DOSSIER OST / RUSSLAND: Der Fall Pussy Riot

von Jean-Marie Chauvier, 05.11.2012, Veröffentlicht in Archipel 208

Man kann die Pussy mögen oder auch nicht; Punk in der Kathedrale und „alternativer Porno“ – das liegt im Trend unserer Zeit. Auch wenn es mehr oder weniger schockierend ist. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Sicherlich ist die Zeit der braven kleinen Pioniermädchen mit weiß bebänderten Zöpfen und einem roten Tuch um den Hals sowie auch die der göttlichen Komsomolzinnen1 mit ihrem strahlenden Zukunftsblick längst überholt.

Die freundlichen Gesichter und der schelmische Blick der jungen Frauen von Pussy Riot zeugen von einem anderen Russland. Eines das sich nicht scheut, Nacktheit zu zeigen wie in früheren heidnischen Zeiten. Schon die ukrainische Fame haben uns da einen Einblick gewährt.2
Glaubt nicht, dass sich Russland in Sachen Pornographie nicht auskennt. Seit zwanzig Jahren wird Sex auf dem freien Markt angeboten und ist dort in voller Expansion. Dahingegen sind die Darbietungen der „revoltierten Muschis“ eher bescheiden. Ist es Kunst „Jungfrau Maria, erlöse uns von Putin“ in der Kathedrale Christus des Retters zu singen oder öffentlich mit einem Hühnerbein aus dem Supermarkt zu masturbieren? Jedenfalls ist es eine ganz neue Art von künstlerischem Schaffen in Russland. Mich persönlich lassen diese Art von Darbietungen kalt. Das „gesungene Punkgebet“ jedoch war wirklich sehr gelungen. Es war meiner Ansicht nach weder unzüchtig noch eine Verletzung des christlichen Glaubens. Anzüglich und schädlich für das Prestige der Regierung ist hingegen die Errichtung eines gigantischen Phallus auf einer Brücke gegenüber des Sitzes des früheren KGB’s3 und der jetzigen Sicherheitsorgane FSB4. Zur Zeit der Sowjetunion mokierte man sich gerne über diese „Organe“, die vornehmlich Mit-„Glieder“ der Partei waren. Die Pussys und ihre Kollegen der Vojna machen weiter mit dieser Tradition. Bravo!
Jede/r kann selber wählen, ob das jetzt Schauspielerinnen eines neuen Dadaismus oder aber Opfer unserer „Société du spectacle“5 in Zeiten des Internet sind. „Man braucht nur ein skandalträchtiges Lied auf You tube zu setzen und schon geht es um die Welt.“ Natürlich tragen die westlichen Medien das Ihre dazu bei, die Resonanz in eine gewisse Richtung drastisch zu verstärken. Wie erklären wir uns das plötzliche Interesse von den vereinigten Staaten, der Europäischen Union und von Amnesty International für eine anarchistische Punk-Band. Zwei Jahre Straflager für ein Punk-Lied in einer Kathedrale ist effektiv skandalös. „Mittelalterlich!“, „Stalinistisch!“ „Das ist der Gulag!“, rufen die Aufgeregten hier und in Moskau völlig unverhältnismäßig durcheinander.6
Wäre die Empörung im Westen auch so groß gewesen, wenn so eine Provokation in Notre Dame von Paris, in einer großen Synagoge oder Moschee, vergleichbar mit der Kathedrale Christus des Retters in Moskau stattgefunden hätte? Verzeihung, dass ich diese Frage stelle, die als solche schon die Empörten empört, aber ist ihre Empörung nicht irgendwo fragwürdig? Ist es der Skandal, der sie interessiert oder eher die Tatsache, dass dieser in Russland stattgefunden hat?
Stellen wir uns diese Szene woanders vor: In einer riesigen Synagoge flehen jüdische Pussys Jehova an: „Liefern Sie uns Netanyahou aus!“, in einer Moschee in Mekka wenden sich verschleierte muselmanische Pussys an Allah: „Vertreiben Sie die Familie Al Saoud!“ In der Sankt Peter Basilika von Rom ist es am Gott der Christen seinen Gläubigerinnen im Punk-Look Gehör zu schenken: „Erlösen Sie uns von diesem Ratzinger“ Diese Liste können wir nach Belieben verlängern; jedes Land, jede Gemeinde fände problemlos die Zielscheibe für ihr „Gebet“. Eine lustige Seuche! Die Toleranz unserer Bigotten, Gendarmen und Richter können wir uns schon vorstellen.
