Stanislawa und Boleslaw Szymanik kommen aus Tarnogród, einer kleinen polnischen Stadt im Kreis Zamosc, Region Lublin, nahe der ukrainischen Grenze. In diesem Städtchen lebten vor dem zweiten Weltkrieg 5.000 Polen, Juden und Ukrainer.
Boleslaw Szymanik kann sich noch genau an den Tag im November 1942 erinnern. In seinem Heimatort wurde der ‚Plan Reinhardt’ umgesetzt, der vorsah, die gesamte jüdische Bevölkerung dieser Region zu ermorden. In Tarnogród wurden die jüdischen Frauen, Männer und Kinder auf dem Marktplatz zusammengetrieben und dann an zwei Orte verbracht, wo sie erschossen und vergraben wurden.
Damals war er vier Jahre alt. Sieben Monate später kamen die deutschen Soldaten, die zuvor die jüdischen Nachbarn zusammengetrieben hatten, in sein Elternhaus, um Mutter, Vater, die kleine Schwester und ihn abzuholen.
Das war am 30. Juni 1943, einem warmen, sonnigen Sonntag. Die Wehrmacht umstellte gegen fünf Uhr morgens den Ort. In jedes Haus gingen zwei Zivilisten und ein Uniformierter. Die Familie wurde gefragt, ob sie Polen seien. Die Mutter sagte ja. Daraufhin erhielten sie den Befehl, in zehn Minuten 10 kg zusammenzupacken und sich in Richtung Markt zu bewegen. Kurz danach kamen drei Soldaten, die sie aus dem Haus hinaus drängten.
Die Einwohner von Tarnogród wussten, dass diese Vertreibung auf sie zukommt, denn die Dörfer ringsum waren schon ausgesiedelt. Die Mutter von Boleslaw Szymanik hatte Brot gebacken. Ihm und der Schwester band sie ein Tuch um, in das wickelte sie das noch warme Brot und je eine Flasche Milch. Der Vater vergrub die wenigen Wertsachen im Garten. Boleslaw trieb die Kuh und das Kalb aus dem Stall und gab seinen Kaninchen die Freiheit.
Als sie auf dem Marktplatz ankamen, waren die zusammengetriebenen Bewohner des Städtchens umstellt von deutscher Polizei und Gendamerie, keiner konnte sich entfernen. Die Häuser wurden von Wehrmachtssoldaten durchkämmt. Diejenigen, die sich versteckt hatten und die man fand, wurden auf der Stelle erschossen. 2629 Menschen von Tarnogród wurden an diesem Junitag 1943 ausgesiedelt, davon 1150 Frauen, 850 Männer und 629 Kinder.
Diese Aktion im Kreis Zamosc war Bestandteil eines Planes, der die Ermordung, Aushungerung und Vertreibung von 30 bis 50 Millionen Slawen und die Zwangsgermanisierung riesiger Ländereien in Mittel- und Osteuropa vorsah - dem Generalplan Ost . Im November 1942 begannen die Deutschen, den Hauptteil dieses Planes für die Region Lublin umzusetzen. Dörfer sollten freigemacht werden von 170.000 Polen - für Deutsche aus dem Raum Poznan, aus Bessarabien, dem Baltikum, Russland, der Ukraine. Von November 1942 bis August 1943 wurden 297 Dörfer und kleine Siedlungen „polen- und judenfrei" gemacht. In dieser Zeit wurden im Kreis Zamosc 110.000 Personen ausgesiedelt, darunter 35.000 Kinder. Oft schon zwei Stunden, nachdem die polnischen Familien aus ihren Häusern vertrieben waren, kamen die deutschen Siedler, die schon in Lagern um Lodz und Lublin auf die neue Bleibe warteten.
In diesem Plan wurde auch die „Eindeutschungsfähigkeit" verschiedener Nationalitäten festgelegt: Franzosen, Esten, Slowenen und Tschechen waren danach bis zu 50 Prozent „eindeutschungsfähig", Letten bis zu 30 Prozent, Litauer bis zu 15 Prozent und die polnischen Nachbarn bis zu fünf Prozent. Die „nichteindeutschungsfähigen Prozente" sollten der „Vernichtung durch Arbeit" zugeführt werden.
