«Ich erinnere mich an die Zeit, als Rennes noch lebendig war, die Leute waren draußen, sie lebten miteinander. Es gibt einen schönen Ort, die Wiesen von St-Martin, er ist jedoch bedroht von städtischem Schein. Lasst uns zusammen die Gärten besetzen, Gemüse pflanzen und Feste feiern. Lasst uns zusammen die Gärten besetzen; das Rathaus kann uns nichts vorleiern!»
Ein kleines Lied, das in letzter Zeit hier oft geträllert wird, und ganz gut zusammenfasst, was mit den Wiesen von St-Martin in Rennes heute geschieht. Dieses Viertel von 28 ha, fünf Minuten nördlich vom Stadtzentrum, ist eine Mischung aus Wiesen, ca. 100 Schrebergärten aus den 30er Jahren, Hütten aus Wellblech und kleinen Häusern, die in den 40er Jahren ohne Genehmigung gebaut wurden. «Damals war Krieg, die Menschen wussten nicht, wo sie wohnen sollten. Viele zogen hierher, ganze Familien», erzählt Marcel, der Älteste im Viertel, «früher gab es hier Geschäfte, Cafés, Handwerker, wir badeten im Kanal …» Amélie, die letzte Bewohnerin der Schrebergartenzone, erzählt: «Ich habe eine gute Zeit hier verbracht, eigentlich mein ganzes Leben.» Auch heute leben hier noch die verschiedensten Menschen zusammen: GärtnerInnen, JoggerInnen, MüßiggängerInnen, permanente BewohnerInnen und gelegentliche BesucherInnen, legalisiert, toleriert oder illegal. Im Rathaus wurde jedoch beschlossen, hier einen «städtischen Naturpark» zu errichten. Dafür sollen die letzten Bewohner enteignet und die Schrebergärten verschwinden.
Es war bekannt, dass die Stadt Rennes sich so nach und nach das ganze Viertel unter den Nagel reißen würde - die Häuser und Gärten der alten PächterInnen und BesitzerInnen, die starben oder ins Altersheim zogen - um dann schließlich alle Häuser abzureißen. Es wird hier seit Langem eine Politik der Isolierung betrieben. Dazu Amélie und Marcel: «Das Viertel war schon immer von der Stadt bedroht. 1948 haben wir uns alle für die Installation von elektrischem Strom in unserem Viertel zusammen getan; der Ingenieur, der die Arbeit ausführte, wurde danach versetzt. Die BewohnerInnen waren isoliert und der Ort blieb lange Zeit von den Behörden vernachlässigt. Das Viertel wurde als ‘nicht empfehlenswert’ betrachtet. Aber genau das hat zu einem intensiven sozialen Leben hier geführt, zu einer Solidarität und einer offenen Geisteshaltung, die ausstirbt, weil die alten Menschen unter psychologischen und finanziellen Druck gesetzt werden, damit sie möglichst schnell ihren Lebensort verlassen und zum Sterben woanders hinziehen.» Außerdem wird das Gelände mit seinen brachliegenden Gärten immer wertloser, die Bewohner bekommen gerade noch eine kleine Entschädigung, Amélie werden für ihr Haus 9 Euro pro Quadratmeter angeboten. Und nachdem die BewohnerInnen und GärtnerInnen bewusst voneinander isoliert werden, indem sie die Parzellen, die seit mindestens drei Jahren brach liegen, nicht zusammenlegen dürfen, ist es natürlich schwierig, gemeinsam Widerstand zu leisten.
Großstadt-Expansion ohne Skrupel
Eigentlich hatte die Stadtregierung vorgegeben, sie wolle auf jeden Fall die Schrebergärten erhalten, deren Bewahrung sei «definitiv und unumstößlich» (Herr Gabillard, Abgeordneter aus dem Viertel wortwörtlich im Jahr 2002). Was sind also die Argumente für die plötzliche Kehrtwendung 2011, als sie in der Presse ankündigte, dass die Gärten - zu ihrem großen Bedauern - als solche nicht im Projektplan integriert sind. Zwei Gründe werden dafür angegeben: Die jährlichen Überschwemmungen und die Giftstoffe, die im Boden entdeckt wurden. Laut der GärtnerInnen von St-Martin sind weder das Argument der Bodenverschmutzung noch das der Überschwemmungen stichhaltig. Was die Giftstoffe betrifft, besagt die Bodenanalyse tatsächlich, dass in den Gemüsesorten, welche Schwermetalle aufnehmen, also Blattgemüse wie Salat und Spinat, eine höhere Konzentration von Blei nachzuweisen ist als durchschnittlich in der Bretagne. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass dieses Gemüse erst gesundheitsschädigend wird, wenn man es während dreißig Jahren täglich konsumiert. Es gibt also keine unmittelbare Gefahr für die GärtnerInnen. Dass sich die Stadtregierung des Argumentes der Umweltverschmutzung bedient, ist aber umso ärgerlicher, als man ja weiß, dass unter anderem sie selbst diesen Bleiüberschuss herbeigeführt hat, indem sie Bauschutterde anstelle von Gartenerde hier abladen ließ. Wessen Fehler ist es, wenn in der Erde gebrauchte Batterien zu finden sind? Abgesehen davon macht sich die Stadtregierung ja sonst auch keine großen Sorgen bezüglich der gesundheitsschädigenden, pestizidhaltigen Produkte, die in den Supermärkten ihrer Stadt verkauft werden. Bezeichnenderweise wurde die Bodenanalyse von denselben Leuten durchgeführt, die für die Planung und Einrichtung des zukünftigen Einkaufs- und Wohnzentrums, das direkt neben den Wiesen von St-Martin errichtet werden soll, zuständig sind. Die Wiesen liegen also mitten auf dem Weg vom Stadtzentrum zum Baugelände. Es ist natürlich im Interesse der Planungsgruppe, das «Elendsquartier», wie die Wiesen von der Stadtregierung gerne genannt werden, aus dem Weg zu räumen.