Und was wäre mit so einer künstlerischen Darbietung in der Börse oder in einer der großen Banken. In Moskau gibt es genug Sitze von großen Banken wie auch andere Tempel der „Finanz-Oligarchie“ und des „freien Markt-Fundamentalismus.“, die sich bestens dafür eignen würden. Haben unsere Punkys daran gedacht? Eine andere Frage: Machen die Pussy das, was sie machen, eigentlich um in Russland etwas zu bewegen, oder um den Westen zu beeindrucken, wo einige von ihnen, sowie andere KritikerInnen Zuflucht finden werden? Tut mir leid, auf solche Gedanken zu kommen, aber ich finde, diese Fragen müssen auch gestellt werden, selbst wenn es nicht die wichtigsten sind. Of course…
Wofür stehen sie also, diese Pussy, die den Slogan „No pasaran“ aus dem spanischen Antifaschismus proklamieren? Die Sängerinnen drücken ihren Wunsch aus, in einer freieren, fröhlicheren Welt leben zu wollen, als die, die ihnen die russische Regierung, seine Bürokratie, die Bräuche seiner Polizei und seine kapitalistische Mafia bietet. Anders ausgedrückt: Die jungen „emanzipierten“ Moskauerinnen möchten einige Etappen und Brücken überspringen. Aber hat sich Russland nicht schon immens verändert in den letzten zwanzig Jahren?, Ist es nicht schon mitten im Paradies der Freiheiten? Nicht nach ihrem Geschmack, nicht so wie in Kanada oder Frankreich, „Nicht genug, wir wollen mehr“, haben die Pussy herausfordernd gesagt.
Diese Frauen sind nicht gedankenlos. Sie haben studiert. Scheinbar war ihre Aktion vollkommen überlegt und bewusst entschieden. Sie sind große Leserinnen der postmodernen Philosophie. Ihr Verhalten war kein dummer Scherz sondern eine Herausforderung, die sie anzunehmen bereit waren. Die Kultur der Herausforderung! Auf die Frage. „Wünschen Sie eine Begnadigung durch den Präsidenten?“, antwortete eine von ihnen kategorisch: „Er ist es, der sich entschuldigen muss“ Ganz schön frech! Wird Putin um Entschuldigung bitten? Vielleicht könnte er die Jungfrau Maria um Rat fragen. Dieser Mann hat ja manchmal Humor, oder? Hoffen wir, dass er diese jungen Frauen aus der Strafkolonie holen kann. Das Ganze ist offensichtlich eine hochpolitische Angelegenheit.
Wenn man genauer hinschaut, versteht man, dass Pussy Riot und die Provogruppe Voijna7 Teil der Protestbewegung sind, die während des letzten Winters und Frühlings Hunderttausende von Moskauern für ein Russland ohne Putin auf die Strasse brachte. Erfolg kann ihnen nicht beschieden sein, denn der Präsident verfügt über unbestrittene Mehrheiten in den (übrigens tatsächlich ehrlichen) Wahlergebnissen8 und Meinungsumfragen. Der Sturz Putins ist aber festes Ziel der Protestbewegung! Das ist wichtig zu wissen um zu verstehen, warum die Regierungen und Medien auf der ganzen Welt sich für diese paar anarchistischen Provokationen interessieren, auch wenn sie niemand vor der eigenen Haustür haben möchte.
Wird die Affäre eine Wiederaufnahme der Proteste von diesem Herbst nach sich ziehen? Wird die Protestbewegung über Moskau hinausgehen? Können ihre liberalen, nationalistischen und linken Akteure sich auf ein gemeinsames Programm einigen? Kann dieser Wirbel die Eliten dieses Landes wirklich erschüttern und entzweien? Erholt sich der Machtapparat davon, dass er durch die Pussys lächerlich gemacht worden ist? In Russland sind die Kommentare dazu völlig gegensätzlich. Die eine Seite verkündet dass das Land auseinanderbricht, die andere, dass diese Sache niemanden interessiere ausser einen Kreis von Moskauer Intellektuellen. Bleibt abzuwarten wer Recht behält.
