Kämpferische Gesänge aus hunderten Kehlen schallten Ende August 2022 über die hügelige Landschaft der südlichen Meuse in Frankreich. Die Zusammenkunft der revolutionären Chöre am alten Bahnhof von Luméville war einer von vielen Ausdrücken des Protests gegen die Planung des «Zentrums für industrielle Tiefenendlagerung» CIGEO, dem wohl grössten atomaren Endlager der Welt, das im Lothringer Hinterland in Bure entstehen soll.
Auch wenn kaum glaubhafte Lösungen für die Müllproblematik der Atomindustrie auf dem Tisch liegen, hat der französische Staat seine atomaren Grossmacht-Bestrebungen in diesem Jahr weiter verstärkt. Anfang Juli kam es Schlag auf Schlag: Die Lobbyarbeit des industriefreundlichen EU-Kommissars Thierry Breton zur Anerkennung von Erdgas und Atomkraft als «saubere Energien» durch das Europaparlament hatte Erfolg. Unter Ausblendung scheinbar drohender Lieferengpässe, etwa aus Kasachstan und Russland infolge der Ukraine-Invasion, konnte die rechte Mehrheit in Strassburg für eine denkbar knappe Entscheidung begeistert werden. Auch wenn sich die Privatwirtschaft immer weniger am Bau neuer AKW interessiert zeigt, will Macron bis zu 14 neue Hochdruckwasserreaktoren der Areva-Siemens-Baureihe auf den Weg bringen. Im gleichen Atemzug wie die Taxonomie1 zu erneuerbaren Energien wurde die abschliessende Renationalisierung des EDF-Konzerns für üppige 9 Milliarden Euro beschlossen – so dass die Klage der Aktionäre auf eine Verdopplung der Erlöse erfolglos bleibt. Die Hälfte der französischen Meiler ist derzeit wegen Sicherheitsmängeln abgeschaltet, tausende Megawatt an Strom werden täglich importiert – an Export der überteuren Energie ist nicht zu denken. Während der Rechnungshof hunderte Milliarden für die Sanierung des existierenden Atomparks veranschlagt, erscheint Frankreichs dogmatische Verengung auf die Kernenergie immer unerklärlicher.
Doch die Verbissenheit Frankreichs geht deutlich weiter, denn der 8. Juli hatte noch eine Neuigkeit parat: Das Atomklo-Projekt von Bure wurde durch die frisch bestimmte eiserne Lady, Premierministerin Elisabeth Borne, mit der «Déclaration d’utilité publique» (DUP) zu einem Projekt «von öffentlichem Interesse» befördert. Denn ein Kernbaustein der Atomnation ist das ungelöste Endlager-Problem, dessen Verwirklichung Paris im undicht bevölkerten Süden Lothringens sieht. Im 80-Einwohner·innen-Dorf Bure, 130 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, soll das wohl grösste Industrieprojekt Europas verwirklicht werden. In 500 Metern Tiefe gehört, Paris zufolge, 99 Prozent der Radioaktivität französischer Atomwirtschaft vergraben. Ein Jahrhundert lang ist die Befüllung durch etwa drei Castor-Transporte pro Woche geplant, wenn denn die Infrastruktur wie Gleise und Schächte zur Fertigstellung kommen. Die DUP soll nun Landenteignungen ermöglichen, die im Anbetracht weiterhin renitenter Teile der Bevölkerung notwendig erscheinen.
Karotte und Peitsche
Die Zeit für die Verwirklichung eines Endlagers ist knapp, auch wenn de facto weltweit keine technischen und wissenschaftlichen Lösungen bereitstehen. In der Plutoniumfabrik von La Hague quellen alle Zwischenlager über, während sich zehntausende Kubikmeter Müll an den 19 Reaktorstandorten türmen. Ein Ausbau der Lagerkapazitäten wurde durch die Anti-Atombewegung kürzlich ausgebremst. Sowohl der Rückbau bestehender Anlagen als auch die Zukunft neu entstehenden Abfalls ist vollkommen ungeklärt. Und während der Widerstand das Bure-Projekt weiter verzögert, wird die undemokratische Vorgehensweise der Atomindustrie immer deutlicher. Auf der einen Seite findet seit über zwanzig Jahren eine massive Militarisierung des Gebietes, das direkt vom CIGEO betroffen ist, mit entsprechender Repression statt und auf der anderen Seite fliessen -zig Millionen an «Begleitzahlungen» in die Säckel der Gemeinden und kollaborationswilligen Grundbesitzer·innen.