Was die jährlichen Überschwemmungen betrifft: Die GärtnerInnen haben sich bisher jedenfalls nicht beschwert. Sie haben längst gelernt, damit zurechtzukommen. Tatsache ist jedoch, dass das gesamte Viertel zu einer leicht überschwemmbaren Zone gemacht werden soll. Es geht darum, eine neue Feuchtzone zu schaffen, um eine andere zu ersetzen, die von der staatlichen Umweltplanung im Zuge eines Bauprojektes zerstört wurde. Ein 60 000 m3 großes «Hochwasser-Ausweitungs-Becken» soll gegraben werden, um so andere Zonen ganz trocken legen und zu Bauland erklären zu können. Unter dem Deckmantel der öffentlichen Gesundheit dienen diese Argumente also nur der Großstadt-Expansionspolitik von Rennes. Es liegt auf der Hand: Die Stadtregierung will in aller Ruhe die Kontrolle und Verwaltung dieses Ortes übernehmen, der in seiner ganzen Geschichte ziemlich unabhängig funktioniert hat. So etwas ist natürlich mit den Großstadtambitionen im Rathaus nicht vereinbar. Hier wird Gentrifizierung betrieben: das Jakobinerkloster soll zu einem Handelszentrum werden, Bars und andere Orte, die für alle kostenlos zugänglich waren und wo wir uns treffen konnten, sollen geschlossen werden. Die besetzten Häuser sollen abgerissen werden. Kurzum: Alles, was dem Image und der Fassade einer sauberen Handelsstadt schaden könnte, muss verschwinden.
In die Wiesen verliebt
Diese Strategie der Isolierung der BewohnerInnen, des angeblichem Vorkaufsrechts der Gemeinde, des Brachlegens der Gärten um dem Viertel das letzte Leben zu nehmen, damit die Menschen endlich klein beigeben und verschwinden, hat eine Gruppe von unbeugsamen GärtnerInnen dazu bewogen, sich zu wehren. Als erstes gründeten sie einen Verein, um in Diskussionen mit den Verantwortlichen, dem Gemeinderat usw. eine Lösung im Guten zu finden. Als das leider nicht möglich war, hatten sie die Idee, Leute einzuladen, die sich der leeren Gärten annehmen. Bei einem Treffen zwischen ihnen und uns, einer kleinen Gruppe von Freundinnen und Freunden, die sich im Maison de la Grève (Haus des Streiks)* engagieren, bekamen wir Lust, diese Idee zu konkretisieren und die Gärten wieder zu beleben. Nach drei öffentlichen Versammlungen im Februar und März 2012 entstand das Kollektiv Tous aux Prairies (Alle auf die Wiesen), ein Gemisch aus GärtnerInnen, Mitglieder von politisch aktiven Netzwerken und Vereinen, alten Mütterchen mit ihren Katzen, BewohnerInnen der Umgebung und Personen, die ganz einfach in die Wiesen verliebt sind. Als erstes hat das Kollektiv für den 31.März eine Demonstration und Besetzung der leeren Parzellen organisiert. Die Einladung war klar formuliert: «Kommt, Hacke und Spaten in der Hand, mit Samen, Schubkarren und Transparente. Auf geht’s, die verlassenen Gärten wieder zu kultivieren!» Nach einer kleinen Ansprache auf dem Rathausplatz («Die Gemeindeverwaltung findet das Viertel zu alt, zu hässlich und dem Standard nicht entsprechend…»), luden wir alle ein, sich das Wiesenviertel wieder anzueignen. Wir zogen gemeinsam los bis zu einem großen, brachliegendem Garten voller Obstbäume, den wir als kollektiven Garten für Alle auf die Wiesen ausgewählt hatten, und fingen gleich an, die Erde umzugraben, um danach auszusäen. Andere setzten sich derweilen ins Gras; mit einem Akkordeon wurde Stimmung gemacht. In der benachbarten Parzelle, unser zukünftiger Kartoffelacker, wurde Fußball gespielt. Andere Kollektive und Familien installierten sich in weiteren Gärten. Wir diskutierten viel und organisierten die nächsten Treffen. Ausgemacht ist, dass wir uns jeden Samstagnachmittag hier treffen und jeden letzten Sonntag im Monat eine Vollversammlung machen. Wir stellten Tische und Bänke auf, organisierten ein Picknick und bereiteten ein Abendessen vor. Nach dem gemeinsamen Essen versammelten wir uns um ein Feuer.