Indem sie das wichtigste Gotteshaus Russlands, die „Christi Erlöserkirche“ für ihr Gebet um die Entfernung Putins ausgesucht haben nahmen die Punkerinnen bewusst in Kauf, die Hierarchie und etliche Gläubige der orthodoxen Kirche zu brüskieren. Das mag in unserer mehrheitlich religiös liberal gesinnten Gesellschaft, zu der ich euch LeserInnen zähle, unwichtig erscheinen.
Kann ein russisches Ereignis jedoch nur mit Pariser, Brüsseler oder New Yorker Massstäben gemessen werden? Ist hier nicht ein Rest koloniales Gedankengut zu finden das uns anhaftet bei der Beurteilung von Lebenswelten die unseren Wertvorstellungen fremd sind? Unsere Gesellschaft die so laizistisch und tolerant ist wie keine andere, hat vergessen welche Rolle die Kirchen gegenüber farbigen oder sexuellen Minderheiten noch vor wenigen Jahrzehnten gespielt haben. Nun folgt der Rest der Welt aber nicht dem selben rasanten Fortschritt der uns antreibt. Auch in Russland ticken die Uhren anders obgleich es in manchen Bereichen, wie zum Beispiel dem Turbokapitalismus, mächtig am aufholen ist.
Die „Befreiung“ vom atheistischen und puritanischen Sowjetsystem hat ganz unterschiedliche Auswirkungen gehabt. Es gibt die Punkerinnen die uns erstaunen, es gibt aber auch die Kirchen, die religiösen Bräuche, und den vielen Raum den diese erneut einnehmen in einer Gesellschaft die geprägt ist von grosser Verwirrung, hervorgerufen durch Angst und Armut, sowie einer rasanten Veränderung. Russland feiert dieser Tage das zwanzigjährige Jubiläum des Beginns der Privatisierungen, die gleich nach der vom IWF und amerikanischen „Beratern“ verordneten neoliberalen Schocktherapie der Regierung Jelzin – Gaidar – Tschubais9 kamen. Man erinnere sich an schreckliche soziale Gewaltakte, die dennoch heutzutage von der liberalen Opposition mit Nostalgie als demokratische Epoche bezeichnet wird. Für diejenigen, die nicht davon profitiert haben und nicht im Wohlstand schwimmen, hinterlässt dieser „übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft“ einen bitteren Nachgeschmack. In Bezug auf den „Ausdruck und die Auflehnung gegen die seelische Verlorenheit“ (Marx) mag die christliche Religion gewisse Bedürfnisse befriedigen. Zumal sie sich, wie es sich gehört, wohltätigen Zwecken widmet. In diesen Bereichen steht sie in Russland jedoch in Konkurrenz zu einem ebenfalls wieder erwachenden Islam. Hat man irgendwo Bilder gesehen vom Gebet zum Abschluss des Ramadan im August 2012 in Moskau? In den Strassen um die grossen Moscheen versammelten sich an die 170.000 Menschen! Ich glaube dass nicht ein einziger Fernsehkanal darüber berichtet hat, obwohl es spektakuläre Bilder, ganz nach unserem Geschmack gewesen wären. Es stimmt, alles hat sich in grösstmöglicher Ruhe abgespielt. Wenn irgendetwas passiert wäre, hätten unsere Kameras sich dies sicher nicht entgehen lassen.
Was denken aber die vielen Muslime über Pussy Riot? Keiner fragt sie. Einige denken dass sie die Reaktionen der Machtelite und der orthodoxen Kirche mit Neugier beobachten. Wenn Pussy Riot begnadigt würden, was für Schlüsse könnten die islamischen Eliten daraus ziehen? Wären zuletzt nicht auch die Moscheen von „Darbietungen“ bedroht? Würde nicht der Kreml selber gegenüber der muslimischen Bevölkerung in Verruf geraten? Immerhin stellen die Muslime 17% der russischen Bevölkerung dar und gelten als Quelle der Destabilisierung einer multinationalen Russischen Föderation.
Der russische (und muslimische) Nordkaukasus befindet sich im Dauerbelagerungszustand.Die binationale Republik Tatarstan mit der Hauptstadt Kasan ist die Beute fundamentalistischer Agitation. Hier handelt es sich aber um das Herz Russlands mit einem seit dem 10ten Jahrhundert verankerten Islam, einer hoch entwickelten Republik, die bisher gut ihre kulurelle Autonomie und die Koexistenz zwischen christlichen Slawen und muslimischen Turk-Tataren verteidigen konnte.
