Der seit 30 Jahren andauernde Widerstand gegen eine zusätzliche Bahnstrecke im Val de Susa in Italien soll jetzt endgültig gebrochen werden. Vier der Protestierenden sind wegen Terrorismus angeklagt
1991 kam im Rahmen des gerade entstandenen europäischen Verkehrsnetzes HSR1 der Vorschlag einer TGV-TAV2-Strecke zwischen Turin und Lyon, parallel zu der bereits bestehenden Bahnlinie durch die Alpen, welche durch das Val di Susa führt. Die Strecke fällt in das Projekt TEN (Trans-European-Network) der Europäischen Union, genauer genommen der Axe PP6 zwischen Lyon und der ukrainischen Grenze. Das Projekt TEN setzt keine Höchstgeschwindigkeitslinien voraus, trotzdem einigten sich die französische und die italienische Regierung auf diese Technologie.
Die Bauarbeiten hätten planmäßig in der zweiten Hälfte der 90er Jahre beginnen sollen. Aufgrund des massiven Widerstandes konnten bis jetzt aber nur einige Sekundärstrukturen aufgebaut werden. Schätzungen zufolge wird das Projekt frühestens im Jahr 2030 beendet sein. Es sollen zwei parallele Tunnel mit einer Länge von 56 km in einer maximalen Tiefe von 2 km gebaut werden. Daneben wird es mehrere 10 km lange Anschlusstunnel geben, von denen einer Turin unterqueren soll.
Opposition der Bevölkerung Wie auch andere so genannte «Grossprojekte» in Europa hat dieses Projekt hitzige Debatten ausgelöst und stösst auf eine breit abgestützte Opposition in der lokalen Bevölkerung. Die Widerstandsbewegung gegen den TAV im Val di Susa, einem italienischen Alpental, ist in diesem Sinne symbolisch für den Versuch einer Bevölkerung, sich gegen einseitig vom Staat getroffene Entscheidungen zu wehren.
Laut der Befürworter_innen wäre Italien ohne diese neue Bahnlinie von Europa isoliert. Es gibt aber bereits sowohl eine Bahnlinie (Turin-Modane), die für Höchstgeschwindigkeitszüge wie den TGV kompatibel ist, als auch eine Autobahn und eine Schnellstrasse durch das Val di Susa, mit einer Gesamtbreite von bis zu 2 Kilometern! Im Gegensatz zu den Aussagen der Befürworter_innen sind sowohl der Personen- als auch der Warentransport auf dieser Strecke in den letzten Jahren zurückgegangen. Zudem ist die Bahnlinie in dem Teil, der durch die Alpen führt, nicht einmal zur Hälfte ausgelastet. Die TAV-Linie ist auch gar nicht für den Warentransport vorgesehen. Das Argument der Einschränkung des LKW-Verkehrs fällt somit flach.
Ein finanzielles Desaster Den offiziellen Schätzungen zufolge soll das Projekt alleine auf italienischer Seite 14.000 Mio € kosten. Unabhängige Organisationen haben jedoch eine weit höhere Summe berechnet! Um diese aufzubringen, muss sich Italien noch mehr verschulden, ein Land, in dem die Staatsschulden bereits über 130 Prozent des BIP ausmachen; fast die höchsten von Europa! Mit eben dieser hohen Verschuldung rechtfertigt die italienische Regierung ihre Sparpolitik bei sozialen Leistungen.
Keine der Erhebungen bestätigt, dass die Einnahmen durch das Projekt jemals die Kosten begleichen können.
Umweltschäden Die Bauarbeiten werden über 20 Jahre dauern. Täglich werden Hunderte von Lastwagen durch das Tal rollen und die ganze Gegend mit giftigem CO2 und feinem Staub verschmutzen. Aller Voraussicht nach wird durch die Arbeiten der Grundwasserspiegel abgesenkt, genauso wie das auch in der Toscana passiert ist. Dort haben, seit den Bauarbeiten für eine andere TAV-Linie, sieben Dörfer kein Trinkwasser mehr. Und nicht zuletzt befinden sich in dem Berg, in den die zwei Haupttunnel gegraben werden sollen, sehr wahrscheinlich Uranium und Asbest. Bis heute gibt es keine Antwort auf die Frage der Möglichkeiten von Schutz und Sicherheit der Bewohner_innen und Arbeiter_innen angesichts der Vergiftungsgefahr.
