Gestern in den Morgenstunden, am 30. Juli 2011, geschah in der Nähe von Nardo’ in der italienischen Provinz Apulien etwas ganz Außergewöhnliches. Vierzig ausländische Arbeiter waren gerade dabei, Tomaten für 4 Euro die gefüllte Kiste zu pflücken, was einer Arbeitsstunde gleichkommt, als der «caporale»* von ihnen Überstunden verlangte. Die Tagelöhner forderten daher eine zusätzliche Bezahlung, die ihnen wie üblich nicht gewährt wurde.
Bis hierher war alles wie immer: Der gewöhnliche Machtmissbrauch bei der Ausbeutung der Arbeiter. Doch im Gegensatz zu allen anderen Malen entschieden die vierzig Landarbeiter spontan, die Arbeit niederzulegen und verließen gemeinsam die Plantage. Sie taten dies, obwohl sie wussten, dass Dutzende andere Arbeitssuchende täglich im Morgengrauen darauf warten, von den «caporali» für einen Hungerlohn zum Ernteeinsatz ausgewählt zu werden. Für jeden Immigranten, der sich weigert, für einen zu geringen Lohn zu arbeiten, stehen zehn andere bereit, welche die «caporali» anflehen, für noch weniger Geld arbeiten zu dürfen, um nicht völlig arbeits- und mittellos dazustehen.
Doch gestern früh bildeten die Immigranten des Betriebs «Mas Boncuri» eine einheitliche Front; sie verschränkten ihre Arme als Zeichen des Protests. Zum ersten Mal beriefen sie eine Versammlung ein, um die wichtigsten Punkte ihrer Forderungen zu formulieren. Sie nominierten je einen Vertreter einer Herkunftsregion oder eines Landes. So überwanden Sudanesen und französischsprachige Nordafrikaner ihre ethnischen Barrieren und auch diejenigen, welche ihnen durch die voneinander getrennten Einsatzbereiche und durch die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen auferlegt worden waren. Sie gründeten eine gemeinsame Plattform, um ihrem Protest Nachdruck zu verleihen. Darin prangern sie die Schwarzarbeit und das System der gefälschten Einstellungen an, mit denen die «caporali» mehrere Arbeiter unter einem einzigen falschen Vertrag führen. Sie verlangen, nach der festgelegten Norm in der Provinz bezahlt zu werden. Das gewerkschaftlich ausgehandelte Minimum beträgt 6 bis 10 Euro pro Kiste, je nach Tomatensorte. Die Arbeiter wollen systematische staatliche Kontrollen der Arbeitsbedingungen auf den Feldern und ein besseres Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage an Arbeitskräften, damit die «caporali» als Zwischenhändler zwischen Patron und Arbeitssuchendem ausgeschaltet werden können. Die Tagelöhner fordern ihre Rechte ein, sind in den Streik getreten und warten auf konkrete Zeichen für eine Veränderung der Verhältnisse. So ist ein völlig spontaner und autonomer Protest der Landarbeiter entstanden.
Unsere Kampagne «Stell mich ein gegen die Schwarzarbeit» sieht seit letztem Jahr eine ganze Reihe von Maßnahmen wie Beratung und Hilfestellung für die Immigranten vor. Diese Aktion will die ausländischen Arbeiter und die Öffentlichkeit sensibilisieren. Sie soll auf die Gefahren der Schwarzarbeit hinweisen und über die festgelegten Normen in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Lohnniveau informieren. Auf diese Weise hofften wir, den ausländischen Arbeitern ein Instrument zur Bewusstwerdung und zur Verteidigung ihrer Rechte in die Hand geben zu können. Diese Kampagne mag zum jetzigen Streik indirekt beigetragen haben.
So können Ansätze zu einer Selbstorganisierung der Betroffenen entstehen, die es verdienen, nach Kräften geschützt und unterstützt zu werden. Es handelt sich um einen Emanzipierungsprozess der am meisten Ausgebeuteten, der auch von den Behörden anerkannt werden sollte. In Nardo’ ist die Hoffnung laut geworden, dass eine Abschaffung der Schwarzarbeit und der Missbräuche zum Wohle der Tagelöhner möglich ist, wenn sie sich selber wehren – vielleicht ein Beispiel auch für andere Regionen in Europa?
*caporale: Kapo, Vorarbeiter, auch Handlanger, der vom Unternehmen oder Patron beauftragt ist, Tagelöhner anzuheuern und die Landarbeiter sowie den Ordnungsdienst des Landbesitzers zu bezahlen.
Bei den «caporali» handelt es sich um ein althergebrachtes, kriminelles Phänomen auf dem Land in Italien, um die Ausbeutung der Landarbeiter zu gewährleisten. Historisch waren sie «Unterchefs» eines Barons auf dessen Großgrundbesitz. Heute sind es mehr Kleinkriminelle, die ins Mafia-Netz eingebunden sind, die in der Morgendämmerung auf Dorfplätzen und in den Vorstädten auftauchen, um Tagelöhner für die Feldarbeit oder für Baustellen zu rekrutieren. Für diese «Dienstleistung» verlangen die «caporali» manchmal 50 bis 60 Prozent des Tageslohns des Arbeiters, der als Schwarzarbeiter meist unterbezahlt ist