Zwischen den beiden Religionsgruppen steigen die Spannungen aus verschiedenen Gründen. Eine Rolle spielt in erster Linie das Gefälle zwischen Arm und Reich und die daraus entstehenden Ungleichheiten, ferner die Ausbeutung von billigen muslimischen Arbeitskräften in Moskau und in den Erdölfördergebieten, sowie der militante, todbringende Rassismus von Neonazigruppen und anderen Bewegungen gegen „illegale Einwanderung“. Erklärte Feinde sind auch Homosexuelle und Frauen wie die von Pussy Riot. Bereits kündigen sich orthodoxe Milizen an und die Südkosaken machen in paramilitärischen Einheiten organisiert Jagd auf illegale Einwanderer. Zum wiederholten Male hat sich übrigens Wladimir Putin zum Verfechter der Koexistenz der Nationalitäten und Religionen im Rahmen einer multikonfessionellen und multinationalen russischen Föderation gemacht. Der Druck von Seiten eines ethnischen Nationalismus und eines religiösen Fundamentalismus wächst allerdings. Der Kreml scheint nach und nach die geistliche Vorherrschaft der orthodoxen Kirche zu akzeptieren die danach strebt, wieder, wie zu Zarenzeiten, Staatsreligion zu werden. Dies schwächt die Gesellschaft und den Staat auf diesem riesigen Territorium der russischen Föderation. Zu gegebenem Zeitpunkt wird sie einen Zerfall erleben, ähnlich dem in anderen pluralistischen Ländern, wie die UdSSR, Jugoslawien, Irak oder Syrien.
Mit dieser Elle muss die Bedeutung von Pussy Riot gemessen werden und nicht an der Tatsache, dass sie uns amüsieren oder dass sie dem Geschmack der freiheitsliebenden Moskauer Jugend entsprechen. Dies sei gesagt mit dem gleichzeitigen Wunsch, dass sie begnadigt und freigelassen werden!
All das übersteigt zweifellos das Selbstverständnis der Punkerinnen, die nicht genau wissen, in welcher Schmierenkomödie sie auftreten (oder man sie spielen lässt). Dennoch ist es ja nicht verkehrt darüber nachzudenken.

  1. Junge Sowjetkommunistinnen.
  2. Fame: Eine Bewegung Ukrainischer Frauen, die mit entblössten Brüsten in der Öffentlichkeit und an Pressekonferenzen anfänglich v.a. dagegen protestiert haben, die Ukraine zum Bordell Europas werden zu lassen.
  3. KGB Staatsicherheitsdienst, politische Polizei, sowie In- und Auslandgeheimdienst der UdSSR in der Zeit nach Stalin.
  4. FSB Inlandgeheimdienst seit 1991.
  5. Die Gesellschaft des Spektakels ist ein Buch von Guy Debord, französischer Situationist.
  6. Das Arbeitslager wo die Frauen von Pussy Riot interniert sind hat nichts mit dem Gulag und auch nichts mit den Lagern der Breschnewzeit zu tun. Die aktuellen Arbeitslager haben den Ruf weniger hart zu sein als die Gefängnisse, wo Willkür, Gewalt und Tuberkulose vorherrschen. Die Behandlung der Pussy Riot-Frauen muss aus der Nähen beobachtet und überwacht werden.
    7.Diese Gruppe macht durch spektakuläre und gewaltsame Aktionen auf sich aufmerksam. Ein Vergehen war das Aufstellen eines riesigen Penis auf einer Brücke in Sankt Petersburg, genau auf die ehemalige KGB-Zentrale zeigend.
  7. Im Gegensatz zu allen Annahmen der westlichen Medien war der Wahlsieg von Wladimir Putin im vergangenen März nicht gestohlen, obwohl er so sehr in Frage gestellt worden ist. ALLE Umfragen, auch diejenigen einer der Opposition nahestehenden Organisation gestanden ihm über 50% der Wählerstimmen zu.
  8. Boris Jelzin, Präsident von 1991-1999, Egor Gaidar, Premierminister 1992, Anatoli Tschubais, Grosser Befürworter der Privatisierungen die der Finanzoligarchie und ab 1995 der Erdölproduktion dienten.