Geschichte eines Widerstands Im seit dreissig Jahren andauernden Widerstand gegen dieses europäische Grossprojekt in ihrer Region, hat die Bevölkerung des Val di Susa alle Mittel ausgeschöpft: Die Palette reicht von rechtlichen Rekursen, wiederholten Demonstrationen, an denen manchmal mehr als 60.000 Menschen teilnahmen, über politische Einflussnahme (wie beispielswei-se die Teilnahme an den Wahlen in den Berggemeinden) und Studien, die den fehlenden Nutzen und die Schädlichkeit für die Umwelt dieses Projektes belegen, bis zu Blockaden und Sabotagen. Die Bewegung zeichnet sich durch die Fähigkeit zur breiten Diversifizierung der eingesetzten Mittel aus, mit denen sie ihre kategorische Ablehnung des Projekts ausdrückt.
Als sich das Projekt ungeachtet des 15 Jahre dauernden Widerstands zu konkretisieren begann und die Bohrmaschinen hergebracht wurden, antwortete die Bewegung zu Beginn der 2000-Jahre mit physischen Mitteln. So besetzten die protestierenden Menschen die vom Projekt betroffenen Gelände. Dieser Widerstand verzögerte den Beginn der Arbeiten bis 2005, als die Ordnungskräfte die Ebene von Venaus mit Schlagstöcken räumten, um die erste TAV-Baustelle im Val de Susa zu installieren. In den darauf folgenden Tagen marschierte die Bewegung angesichts der von der Polizei entfesselten Gewalt in grosser Zahl am Rand der Ebene auf.
10.000 Personen drangen in das Gelände ein und verhinderten den Versuch, das TAV-Projekt voranzutreiben. So kam es zum temporären Stillstand, bevor es im Jahr 2011 wieder lanciert wurde. In der Zeit dieser Gefechtspause entstanden zahlreiche No TAV-Komitees in den verschiedenen Städten und Dörfern des Val di Susa, aber auch in den umliegenden Tälern, welche die Bewegung unterstützen.
Im Jahr 2011 liegt die vorgesehene Baustelle in einer archäologischen Zone der Gemeinde Chiomonte. Die Bewegung entscheidet sich wieder für dieselbe Strategie: die vorbeugende Besetzung des Geländes. Doch diesmal ist der Staat bereit, härtere Mittel einzusetzen, um den Widerstand zu brechen. Die Polizei setzt viel Gewalt ein und es braucht eine noch nie dagewesene Menge an Tränengas, um die Demonstrant_innen vom Gelände zu vertreiben. In der Folge wird die Baustelle durch das Militär besetzt: das Gelände wird zum Gebiet von strategisch-militärischem Interesse. Truppen werden aus Afghanistan zurück beordert, um die Inbeschlagnahme des Geländes zu sichern; stacheldrahtbewehrte Gitter werden hochgezogen; riesige Flutlichter beleuchten nachts die Baustelle. In wenigen Wochen entsteht eine richtige Festung. Am 3. Juli 2011 organisiert die Bewegung, wie bereits 2005 in Venaus, eine Demonstration, um die Baustelle wieder einzunehmen. Diesmal trotzen 60.000 Menschen den Gittern und dem Tränengas CS, dessen Einsatz von der Genfer Konvention verboten wurde. Trotz dieser riesigen Willenskundgebung wird die militärische Besetzung aufrechterhalten.
Die Bewegung überdenkt deshalb nochmals die Formen ihres Kampfes. Denn die juristischen und gesetzlichen Rekursmöglichkeiten sind ausgeschöpft und die Geländebesetzungen verunmöglicht. So tritt der Kampf der Bewegung in eine neue Phase: Sabotageaktionen und Blockaden – wie den Besatzungskräften die Wasserzufuhr oder die Stromversorgung abstellen, die Baumaschinen funktionsunfähig machen, den Schienenverkehr blockieren – werden nun von der gesamten Bewegung unterstützt und als legitim anerkannt.
