Basel, den 25. März 2009
Liebe Freundinnen und Freunde,
Vor wenigen Tagen sind wir von einer Delegationsreise in die Flüchtlingslager der Westukraine zurückgekommen. Die BürgerInneninitative "Comité d'Aide Médicale de Transcarpatie" hatte uns eingeladen. Im letzten Herbst war das Grosslager in der Ortschaft Pawschino in Transkarpatien auf Grund internationaler Kritik geschlossen worden. In diesem Lager waren die Flüchtlinge interniert, welche von den angrenzenden EU-Ländern in das Armenhaus Ukraine abgeschoben werden. Sie waren dort eingepfercht, im Sommer und im Winter, zum Teil in Zelten. Seit der Schliessung dieses Lagers wurde es wieder ruhig um die Flüchtlinge.
Dieser Ruhe konnten wir nicht trauen. Wo sind die Flüchtlinge heute? Europa schiebt sie weiterhin in die Ukraine ab. Für immer mehr Flüchtlinge ist die Ukraine auf dem Weg in den Westen die Endstation. Die Ukraine grenzt im Westen an die EU-Länder Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien. Alle schicken Flüchtlinge zurück. Unsere Freundinnen und Freunde vor Ort hatten Hinweise, diesen wollten wir nachgehen. Das Gesehene hat uns erschüttert.
Am Dienstag, den 10. März, besuchen wir ein Sammellager in der Garnison der ukrainischen Grenzwacht in Chop an der Grenze zu Ungarn. Bis jetzt hatte kaum jemand Zugang zu diesem Lager. Das Verhandlungs-geschick unserer Partner vor Ort ermöglicht überraschend den Besuch. In Begleitung von Caritas-VertreterInnen der lokalen Uniatischen Kirche treffen wir den Major des Grenzwachtkorps, der uns im Kasernenareal herumführt. Als erstes führt er uns in einen Pavillon, der mit Mitteln der EU und von Caritas Österreich renoviert wurde. Wir passieren die Wachtposten. Links im Gebäude befindet sich der Frauentrakt und rechts der Sektor für die Männer. Der Offizier zeigt uns bei den Frauen die gemeinsame Küche und die Zimmer. Nur eine ältere Frau aus Moldawien befindet sich hier, sie sitzt schweigend und zusammengesunken auf ihrem Bett. Eine verschlossene Türe führt auf einen vergitterten Hof hinaus: "Für die Kinder".
Ein Gittertor wird aufgeschlossen, der Männertrakt. Die Luft ist stickig. Ein enger Mittelgang, links und rechts je 4 bewohnte Zellen mit dicken Stahltüren für 3-4 Personen. Zwei stehen leer. Aus kleinen Gucklöchern von der Grösse einer Postkarte starren uns erwartungsvolle Augen ängstlich an. Wir können mit einigen Flüchtlingen durch das Loch reden. Zwei junge Georgier sind seit über drei Monaten hier, der eine isst fast nichts mehr, der andere beklagt sich über das untrinkbare Wasser. Ein Mann aus Pakistan fragt, wann er endlich einen Asylantrag stellen könne. Im ganzen Pavillon hat es Platz für 44 Personen, wir sehen höchstens 20 Menschen. Uns war aber am Anfang die Zahl der Insassen mit 120 beziffert worden. Wo sind die anderen? Wir fragen nach. Wir insistieren mehrmals gegenüber dem Major, dass wir auch die anderen sehen wollen. Nach längerem Zögern werden wir in einen anderen Bau geführt.
Ein Grenzsoldat in Kampfuniform öffnet das Gitter. Wir sind in einem dunklen Gang - eine Strompanne. Zel-lentüren werden geöffnet, nach und nach strömen junge Männer in den Gang, stehen vor uns, um uns herum. Menschen aus Somalia, dem Irak, Eritrea, Palästina, Tschetschenien, Afghanistan. Ein Palästinenser redet gut Französisch. Er fleht uns an: Sie sind 27 Personen in einer Zelle von ca. 5 auf 5 Meter, vier Stockbetten auf 3 Etagen. Sie müssen sich abwechseln zum Schlafen. Miserables Essen, kein sauberes Wasser, kein Warmwasser, keine Duschen. Um auf die Toilette zu gehen, müssen sie die Wärter fragen. Es gibt vier Zellen im Trakt mit insgesamt über 100 Personen. Nur zwei Mal im Monat werden sie in den Innenhof der Kaserne an die frische Luft gelassen, obwohl man in den stickigen Räumen kaum atmen kann. Ein Jurist kommt alle zwei Wochen. Von ihren gestellten Asylgesuchen hat niemand im Lager wieder etwas gehört.
Die Kassen des ukrainischen Staates sind leer. Er kann kaum für den Sold der eigenen Grenzsoldaten aufkommen. Die lokale Caritas stellte bisher praktisch die Versorgung der Internierten sicher: Das Hilfswerk brachte Trinkwasser in Flaschen, Lebensmittel, Kleider, Schuhe, Hygieneartikel und Medikamente. Sie zahlte ebenfalls eine Sozialarbeiterin und den Besuch des Juristen. Die Mittel der örtlichen Caritas sind jetzt jedoch ebenfalls erschöpft, weil keine EU-Gelder mehr fliessen. Niemand weiss, wie es weitergehen soll.