Die demokratische Farce um die angeblich Protest-freie Anhörung wird auch vom Atomstaat unterlaufen: Parallel zur DUP lancierte Frankreich nämlich eine «Operation von nationalem Interesse» (OIN), mit der die Macht sämtlicher Kommunen der betroffenen Landkreise ausgehebelt wird. Mit Karotte und Peitsche wird also am grossen Loch gebaut, und da wo das Beteiligungsspektakel unzureichend erscheint, fallen die Masken des Zentralstaates, der in aller Ruhe seine autoritären Gesichtszüge zeigt.
Formen des Widerstands
Seit jeher setzt Frankreich alles daran, den Protest gegen seine Atompolitik zu verheimlichen, doch die Dynamik der letzten Jahre ist besonders in Bure nicht totzuschweigen. Noch im vergangenen Sommer trafen sich rund 1000 Atomkraft-Gegner·innen auf dem Gelände des ehemaligen Bahnhofs von Luméville. Gleisabschnitte, ein Depot des Endlagerkonzerns in Gondrecourt und mehrere Bohrstellen wurden im Laufe des Jahres sabotiert, während der Staat mit seinem Verfahren gegen vermeintliche Übeltäter·innen in Bar-le-Duc weitgehend auflief und medial wie auf der Strasse demontiert wurde. Auch wenn dies von den angeblich unabhängigen Komissar·inn·en für Öffentlichkeitsbeteiligung ignoriert wurde, gab es intensiven Protest rund um die DUP-Anhörung im Herbst letzten Jahres. Dabei kam es zu Blockaden der betroffenen Rathäuser mit Misthaufen und Strohballen sowie stundenlangen Auseinandersetzungen mit Hundertschaften der Polizei in Bure. Öffentliche Veranstaltungen der «Agentur für die Verwaltung radioaktiver Abfälle» ANDRA wurden in diesem Zusammenhang gesprengt – wie auch die Anhörung zur geplanten Umgehungsstrasse im Festsaal von Échenay.
Und der Widerstand gegen den CIGEO machte auch in diesem Jahr keine Pause. Ein bunter Karneval zog während dem Fest des Widerstandshauses «Maison de Résistance» im März durch Bure und Unbekannte verbogen Zuggleise auf dem Bauabschnitt der Castortrasse nahe Ligny-en-Barrois anlässlich des Fukushima-Jahrestages. Im Sommer brannten sowohl eine Umweltmessstation in Montiers-sur-Saulx als auch eine Bohrstelle bei Cirfontaines lichterloh. Am Bahnhof von Luméville beteiligten sich im Juli mehrere Hundert an einem «Barrikadenfest», um die Verteidigung des von Enteignung bedrohten Geländes vorzubereiten. Die dritte Ausgabe des Bure’lesque-Festivals der Widerstandsbewegung in Hévilliers erreichte im August mit 2.000 Menschen eine Rekordzahl an Besucher·inne·n.
Anfang September legte dann der juristische Arm des Widerstandes eine 200-seitige Klage gegen die DUP ein. In den umliegenden Dörfern entstehen immer mehr Wohnprojekte. Die landwirtschaftliche Kooperative «Les Semeuses»2 geht in ihr drittes Jahr und das soziale Zentrum «Augustine»(3) in Mandres ergänzt die bereits etablierten Orte: das Widerstandshaus «Bure Zone Libre» und den alten Bahnhof von Luméville «La Gare» als Treffpunkt für kulturelle Aktivitäten und Organisierung. Vom 28. bis 30. November wird das Verfahren wegen angeblicher Bildung einer kriminellen Vereinigung vor dem Berufungsgericht in Nancy eine Neuauflage erfahren. Dort ist erneut mit wütenden und kreativen Mobilisierungen zu rechnen. Während langfristig angelegte Projekte wie der Aufbau der «Augustine» oder etwa der landwirtschaftlichen Kooperative der ANDRA eine Belebung des Hinterlandes entgegensetzen und Aktivist*innen den Fortschritt des Bauprojektes durch Sabotage behindern, arbeiten Bürgerinitiativen und Vereine daran, die juristischen Grundlagen des CIGEO durch Klagen und Petitionen zu Fall zu bringen. Wie im Wendland(4) dürfte auch in Lothringen der Schlüssel eines erfolgreichen Widerstands in der Diversität der Taktiken liegen.
Luc Śkaille
Die Taxonomie sind EU-Richtlinien für «grüne» Investitionen. Sie verfolgt das Ziel, ein EU-weites Klassifizierungssystem für die Bewertung ökologischer Nachhaltigkeit von wirtschaftlichen Aktivitäten zu etablieren.
Les Semeuses: eine landwirtschaftliche Genossenschaft im Aufbau neben dem ANDRA-Labor
L'Augustine: Sozialzentrum im Bau in einem Nachbardorf.
Siehe Archipel Nr. 241, Oktober 2018: Wendland - Asylland