Am Internationalen Tag gegen die Gewalt an Frauen, dem 25. November, demonstrierten im Jahr 2021 in allen Bundesländern Mexikos Frauen gegen Femizide, Misshandlungen sowie das Verschwinden von Frauen. Allein in der Hauptstadt marschierten 1500 Frauen durch die Strassen und schrien „si tocas a una, respondemos todas“ (wenn du eine anfasst, antworten wir alle).*
Die zu hunderten vor dem Regierungspalast deponierten rosa Kreuze sowie Transparente mit Bildern und Geschichten der betroffenen Frauen symbolisieren einen traurigen Rekord des Jahres. Von Januar bis Oktober 2021 wurden in Mexiko laut UNO insgesamt 3168 Frauen ermordet. Das entspricht durchschnittlich über zehn Morden an Frauen pro Tag. Im Vergleich zum Jahr 2015 hat sich diese Zahl laut Studien des Staatssekretariats für Nationale Sicherheit (Secretariado Ejecutivo del Sistema Nacional de Seguridad Pública) verdoppelt, wobei die Zahl über die Jahre kontinuierlich angestiegen ist.
Zwischen Januar und September 2021 registrierte die nationale Notfallnummer 911 mehr als eine halbe Million Anrufe wegen häuslicher Gewalt und zwischen dem ersten Dezember 2018 und dem 7. März 2021 wurden laut der „Nationalen Kommission für die Suche vermisster Personen“ insgesamt 4267 Frauen als vermisst gemeldet, die Mehrheit davon zwischen 15 und 19 Jahren jung. Die Pandemie erschwert die Situation der Frauen zusätzlich, wie Umfragen der UNO bereits Anfang 2020 gezeigt haben.
Angesichts dessen mutet es trügerisch an, wenn die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Scheinbaum, anlässlich des Zweiten Jahresberichts zum „Dekret über die Gewalt an Frauen“ davon sprach, dass im letzten Jahr die Femizide in der Hauptstadt im Vergleich zum Vorjahr um 22 Prozent gesenkt worden seien. Scheinbaum führte dies auf zahlreiche Massnahmen der aktuellen Regierung zurück, insbesondere auf die Einführung des „Gesetzes zur Durchführung von Sofortmassnahmen im Falle frauenfeindlicher Gewalt“.
Auch der Versuch des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, die erhöhte Zahl der Femizide der letzten Jahre damit zu erklären, dass man vor seiner Amtszeit wenige Morde dieser Kategorie zugeordnet habe, überzeugt kaum, wenn man beachtet, dass die als «vorsätzliche Tötung» deklarierten Morde an Frauen gleichermassen zugenommen haben.
Neben dem Anprangern von Gewalt an Frauen fordern Feministinnen in Mexiko, dass die Legalisierung der Abtreibung auf alle mexikanischen Bundesstaaten ausgeweitet wird, Fälle von Gewalt gegen Frauen strafrechtlich verfolgt und Bedingungen geschaffen werden, die es erlauben, in Würde und Gleichberechtigung leben zu können. Es ist ein Kampf, der täglich stattfindet und somit über die medialen Bilder der Besetzung der Nationalen Menschenrechtskommission, über die Graffitis auf historischen Denkmälern oder die Hashtags auf Social Media hinausgeht. Der Kampf der mexikanischen Frauen ist vielfältig und kollektiv. Um zu verstehen, welche Tragweite er im Leben feministisch aktiver Mexikanerinnen hat, gilt es, ihn in seiner Ganzheit zu betrachten. Der Kampfschrei „Nos queremos vivas“ (Wir wollen uns lebendig) bildet dabei den gemeinsamen Bezugspunkt aller Gruppierungen, Kollektive und Frauen.
„Wir bitten Sie darum, uns nicht zu töten“
„Die Märsche in Mexiko sind eine Gelegenheit, darum zu bitten, uns nicht zu töten. Ich verstehe immer noch nicht, warum ich das jedes Jahr rufen muss“, sagt die Dozentin für Kulturwissenschaften Benelli Velázquez Fernández. „Als ich in Wien war, war ich beeindruckt davon, dass die Slogans den Gehältern und Arbeitsplätzen galten, aber niemand trug Transparente mit Namen von verschwundenen Frauen“, fügt sie an. Dies brachte die junge Frau dazu, zu erkennen, dass sie als mexikanische Frau die Angst verinnerlicht hatte. Seitdem bezeichnet sich Velázquez Fernández als Feministin. „Meinen Freundinnen und Freunden dort habe ich versucht zu erklären, dass Leben in Mexiko bedeutet, immer wachsam zu sein“, ergänzt sie.