Am selben Tag treffen wir den lokalen Migrationsdelegierten vom Ministerium für Minderheiten und Religionen in Uschgorod, der Hauptstadt der Region Transkarpatien. Er versichert uns, dass in der letzten Zeit keine Asylgesuche mehr von Flüchtlingen aus dem Internierungslager der Grenzwacht in Chop bei ihm ankommen. Dieses sei dem Armeeministerium unterstellt, und er hätte keine Kontakte im Lager.
Später sehen wir fünf Flüchtlinge aus Somalia, die es geschafft hatten, schon vor längerer Zeit ein Asylgesuch zu stellen. Dadurch erhielten sie eine provisorische Aufenthaltsbewilligung, haben aber keinerlei Chance auf Asyl. Sie dürfen nicht arbeiten und bekommen keine Unterstützung. Sie wohnen zu neunt in einem winzigen Raum. Fast täglich werden sie von der Polizei durchsucht und schikaniert. Sie trauen sich kaum auf die Strasse aus Angst vor rassistischen Übergriffen. Ihre Stimmen stocken, sie haben Angst und wollen nicht weiterreden.
Zwei Tage später fahren wir 500 km ins Landesinnere nach Luts'k. Hier wurde nach den Plänen der "IOM" ein Musterlager errichtet (die "IOM" ist eine zwischenstaatliche private Organisation, welche zum Beispiel im Auftrag Australiens die Internierungslager für Bootsflüchtlinge auf abgelegenen Pazifikinseln betreibt). Das ukrainische Lager befindet sich weit abgelegen in einem sumpfigen Wald auf einer ehemaligen sowjetischen Atom-Raketenbasis. Das Areal ist von einer hohen weissen Mauer mit glänzendem Stacheldraht umgeben. Die Gebäude sind frisch renoviert; alles wirkt sauber und steril. Ein perfektes Gefängnis, dem Innenministerium unterstellt, mit Polizisten, aber auch mit grimmigen privaten Wächtern in schwarzen Uniformen und langen Schlagstöcken. Frauen in gestärkten weissen Kitteln wandeln durch die Gänge wie in einer Klinik.
Ein moderner Gulag. Das Lager ist für 180 Flüchtlinge geplant, doch es sind nur 29 Menschen interniert. Wir erfahren, dass auch hier das Geld fehlt, um mehr Insassen zu ernähren. Der Westen finanzierte nur den Umbau. Die Flüchtlinge bleiben maximal 6 Monate im Lager und werden dann freigelassen - ohne Unterkunft und Geld - irgendwo draussen in der Landschaft. Wir werden in einen Bau zu den Flüchtlingen geführt: Sie sitzen in einem vergitterten Aufenthaltsraum, wirken wie gelähmt. Unter den Augen der Wärter wollen sie nicht mit uns reden, sie haben Angst. Was geschieht mit diesen Menschen, die das reiche Europa zurückschickt? Was ist die letzte Konsequenz dieser Politik? Wir verlassen diesen Ort mit einer Gänsehaut.
Endstation Ukraine.
Was können wir tun? Auf unserer Reise haben wir mehrere Initiativen kennen gelernt, welche Keimzellen einer künftigen Zivilgesellschaft sind. Dank ihnen gibt es lokale Entwicklungsprojekte mit der einheimischen Bevölkerung, dank ihnen wird der Menschenhandel bekämpft, dank ihnen konnten wir die Lager besuchen. Sie sehen die Flüchtlingsnot und wollen etwas tun. Wir müssen sie dabei unterstützen, sie brauchen uns. Helfen Sie mit! 100 Franken sind vor Ort bereits sehr viel Geld.
Sofort: Es braucht dringend Trinkwasser, Essen, Kleider und medizinische Versorgung für die Flüchtlinge im Lager von Chop, sowie eine unabhängige juristische Beratung in den Lagern und ausserhalb von ihnen. Es braucht einen Notfonds für die mittellosen Flüchtlinge in den Städten. (Soforthilfe und Verwaltung des Notfonds in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen vor Ort).
Mittelfristig: Wir wollen den Aufbau von "Offenen Zentren" und Anlaufstellen fördern, wo die Flücht-linge Rat einholen, medizinische Betreuung erhalten und sich in Ruhe untereinander treffen können, als Alternative zu den Lager-Gefängnissen. Zusätzlich ist die Sensibilisierung der Menschen vor Ort für die Not der Flüchtlinge dringend nötig, um fremdenfeindlichen Ausschreitungen vorzubeugen.
Langfristig: Eine breite politische Kampagne bei uns und in den europäischen Ländern mit dem Ziel, Ausschaffungen in die Ukraine ganz zu stoppen. Ein ausführliches Dossier für Flüchtlingsorganisationen und Medien ist in Vorbereitung und kann bei uns bestellt werden.
Wir wollen nicht zusehen, wie die reichen Staaten Europas Flüchtlinge einfach den ärmeren Nachbarn vor die Türe kippen und sie dort der Misere und Willkür überlassen.
Wir danken Ihnen für Ihre Solidarität
und verbleiben
mit freundlichen Grüssen
Claude Braun
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