Repression und Medien Die No TAV-Bewegung leidet unter einer blindwütigen Repression, die seit einigen Jahren dauernd verstärkt wird. Ein Prozess folgt dem andern, die Beschuldigungen der Anklage werden immer schärfer, Aktivist_nnen werden unter Hausarrest gestellt; einige dürfen sich im Val di Susa nicht mehr aufhalten, andere sind im Gefängnis. No TAV-Akti-vist_innen werden zudem zu sehr hohen Geldstrafen verurteilt. So wurden beispielsweise am 15. Januar 2014 Alberto Perino, eine charismatische Persönlichkeit der Bewegung, sowie die Bürgermeisterin von San Didero, Loredana Bellone und ihr Gehilfe, Giorgio Var, zur Zahlung von 192.000 € Schadenersatz plus Zinsen an die Bahngesellschaft Lyon-Turin verurteilt, weil sie im Januar 2010 ein Gelände besetzt hatten, auf dem geologische Sondierungen stattfinden sollten.
Die Repression gegen die Bewegung wird stets von einer Medienkampagne begleitet, welche die No TAV-Gegner_innen als gewaltbereite Demonstrant_innen darstellt, die sich der Demokratie entgegenstellen.
Vor 2013 lief die Kriminalisierung der Bewegung über die Bezeichnung «kriminelle Vereinigung». Im Juli 2013 wurde schliesslich eine Protestversammlung vor den Gittern der Baustelle als terroristischer Anschlag gemäss Artikel 280 des Strafgesetzbuches bewertet. Im Herbst 2013, kurz vor der Verhaftung von Claudio, Niccolò, Mattia und Chiara, ordnen die italienischen Medien die No TAV-Bewegung unmissverständlich dem bewaffneten Kampf und den Roten Brigaden zu.
Die Aktion In der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 2013 dringt eine Gruppe von 30 No TAV-Aktivist_innen in die Baustelle des Vorbereitungstunnels von Chiomonte im Val Susa ein, um die Maschinen vor Ort im Hinblick auf eine Blockierung oder zumindest Verlangsamung der Arbeiten zu sabotieren. Die Aktivist_innen-gruppe durchschneidet die Stacheldrahtzäune und Gitter, um auf die Baustelle zu gelangen; ein Teil versucht, die permanent gegenwärtigen Ordnungskräfte auf dem Gelände abzulenken, während ein anderer Teil der Gruppe einen Kompressor und einen Generator in Brand steckt. Dabei werden Molotov-Cocktails eingesetzt; es gibt Materialschäden, aber keinen einzigen Verletzten.
Einige Monate später, am 9. Dezember 2013, werden Chiara Zenobi (41), Claudio Alberto (23), Niccolò Blasi (24) und Mattia Zanotti (29) im Rahmen der Ermittlungen zu dieser Tat festgenommen. Die drei ersteren leben zu diesem Zeitpunkt in Turin, der letztgenannte in Mailand. Die Anklage wiegt schwer: «ein terroristisch begründetes Attentat und eine terroristische Handlung mit Einsatz zerstörerischer Geräte und Sprengstoff3. Zudem werden sie «der Zerstörung durch Brandstiftung, der Gewalt gegen die Ordnungskräfte und des Besitzes sowie des Transportes von Kriegsgerät» beschuldigt. Am Tag danach bekennt sich die gesamte No TAV-Bewegung öffentlich zu dieser Aktion. Sie steht auf dem Standpunkt, dass das Ziel dieser Aktion die Sabotage der Maschinen und das Bremsen der Arbeiten auf der Baustelle war. In diesem Punkt ist die Haltung der Bewegung No TAV klar: unmittelbar nach den Verhaftungen erklärte die Generalversammlung aller No TAV-Komitees dass «die Beschuldigten Kinder des Val di Susa sind, dass die Sabotage ein Akt legitimen Widerstandes ist und die wahren Terroristen diejenigen sind, die uns den TAV aufzwingen wollen».