Die Doktorandin in Migrationsstudien arbeitet derzeit mit Müttern aus Mittelamerika, die sich dazu entschliessen, Mexiko zu durchqueren in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den USA. Diese Gruppen werden dabei bereits in Mexiko selbst zu einer unsichtbaren Gruppe, die vielen Gefahren ausgesetzt ist und der es an Unterstützung und Sicherheitsnetzwerken fehlt. „Studien zeigen, dass viele Migrantinnen die Antibabypille zum Schutz nehmen, weil sie wissen, dass sie auf dem Weg vergewaltigt werden und dabei nicht schwanger werden wollen“, sagt Velázquez. Der Kampf als Migrantin in Mexiko sei nochmals deutlich prekärer. „Es ist der Kampf gegen die institutionelle Ausgrenzung, die Kartelle, die Banden, die dich verfolgen, und all die Männer, die dich als verletzlich ansehen und sexuelle Gefälligkeiten von dir verlangen“, ergänzt sie.
Errungenschaften in den letzten Jahren
Die aktuelle mexikanische Frauenbewegung ist entstanden als unmittelbare Reaktion auf die Aufdeckung einer Reihe von Morden an Frauen im Jahr 1993, deren Leichen in der Wüste von Juárez gefunden wurden. Dieses Ereignis eröffnete die Debatte über Frauenmorde in Mexiko, bewirkte die rechtliche Klassifizierung von Femizid als Verbrechen und löste eine Reihe von Anklagen aus. Die Geschichte des Kampfes für Frauenrechte in Mexiko hatte jedoch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen – während der mexikanischen Revolution.
Die Sexualpädagogin Pamela Burgos forscht an der „Nationalen Autonomen Universität von Mexiko“ zu Gewalt an Frauen und erinnert sich an die legislativen Errungenschaften im Land, die aus feministischen Kämpfen hervorgegangen sind. Als Beispiel nennt sie etwa, dass 2007 Mexiko-Stadt der erste Ort Lateinamerikas gewesen sei, an dem Abtreibung entkriminalisiert und legalisiert wurde. Im gleichen Jahr wurde mit dem „Grundgesetz zum Zugang der Frau zu einem Leben frei von Gewalt“ auch ein weltweit einzigartiger Schutzmechanismus festgelegt, der Sofortmassnahmen festschreibt, um der frauenfeindlichen Gewalt entgegenzutreten. Letztes Jahr wurden zwei weitere bahnbrechende Gesetze erlassen, welche die digitale Verbreitung sexueller Inhalte ohne das Einverständnis der dargestellten Personen und die Mediatisierung von Bildern von Gewaltopfern verbieten.
Burgos stellt fest, dass auch Mexikanerinnen der Mittelschicht, welche Zugang zu Sexualerziehung und feministischen Theorien haben, im Alltag kaum mit sexistischen und patriarchalen Praktiken brechen können: „Wir sind die Töchter des Versprechens der Gewaltlosigkeit. Wir glauben an Änderungen in unseren Beziehungen und Bindungen, aber diese treten nicht ein.“ Denn dafür seien die Dekonstruktion gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen sowie Selbstliebe nötig, „was uns nie beigebracht wurde“, meint die Psychologin. In der Akademie wiederum besteht laut der Historikerin Adriana Cortés ein starkes Wettbewerbsverhalten unter weiblichen Akteurinnen, was durch die „gläserne Decke“(1) noch gesteigert wird. „So perpetuieren Akademikerinnen Machostrukturen und -praktiken“, bemerkt Cortés. Zusammen mit Burgos fördert sie deshalb Mentorate unter Akademikerinnen und den Austausch von persönlichen Erfahrungen.
Defizite des mexikanischen Rechtssystems
Tania Osiris ist unter anderem Mitglied des mexikanischen Kollektivs „Divulvadoras“, welches Informationen und Hilfestellungen zu verschiedensten Themen rund um die Verletzung von Menschenrechten an Frauen anbietet. Die Aktivistin beschreibt ihre persönliche Demonstrationserfahrung als „kathartisch, weil wir den Hass und die Frustration darüber, in einem machistischen und frauenfeindlichen System zu leben, herausschreien können“. Gleichzeitig empfinde sie Hoffnung, wenn sie die Frauen und jungen Leute sehe, die gemeinsam für ein besseres Leben demonstrieren.
Osiris ersetzt mit ihrer Begleitung von tabuisierten und im Bundesstaat Morelos illegalen Abtreibungen eine nicht vorhandene Institution. „In meiner Arbeit als Aktivistin habe ich erkannt, welche Defizite das mexikanische Rechtssystem in Bezug auf die Unterstützung von Frauen aufweist“, sagt die Feministin. „Die Prozesse in Mexiko sind viktimisierend und korrupt.“ Osiris war Teil der Bewegung, die im Senat die Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung im Bundesstaat Morelos erreicht hat.