Welche Ökologie?
Wir haben viele verschiedene Gründe und Ideen für die Bewirtschaftung dieses Geländes: Gemüseproduktion für eine kollektive Kantine, gärtnern lernen, Selbstversorgung, Anbau von Heilpflanzen, Bau eines Brotbackofens, aufstellen von Bienenstöcken, eine kleine Grünfläche für Familien, die in Wohnungen leben. Wir möchten hier Diskussionen führen, gemeinsam Essen und Feste feiern. Das alles hat etwas mit Ökologie zu tun. Doch mit welcher? Von der Stadt ist geplant, alles hier dem Erdboden gleich zu machen, um angeblich zum «Ursprung der Wiesen von St-Martin zurück zu kehren». Wenn man hört, wie die ÖkologInnen, die für das Naturparkprojekt hier zuständig sind, behaupten, dass die Gärten kaum ökologischen Wert haben, fragt man sich, wie es so weit kommen konnte, dass im heutigen Konzept von Ökologie die menschliche Fauna keinen Platz mehr hat. Einen ökologischen Bezug zur Natur zu haben, heißt nicht, sie wie unter einer Käseglocke vor allen äußeren Einflüssen zu schützen, sondern mit ihr leben zu lernen, Teil ihrer Entwicklung zu sein. Die GärtnerInnen zu vertreiben, ihnen, unter dem Vorwand des Umweltschutzes, die Bewirtschaftung ihrer Parzellen zu verbieten, ist in gewissem Sinne nicht «ökologischer», als der Einsatz von Round-up, um die Disteln loszuwerden, die inmitten der Blumen wachsen. Die Schaffung eines «städtischen Naturparks», den kein Mensch wirklich nutzen kann, klingt für uns nach «grünem Kapitalismus» und seiner Ökologie der Oberflächlichkeit, die ein Gefühl von reiner und strahlend grüner Natur hervorrufen möchte, als könnte so das ökologische Desaster repariert werden.
Indem wir uns die Wiesen aneignen, nähern wir uns auch der bisher sehr abstrakten Frage: Wie kann man in einer Stadt dem kollektiven Bedürfnis von Nahrungsmittelproduktion gerecht werden? Diese Frage stellt sich umso dringender, wenn man weiß, dass die Bodenqualität auf dem Land unter anderem aufgrund der Pestizide, des exzessiven Pflügens und der Erosion inzwischen katastrophal ist. Warum sollen alle Plätze in einer Stadt, auf denen man etwas anbauen könnte, zu Bauland oder Naturparks werden? Wir könnten mit dieser Inbesitznahme versuchen, eine Eigenständigkeit in der Ernährung, im Gegensatz zur kapitalistischen Produktions- und Verteilungsweise, zu entwickeln. Bei diesem materiellen Unabhängigkeitsbestreben dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass wir eine kämpferische Gemeinschaft sind, die sich in öffentliche Angelegenheiten einmischt und das, was sie an Missständen ans Licht bringt, zu verbessern sucht. Diese Aneignung der Wiesen ist also auch an die Notwendigkeit gebunden, Möglichkeiten für eine vom Kapitalismus unabhängige Produktionsweise und Konsumierungsart in der Stadt zu erschließen. Je weniger direkt wir mit unserer Umwelt und deren Lebensquellen verbunden sind, desto abhängiger werden wir von den äußeren Strukturen, die uns kontrollieren. Dieser Kampf ist eine Gelegenheit, nach und nach dem Landschaftsgestaltungsprojekt der Gemeinde und der Entfremdung von unserer Umwelt und ihren Subsistenzmöglichkeiten entgegen zu wirken. Das geht nur, wenn wir uns auch gegen andere Abschiebungen aus Arbeitergärten und aus den Vierteln im Zentrum von Rennes wehren, wenn wir die LandarbeiterInnen in Andalusien bei ihrer Landbesetzung unterstützen, die BesetzerInnen der Landwirtschaftsflächen im Stadtzentrum von Dijon, den Widerstand gegen den Flughafenbau in Notre-Dame des Landes oder den gegen die Hochgeschwindigkeitsbahn in Val Susa in Italien. «BEFREIEN WIR LAND!»
* Haus des Streiks ist der Name einer Bewegung, die eine Loslösung vom Kapitalismus realisieren und den Streik auf alle Aspekte des Lebens ausweiten möchte. Sie ist im Jahr 2010 während der Besetzung des ehemaligen Gebäudes der Gewerkschaft CFDT zur Zeit der Streiks um die Rentenreform in Frankreich entstanden. Jetzt existiert sie in einem gemieteten Lokal, wo sich Widerstand organisiert, es aber auch eine Kantine, einen Laden für kostenlose Artikel, eine Volksuniversität und anderes gibt