Die Anklage Am 22. Mai 2014 begann der Prozess gegen vier TAV-Geg-ner_innen, die wegen Terrorismus angeklagt wurden. Sie werden beschuldigt, Maschinen auf der TAV-Baustelle in Brand gesetzt zu haben. Die völlig unverhältnismässige und unangebrachte Ingangsetzung einer ganzen Antiterror-Gesetzesmaschinerie rund um diesen Prozess stellt einen Präzedenzfall dar. Falls der Prozess zu einer Verurteilung führt, wird den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit verbaut, weiterhin gegen unsinnige Grossprojekte Widerstand leisten zu können. Ganz zu schweigen von den Bedingungen dieses Prozesses, der ganz im Stil der grossen Prozesse gegen die Mafia inszeniert wird: Die Angeklagten werden in extremer Isolationshaft gehalten: Spaziergänge sind untersagt, die vier Personen sind inzwischen in drei verschiedenen Gefängnissen untergebracht; die Post wird zensiert; sie müssen am Prozess per Video-Konferenz von ihren Zellen aus teilnehmen; die Anhörung findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Gerichtsbunker des Gefängnisses Valette in Turin statt. Um das Hirngespinst des Terrorismus plausibel zu machen, stehen die Geschworenen bereits jetzt unter Begleitschutz gegen potenzielle «Repressalien» der Bewegung. Das Strafmass im Falle einer Verurteilung wegen «Terrorismus» beträgt mindestens 20 Jahre, kann aber bis zu 30 Jahren erhöht werden, falls auf erschwerende Umstände erkannt wird.
Seit mehr als zehn Jahren wird die antiterroristische Gesetzgebung in vielen Ländern angewandt, um sich politischer Geg-ner_innen zu entledigen. Sie wird nicht mehr nur für den Sonderfall herangezogen, vielmehr findet deren umfassende Anwendung statt und die Logik des Ausnahmefalles ist zur Norm geworden. In dem Masse, als der Antiterrorismus die Rechtskategorien als politisches Instrument einsetzt, muss man dagegen kämpfen, auch auf rechtlicher Ebene. Um gegen die Beschuldigten mit Sondermassnahmen vorgehen zu können, setzt der Antiterrorismus auf ihre Ausgrenzung und Isolierung.
Das rechtliche Konstrukt der Staatsanwaltschaft «Attentat mit terroristischer Zielsetzung und terroristische Handlung mit Hilfe zerstörerischer Geräte und Sprengstoff gegen Personen und Sachen; Betriebsstörung durch Brandstiftung; Gewaltanwendung gegen die Ordnungskräfte; Besitz und Transport von Kriegswaffen»: Die Schwere dieser Anklage verdeutlicht, in welchem Masse die Staatsanwaltschaft die No TAV-Bewegung nicht als lokal breit abgestützte Volksbewegung wahrnehmen will. Zudem unterstreicht der Zusatz im Anklagedossier den terroristischen Charakter der Tat, weil diese auf einer Baustelle der «Internationalen Zusammenarbeit» begangen worden sei, die mit europäischen Geldern betrieben werde. Die Staatsanwaltschaft folgert daraus, dass dieser Akt der Sabotage das Bild Italiens international beschädigt.
Diese Anklagepunkte stützen sich grösstenteils auf die Sicherheitsreform vom 31. Juli 2005, die nach den Attentaten von London und Madrid vom Innenminister Giuseppe Pisanu beschlossen wurde. Diese Reform erweitert den Begriff der terroristischen Handlung und erlaubt es dem italienischen Staat, jegliche Protestbewegung ab einer gewissen Grösse des Terrorismus zu bezichtigen.
Aufgrund dieser Anklagepunkte drohen den Angeklagten nicht nur unverhältnismässig hohe Strafen, sondern damit werden auch die besonderen Haftbedingungen begründet, das sogenannte AS2, die mit dem Terrorismusvorwurf verbunden sind. Diese Form des Haftvollzugs, früher unter der Bezeichnung EV1 bekannt, wurden vom Europäischen Gerichtshof im Jahr 2009 als widerrechtlich verurteilt, da sie den Inhaftierten keine Möglichkeit gewährt, andere Bedingungen zu beantragen. Man hat schlicht und einfach den Namen geändert, um diese Form des Haftvollzugs wieder anwenden zu können.