Im südlichen Teil des mexikanischen Bundesstaates Morelos, einem der Gebiete mit den meisten verschwundenen Frauen in dieser Region, arbeitet die Lehrerin Yaretzi De Jesús Moreno. Sie hat mit ihren Studentinnen Gruppen und Foren zu den Themen Feminismus, Gender und Gewalt gegen Frauen gegründet. Ihre feministische Arbeit findet vor allem im Unterricht statt. „Man muss nicht unbedingt bei den Märschen und Protesten dabei sein, um eine Feministin zu sein“, sagt sie. Manchmal sei es aufgrund der Umstände notwendig, nach alternativen Wegen zu suchen, um das Problem und den Kampf sichtbar zu machen. „In meinen Kursen versuche ich, das kritische Hinterfragen zu fördern und sich wiederholende sexistische Muster aufzuzeigen“, fügt sie an. Der Grund dafür, dass De Jesús weiterkämpft, sei die Möglichkeit, junge Frauen in gefährdeten Situationen zu unterstützen und zu begleiten. Frauen also, die angesichts der fehlenden Vertrauenswürdigkeit der Institutionen bei ihr einen sicheren Raum finden.
Künstlerische Ansätze des Feminismus
Der Kunstbereich in Mexiko ist als besonders machistisch und misogyn bekannt. Die Kulturmanagerin Adriana Cortés berichtet davon, dass sie in geschäftlichen Angelegenheiten nicht ernst genommen und aufgrund ihres Äusseren bewertet werde. Jedoch sieht sie in feministischen Künstlerinnen wie Larissa und Isadora Escobedo Vorbilder für jüngere Generationen, die in ihnen eine klare soziale und politische Positionierung im Bereich der Kunst und des Kuratoriums sehen: „Aus der Intersektionalität heraus wachsen Widerstände und Aktionen gegen alte Machopraktiken.“ Die lesbofeministische Liedermacherin Amastísta Lía von „Nosotras Compañía“ begleitet vergewaltigte Frauen und Frauen, die ihre verschwundenen Töchter suchen. Sie schreibt systemkritische und feministische Lieder.
„Es kam eine Zeit, in der mir der Schrei ‚Ni una menos‘ (Nicht eine weniger) nicht mehr genügte. Der Schmerz und die Hilflosigkeit, die ich fühlte, brachten mich dazu, Lieder des Spottes zu schreiben“, so Lía. Sie singt über das patriarchale System und über die feministische Agenda selbst. „Die Kunst erlaubt mir, mich von all der Feindseligkeit zu reinigen, die die Welt uns bietet, und Grenzen zu überschreiten“, erklärt die Künstlerin.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Den Feminismus in Mexiko aktiv zu leben, ist sehr anstrengend, darin sind sich alle Interviewpartnerinnen einig. Die unterschiedlichen Diskurse und Praktiken, die aus den Erzählungen ersichtlich werden, zeigen die Vielfalt der feministischen Bewegung in Mexiko auf, und zwar sowohl in Bezug auf die Ziele als auch die Wege, die gegangen werden, um Fortschritte bei den Frauenrechten zu erreichen. Dennoch gibt es in den verschiedenen Gruppen die Tendenz, diese Ansätze zu homogenisieren. Burgos steht dem kritisch gegenüber: „Der Versuch, die feministische Bewegung kontrollieren zu wollen, ist ein patriarchaler Ansatz. Sagen zu wollen, was zu tun ist, oder zu versuchen, die Frauen, die Teil der Bewegung sind, zu intellektualisieren – all das bedeutet Ausübung von Gewalt“, meint die Aktivistin.
Zu den drei Grundpfeilern, welche alle Untergruppen der feministischen Bewegung in Mexiko trotz deren Heterogenität gemeinsam haben, gehört erstens der Wunsch, eine bedingungslose Unterstützung und Gemeinschaft unter Frauen zu schaffen, zweitens das Ziel, die Sofortmassnahme-Regelung bei Gewalt an Frauen zu einer Priorität in der Regierungsagenda zu erheben, und drittens, in den Worten von Tania Osiris, dass „jeder Fall eine Bewegung auslöst, die in einer Gesetzgebung gipfelt“.
Katja Willi Gymnasiallehrerin für Deutsch Lila Gutiérrez Anthropologin, Gymnasiallehrerin für Geschichte
*Dieser Artikel wurde von der Schweizer Internetzeitung „Das Lamm“ übernommen und von den Autorinnen aktualisiert.
(1) Der Begriff des „glass ceiling“ wurde in den 1970er Jahren in den USA geprägt. Damit „sind alle […] subtilen, nicht oder kaum wahrnehmbaren Mechanismen gemeint, die verhindern, dass Frauen Einzug in die Chefetagen halten“. (FUNKEN 2005, S.1)