Im vergangenen Sommer ereilte Ungarn ein neuer Fieberschub des nationalistischen Extremismus, welcher von der Fidesz, der Partei von Victor Orban, die seit 2010 an der Macht ist, unterstützt wird. Die Gelegenheit dazu lieferte der Mord an einer jungen Polizeipsychologin in einem Aussenquartier von Budapest.
Der Hauptverdächtige der Tat ist ein Angehöriger der Roma. Das bedeutet Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten, die damit ihr Lieblingsthema der „Zigeunerkriminalität“ auffrischen und von ihren eigenen Verbrechen ablenken konnte. Drei Jahre nach gewalttätigen Übergriffen, die mehrere Tote auf Seiten der Roma gekostet haben, und ein Jahr nach den Ausschreitungen in Gyöngyöspata erreicht der rassistische Hass, der von den neofaschistischen Gruppen geschürt wird, einen neuen Höhepunkt.
Doch kehren wir zurück bis zur Wahl von Victor Orban, der im Jahr 2010 in der Situation einer starken Wirtschaftskrise Regierungschef wird. Ungarn ist eines der Länder Europas, das am meisten von der Krise des Jahres 2008 betroffen wurde. Die ungarische Währung „Forint“ verlor mehr als 20% ihres Wertes – eine Tatsache, die vor allem die Rentner und die ärmeren Schichten hart trifft. Die Mehrwertsteuer wurde von 25 auf 27% angehoben: die höchste Quote Europas. Heutzutage ist das Land im Grunde insolvent.
Seit seiner Amtseinsetzung betreiben Victor Orban und seine ultrakonservative Partei Fidesz eine populistische und autoritäre Politik. Im Zuge einer nationalistischen Strategie liessen sie eine Abänderung der Verfassung verabschieden, die vorsieht, den ungarnstämmigen Minderheiten in den umliegenden souveränen Staaten die ungarische Staatsbürgerschaft zu verleihen, zusätzlich zu derjenigen, die sie von den jeweiligen Staaten, in denen sie leben, schon haben. Dadurch wird der Traum von einem Gross-Ungarn auf die Tagesordnung gesetzt. Dies führte bereits zu grossen Spannungen mit Rumänien, das den ungarischen Vorstoss als unzulässige Einmischung in seine inneren Angelegenheiten betrachtete.
Zusätzlich liess Orban Ende 2010 die Medien via Gesetz gleichschalten. Die Medien wurden direkt der Kontrolle der Fidesz unterstellt und mehr als 600 Journalisten und Techniker, die gegenüber der Partei kritisch eingestellt waren, sind entlassen worden. Das neue Gesetz schreibt eine „objektive und ausgewogene“ Berichterstattung vor, natürlich im Sinne der Fidesz. Der Quellenschutz ist abgeschafft worden. Bei denjenigen Medien, die nicht Selbstzensur zu Gunsten der Fidesz betreiben, versucht die Regierung lebenswichtige Werbeaufträge für diese Medien zu torpedieren.
Im Jahr 2011 gingen Victor Orban und seine Partei noch weiter: Im April verabschiedete das Parlament eine neue ultrakonservative Verfassung, die im Januar 2012 in Kraft trat. Die „Republik Ungarn“ heisst plötzlich nur noch „Ungarn“, und der Text verweist mit zahlreichen Referenzen auf die christlichen Wurzeln und die „tausendjährige Geschichte“ des Landes. Damit wird den reaktionären Strömungen der christlichen Religion und einem völkischen Nationalismus gehuldigt. Homosexuelle Heiraten sind verboten und freiwillige Schwangerschaftsunterbrechungen werden in Frage gestellt.
Orban schlug auch vor, pensionierte Polizisten anzuheuern, um Sozialhilfeempfänger bei der gemeinnützigen Arbeit zu überwachen, die für diese seit September 2011 obligatorisch geworden ist. Sogenannte Arbeitslager sind ebenfalls geplant, wobei deren Einrichtung hauptsächlich auf die grösste Minderheit im Land abzielt: auf die Roma.
Doch kommen wir auf den Sommer diesen Jahres zurück: Um zu zeigen, wie der Mord an der Polizeipsychologin benutzt wird, zitieren wir den Journalisten Zsolt Bayer, Mitglied der Regierungspartei Fidesz und Freund von Premierminister Orban: „Man muss es ohne Umschweife sagen: Der bestialische Mörder ist ein Zigeuner. In unserem heutigen Ungarn sind Millionen von Menschen Opfer der Zigeuner, die sie bestehlen, sie schlagen, sie demütigen und sie töten. Solange die Zigeuner diese Mentalität, die ihre Rasse kennzeichnet, nicht ausrotten, können wir nicht zusammen leben.“ Der Journalist war einer der Organisatoren des „Friedensmarsches“ zur Unterstützung von Victor Orban im letzten Januar, bei dem 100.000 Menschen in Budapest zusammenkamen.
Die rechtsextreme Partei Jobbik (Bewegung für ein rechtes und besseres Ungarn), die bei den letzten Parlamentswahlen 16,7 Prozent der Stimmen erhalten hat und die Regierung unterstützt, organisierte mehrere grosse Demonstrationen, um „die Ungarn gegen die Roma zu verteidigen“. Eine ihrer Forderungen ist die Einrichtung von „Zigeunerterritorien“, mit anderen Worten: von Ghettos für die Roma. Die Rechtsextremen konnten vor einem Budapester Gericht durchsetzen, dass sie am 25. August 2012 das fünfte Geburtsjahr der „Ungarischen Garde“ feiern durften, die 2007 von Jobbik gegründet worden war. Diese paramilitärische Miliz, die offiziell waffenlos, aber uniformiert auftritt, war 2009 vom ungarischen Verfassungsgericht als illegal erklärt worden. Inzwischen hat sie sich neu aufgebaut, falls sie sich jemals wirklich aufgelöst hat. Das erklärte Ziel der Garde besteht darin, das „seelisch und geistig wehrlose Ungarn“ auch mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, insbesondere gegen Rumänien und die Slowakei. Die inneren Feinde für die „Garde“ sind Juden und Roma. Die regierungstreue Tageszeitung Magyar Nemzet titelte in Anspielung auf die Gay Pride, die in Budapest stattgefunden hatte: „Wenn die Schwulen paradieren dürfen, dann darf die Garde das auch.“