Die Rolle der Europäischen Kommission Im Prozess werden 132 zivile Parteien genannt: von den die Baustelle führenden Unternehmen über die im Gebiet operierenden Polizeiregimenter bis zu den Arbeitern auf der Baustelle. Was aber noch mehr zu denken geben sollte, ist die Tatsache, dass auch die Europäische Kommission darin auftaucht – und zwar als Initiantin des Bahnprojektes Lyon-Turin.
Statt die hier vorliegende missbräuchliche Anwendung von Teilen der europäischen Gesetzgebung gegen den Terrorismus anzuprangern, verleiht die Europäische Kommission diesen Auswüchsen Legitimität, indem sie sich als «geschädigte Partei» im Prozess aufführen lässt.
Mit ihrer aktiven Teilnahme an diesem Prozess unterstützt die Europäische Kommission ein skandalöses Verfahren, nicht nur in seinem Grundsatz, sondern auch in den Verfahrensbedingungen. Sie legitimiert dadurch die Ausweitung des Kreises potenzieller Beschuldigter terroristischer Handlungen sowohl in Italien als auch in der gesamten Europäischen Union.
Der Antiterrorismus als Europäische Politik Die Verwendung des Begriffs Terrorismus in diesem Prozess reiht sich in eine beunruhigende Entwicklung der Rechtssprechung ein, die über den italienischen Rahmen hinausgeht. Der 11. September 2001 diente auf globaler Ebene als Vorwand, um in den nationalen Gesetzgebungen eine neue Definition des Terrorismus zu verankern, welche die Rechtsgrundsätze an sich verletzt. Mit dieser neuen Definition des Terrorismus wird eine vage umschriebene Sonderkategorie von Straftaten geschaffen.
Die Verschwommenheit dieses Terrorismusbegriffs erlaubt alle möglichen Interpretationen. Er ist so umfassend, dass er auf jede Form des sozialen Protestes anwendbar ist. Im Rahmenentscheid des Europarates vom 13. Juni 2002 wird als terroristischer Akt jegliche Handlung definiert, die «einem Land oder einer internationalen Organisation erheblichen Schaden zufügen könnte», wenn der Täter das Ziel verfolgt, «eine Bevölkerung in schwerwiegender Weise einzuschüchtern« oder «die Behörden oder eine internationale Organisation in unzulässiger Weise dazu zu zwingen, etwas zu tun oder nicht zu tun», oder «die grundlegenden politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation zu destabilisieren oder zu zerstören.»
Obwohl der europäische Rahmenentscheid vom 13. Juni 2002 eine Liste spezifischer Verstösse auflistet, präzisiert und im Vorwort festhält, dass der Rahmenentscheid «nicht zu einer Änderung der Pflicht, die Grundrechte und die Grundsätze der Rechtsprechung zu respektieren» führen darf, besteht der Verdacht, dass mit der Verabschiedung dieses Entscheides eine Waffe geschaffen wurde, um gegen politische Protestbewegungen vorgehen zu können. Mit dem Prozess, der am 22. Mai 2014 in Turin eröffnet wurde, werden die oben geäusserten Befürchtungen Realität. Die in Italien in Artikel 270-sexies des Strafgesetzbuches am weitesten gefasste Definition des Begriffs des terroristischen Aktes wird hier nicht dazu benutzt, um Aktionen von Organisationen, die darauf abzielen, der Zivilbevölkerung eines Landes zu schaden, abzuwenden. Vielmehr werden sie genutzt, um in der Innenpolitik gezielt gegen Oppositionelle vorzugehen, in dem vorliegenden Fall, um den Widerstand der Bewohner_innen eines ganzen Tales zu brechen. Die Anwendung des Artikels 270-sexies in einem solchen Kontext ist geradezu grotesk und zeigt deutlich, wie sehr der Antiterrorismus eben nicht nur ein einfaches juristisches Verfahren darstellt, sondern eine Methode, aus jedem Bürger und jeder Bürgerin nach Gutdünken einen Terroristen oder eine potenzielle Terroristin zu machen.
