschein kommen wird. Denn Willkür ruft Verbitterung und Groll hervor, insbesondere wenn diese mit Rassismus und Islamophobie vermischt wird.
Und dann noch eine kleine Frage so nebenbei: Was ist der nächste Schritt? Da es wahrscheinlich ist, dass unser schönes Land noch mehr Attentate erleiden wird: was machen wir das nächste Mal? Die Armee auf der Strasse? Belagerungszustand? Sondervollmachten? Meine vorläufig letzte Überlegung: Die Regionalwahlen brachten einen schweren Rechtsruck. Der Front National hat zugelegt. Wie wird es im Jahr 2017 bei den Präsidentschaftswahlen aussehen? Hollande bereitet leider jetzt schon die repressiven Werkzeuge vor, welche Marine Le Pen sich in Zukunft zu Nutze machen könnte.
- Anspielung auf einen Satz aus Tim und Struppi im Band Der Sonnentempel: «Wenn Lama böse, Lama immer so machen.», Anm. d. Übersetzers
- Ein Hausarrest beinhaltet: zwischen zwei und vier Mal pro Tag am örtlichen Polizeirevier oder bei der Gendarmerie anzutreten, das Verbot, aus der Stadt zu gehen und die Pflicht, zwischen 20 und 6 Uhr zu Hause zu bleiben. Das Unterlassen dieser Regeln kann zu ein bis vier Jahren Haft und bis zu 45'000 Euro Bussgeld führen.
- Zum Zeitpunkt ist noch ungewiss, was aus diesen ganzen Leuten in Polizeigewahrsam wird. Das Zuwiderhandeln des Demonstrationsverbots kann sich mit bis zu drei Jahren Haft und 7'500 Euro rächen.
- Droit du sol, Ius soli («Recht des Bodens») bezeichnet das Prinzip, nach dem ein Staat seine Staatsbürgerschaft an alle Kinder verleiht, die auf seinem Staatsgebiet geboren werden. Es wird daher auch als «Geburtsortsprinzip» (auch Geburtsort- oder Territorialprinzip) bezeichnet. Hierbei ist ohne Belang, welche Staatsangehörigkeit die Eltern besitzen. Das z.B. in Deutschland geltende Abstammungsprinzip (Ius sanguinis) ist ein anderes geltendes Prinzip des Staatsbürgerschaftserwerbs und an die Staatsbürgerschaft der Eltern gebunden.