In Tunesien gibt es, wie in anderen Ländern auch, Bewegungen und Tendenzen, die sichtbar und in den Medien präsent sind und andere, die sich im Untergrund abspielen.
Aus Anlass des Weltsozialforums wurde von einer Gruppe, die sich die Ungehorsamen nennen, ein Boykottappell lanciert. Diese, sich Anarchist_innen nennende Gruppe, hat auf dem Gelände des Forums einen Platz besetzt und ein improvisiertes Zeltlager mit einer selbstverwalteten Küche eingerichtet. Diese Ungehorsamen prangerten das Sozialforum als Forum des Kapitals an. Die Kritik scheint durchaus berechtigt, schaut man sich die Sponsoren dieses Anlasses, wie etwa die stark präsente Tunisie-Telecom, an. Ein weiterer Kritikpunkt war die Rolle des Staates. Die Teilnehmenden am Forum, insbesondere die Organisationen, die an Workshops oder Konferenzen und Debatten teilgenommen haben, sind in der Mehrzahl für eine Stärkung des Staates gegenüber dem Markt und lassen dabei außer Acht, dass dies zwei Seiten derselben Medaille sind. Der von den Ungehorsamen besetzte Platz war am Anfang recht klein, hat sich aber während des Forums immer weiter vergrößert. Am letzten Tag fand eine Versammlung statt und ich war erstaunt, wie gut besucht sie war. Meiner Schätzung nach waren es ungefähr 200 Personen.
Verbindung zum Fussball
Beim Diskutieren mit den Leuten dieser Gruppe kamen die Grundprinzipien des Anarchismus klar heraus und man konnte meinen, irgendwo in Europa zu sein. Was das Überraschendste war und schon fast exotisch wirkte, war die starke Verbindung zum Fußball und deren Stadien. Die Stadien waren schon unter Ben Ali Orte der Meinungsfreiheit und der Politisierung. So kommt es, dass eine Menge an politischer Basisarbeit über die Clubs und deren Fan-Gemeinden geschieht. Ein hier vermitteltes, nicht unwesentliches Know-How ist zum Beispiel, wie man sich gegenüber der Polizei verhält. Durch die Medien als Hooligans kriminalisiert und regelmäßig in Konflikte mit den Ordnungskräften verwickelt, melden sich diese Fan-Clubs mittels Graffitis in der ganzen Stadt zu Wort und fordern die Freilassung von Inhaftierten. Ihre Unterschriften lauten etwa «Zapatista 2008» oder «Torcida curva sud» und werden ausgeschmückt mit dem bekannten ACAB1 oder dem A und dem V im Kreis. Das V steht für Vendetta2 und wird in Kombination mit der Guy Fawkes Maske der Anonymus-Welle benutzt. Das kann nachdenklich stimmen, wenn man an die oftmals naziverseuchten Fan-Kreise bei uns denkt. Als Folge der letzten Auseinandersetzungen bei der tunesischen Meisterschaft finden die Spiele zur Zeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt...
Sogar Salafisten singen Rap
Den Untergrund findet man jedoch längst nicht nur in den Stadien. Musik war oft ein Mittel um für Veränderungen zu kämpfen und Tunesien bildet da keine Ausnahme. Rap, Reggae und Drum’n’Bass sind, soviel ich verstanden habe, die Hauptströmungen des Kampfes gegen das System. Aber große Vorsicht ist geboten, wir dürfen nicht automatisch unsere Maßstäbe auf diese Kultur übertragen. Es gibt salafistischen Rap! Na klar, Rap ist ein Mittel, um gegen das System zu protestieren, die Salafisten machen dies ja auch auf ihre Weise und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass es da Synergien gibt.
Rapper sind einer gewissen Repression ausgesetzt. Kürzlich war es Weld 15 der von sich reden machte mit seinem Clip, in dem scharfe Worte gegen die Polizei vorkommen3. Es gab zwei Verhaftungen und nur einige Tage Vorbereitungszeit für den Prozess. Der Autor der Texte konnte sich der Verhaftung durch Untertauchen entziehen. Die Justiz hat sich auf den Regisseur des Clips und eine junge Frau gestürzt, die zufällig während der Dreharbeiten da war: Sechs Monate Haft auf Bewährung. Weld 15 wurde in Abwesenheit zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, ebenso wie einige andere Rapper, deren Namen im Abspann auftauchen... Weld 15 kündigte daraufhin an, dass er im Abspann des nächsten Clips dem Präsidenten, dem Chef der Ennahda-Partei danken wird, damit dieser auch in den Genuss solcher zwei Jahre kommt.