Schliesslich gibt es nicht die juristische Definition des Terrorismus. Und gerade deshalb gibt es so viele verschiedene Definitionen und Interpretationen. Der Terrorismus ist weniger eine rechtliche Kategorie denn eine Regierungsmethode. So kann der Antiterrorismus jetzt sogar zur Einschüchterung der Bevölkerung eines ganzen Alpentales missbraucht werden. Der Antiterrorismus ist eine weltweite Politik, die zunächst auf nationaler Ebene erprobt wird, bevor die wirksamsten Methoden global angewandt werden. Es ist höchste Zeit, diesem politischen Missbrauch der Gesetze einen Riegel vorzuschieben, er kann sonst früher oder später alle sozialen Protestbewegungen betreffen.
- High Speed Rail (Hochgeschwindigkeitsbahn)
- treno alta velocità (Hochgeschwindigkeitszug)
- nach Artikel 280 und 280bis des italienischen Strafgesetzbuches, das Verstösse gegen Personen und Güter regelt. Zum Anklagepunkt Anschlag auf das Leben: Gemäss den Staatsanwälten hätte die Schliessung des Tores zur Baustelle mit Ketten, um den Ausgang der Polizei zu verlangsamen, auch den Ausgang der anwesenden Personen verhindert, die demnach durch die giftigen Abgase des brennenden Kompressors in Gefahr geraten wären.
Die zitierten Gesetzestexte:
- Der Rahmenentscheid des Europarates vom 13. Juni 2002: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/FR/ALL/?uri=CELEX:32002F0475
- Der Artikel 270-sexies des italienischen Strafgesetzbuches: www.altalex.comindex.php?idnot=4453
Der Prozess gegen Chiara, Claudio, Niccolo und Mattia verspricht lang und kostenaufwendig zu werden. Wir haben ein Konto für die Anwaltskosten und die Unterstützung der Angeklagten eröffnet. Wir wollen den Drohungen und Einschüchterungen Stand halten und unser «NEIN» zur TAV und zu jeder weiteren Zerstörung von Leben und Lebensräumen bestätigen.
Empfängerin: Francesca CAMICIOTTOLI
IBAN: IT27A0316901600CC0010722513
BIC: INGDITM1XXX
SWIFT: CIPBITMMXXX
Zusatzinformation der Archipel-Redaktion Kurz bevor der Archipel in Druck ging, erhielten wir noch wichtige Informationen :
Am 15. Mai hat das Revisionsgericht in Rom, nachdem von den Verteidigungsrichtern Einspruch erhoben worden war, Stellung zu einigen Aspekten in der Angelegenheit genommen. Es stellt zwar nicht direkt die Anklage auf Terrorismus in Frage, verurteilte jedoch die extrem harten Haftbedingungen, woraufhin diese gemildert wurden. Die Angeklagten dürfen demnach jetzt mit den anderen Inhaftierten zusammenkommen und im Besucherzimmer mit ihren Freund_innen sprechen.
Das Urteil des Revisionsgerichts wirkte sich auch auf die erste Anhörung im Prozess, am 22. Mai aus: Die Angeklagten mussten nicht, wie ursprünglich vorgesehen, in ihren Einzelzellen bleiben und am Prozess in Form einer Videokonferenz teilnehmen. Die Verhandlung fand im Gefängnis von Valette in Turin statt. Die Angeklagten und weiter 80 Personen waren anwesend.
Es ist nicht das erste Mal, dass das italienische Revisionsgericht eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft ablehnt und die Legitimität seiner Methoden in Frage stellt. Abgesehen davon hat die Anwendung des Terrorismusparagraphen bezüglich der No Tav-Bewegung eine Polemik in ganz Italien, insbesondere in juristischen Kreisen, ausgelöst.
Prozess beobachten
Es ist sehr wichtig, dass dieser Prozess weiterhin beobachtet wird! Die nächsten Verhandlungstage sind am 30. Mai, am 6., 19. und 26. Juni sowie am 3. und 16. Juli..