Singen gegen das System
Die Rapszene ist in den weniger schicken Quartieren sehr populär. Insbesondere ist mir Z five aufgefallen, die sich nach ihrer Straßenbahnhaltestelle, der Zone 5 nennen. Ihre Texte wenden sich gezielt gegen den Staat und die Polizei. Sie selber nennen sich Gegner des Systems. Einige waren es schon unter Ben Ali und sie sind es unter der jetzigen Troika noch immer. Eine Diskussion anzufangen über die Frage, was es ausmacht gegen das System zu sein, scheint mir etwas leichtsinnig zu sein. Vielleicht lag es auch nur an der Sprachbarriere, ich kann kein Arabisch, und somit war es möglicherweise eher ein Kommunikationsproblem. Es würde sich lohnen, in diese Szene einzutauchen, um sie besser zu verstehen, und insbesondere die verschiedenen Tendenzen des tunesischen Raps zu erkennen. Ich kann mir einen bärtigen Fundi mit einem guten «Flow» irgendwie schwer vorstellen.
Angehörige ohne Nachricht
Ich möchte noch von einer anderen Gruppe sprechen, die ich zum Untergrund zähle, weil man wenig von ihr spricht. Es betrifft im wesentlichen junge Männer und es ist eine richtige Bewegung, die auch beängstigende Seiten hat. Es handelt sich um die so genannten «Harragas» die Grenzdurchbrecher. Die Möglichkeit zu emigrieren oder zu reisen ist seit dem Ende der Diktatur größer geworden, aller-dings nur für jene, die das nötige Geld haben und ein Visum bekommen. Hier ist übrigens das französische Konsulat, umgeben von zwei Reihen modernstem Stacheldraht und Soldaten, ein exzellentes Anschauungsobjekt der Festung Europa. Das Konsulat lässt sich die Visa übrigens bezahlen, auch diejenigen, die abgelehnt werden. Da also Frankreich, wie ganz Europa, Migrant_innen zurückweist, versuchen viele auf illegale Weise mit klapperigen Schiffen Richtung Lampedusa zu kommen. Dabei gibt es zahlreiche Schiffbrüche. Viele Familien bleiben über das Schicksal ihrer Angehörigen, die weggegangen sind, im Unklaren. Eine Vereinigung kümmert sich um diese Familien. Sie verlangen Auskünfte von den Behörden über die Schiffbrüche und fordern eine Stellungnahme. Es gibt tatsächlich den Verdacht, dass sowohl die italienische, als auch die tunesische Seite diese Schiffbrüche hinnehmen, wenn nicht sogar fördern. Diese heikle Frage nimmt immer mehr Platz ein und ich weiß nicht, wie man an Informationen kommen kann, außer die Überlebenden zu fragen und jene, die den Familien der Umgekommenen diese Nachricht übermitteln. Eine Organisation spricht von 19.600 Menschen die seit 1995 beim Versuch, übers Meer nach Europa zu kommen, ums Leben kamen. Diese Angabe liegt weit unter den tatsächlichen Todesfällen, denn das sind nur die dokumentierten Toten, bei denen Vor- und Nachnamen bekannt sind. Es scheinen sehr viele mehr zu sein.
- «All cops are bastards.» Obwohl auf Englisch, ist dieser Spruch häufig anzutreffen und auf der ganzen Welt verbreitet.
- Vendetta ist ein Comic und ein Film, die von einem dystopischen Anarchisten handeln, der sich V nennt und Aktionen macht, die den Herrschaftsapparat destabilisieren sollen. Er trägt die Maske von Guy Fawkes. (Fawskes hat versucht, das britische Parlament in die Luft zu sprengen.)
- Sätze wie «Polizisten sind Hunde.» «Ich schlitze einem Bullen die Kehle auf anstelle eines Schafes.»