Vor 60 Jahren, am 28. Mai 1942, wurde der „Generalplan Ost. Rechtliche, wirtschaftliche und räumliche Grundlagen des Ostaufbaues" durch den Berliner Universitätsprofessor und hohen SS-Führer Konrad Meyer an den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, übergeben. Professor Konrad Meyer, Mitglied der NSDAP seit 1932 und der SS seit dem Juni 1933, war hauptverantwortlich für die Erarbeitung des Planes. Im Mai 1945 wurde er verhaftet und im März 1948 im Rasse- und Siedlungshauptamtprozess geringfügig verurteilt. Die drei Jahre Haft wurden ihm angerechnet, danach war er ein freier Mann. Ab 1956 lehrte er als ordentlicher Professor für Gartenbau und Landeskultur an der Technischen Universität Hannover. Er war Mitglied der Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Hannover und des Wissenschaftsrates des Instituts für Raumforschung in Bad Godesberg.
Vor nicht allzu langer Zeit nannten deutsche Historiker den Generalplan Ost noch „Himmlers Tagtraum". Sie leugneten, dass führende Wissenschaftler in den verschiedensten Bereichen die wissenschaftlichen Unterlagen für die Absichten der Faschisten lieferten. Doch der Generalplan Ost war ein „wissenschaftliches Spitzenerzeugnis". Er war in der Tat, wie der inzwischen verstorbene tschechische Historiker Miroslav Kárny feststellte, ein Plan, „in dem Gelehrsamkeit steckte, eine entwickelte Technik der wissenschaftlichen Arbeit, die Erfinderkraft und der Ehrgeiz der führenden Wissenschaftler des faschistischen Deutschland" . Es war ein Plan, „der die verbrecherischen Phantasmagorien Hitlers und Himmlers zu einem vollendet ausgearbeiteten System führte, durchdacht bis in alle entscheidenden Details, durchgerechnet bis zur letzten Mark".
Nun, 60 Jahre später, entschuldigte sich die Humboldt-Universität und ihre Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät offiziell für eines der dunkelsten Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte: für die wissenschaftliche Vorbereitung von NS-Verbrechen in den von den Nazis besetzten Gebieten Mittel- und Osteuropas. Der Präsident der Humboldt-Universität, Jürgen Mlynek, erinnerte dabei an den Rückhalt, den der Wissenschaftler Konrad Meyer, der seine wissenschaftliche Laufbahn nach dem Krieg fortsetzen konnte, unter seinen Kollegen hatte. Helge Swars, Vertreter der Studenten, begrüßte die lange fällige Entschuldigung und verwarf den „Mythos von der Neutralität der Wissenschaft".
Dass es zu dieser Entschuldigung kam, ist dem Einsatz verschiedener Studentenvertretungen, Organisationen Verfolgter des Naziregimes sowie Vertretern verschiedener Institutionen und Einzelpersonen zu danken. Der Agraringenieur Matthias Burchhardt, der 1993 seine Diplomarbeit* zur wissenschaftlichen Erarbeitung des Generalplan Ost beendet hatte, bemüht sich seit fast zehn Jahren, eine Öffentlichkeit für dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte zu schaffen. In diesem Jahr versuchte er, mit verschiedensten Veranstaltungen auf die Übergabe des Planes durch den Berliner Wissenschaftler Meyer an SS-Reichsführer Heinrich Himmler zu erinnern.
Er konzipierte eine Ausstellung für Räume im Berliner Abgeordnetenhaus, die ihm dann nicht zugestanden worden. Deshalb stellte Matthias Burchardt am 17. Mai 2002 einige Tafeln ins Freie, vor das Hohen Haus. Jan Rydel, Kulturattaché der Botschaft der Republik Polen in Berlin und Historiker aus Krakau, wies bei der Eröffnung der „Ausstellung ohne Obdach" darauf hin, dass der Generalplan Ost während des Zweiten Weltkrieges in Polen eine große Rolle spielte und im Gedächtnis vieler Polen tief verwurzelt sei. Die öffentliche Bekanntmachung dieses Planes und seiner Folgen sowie die unrühmliche Rolle der deutschen Wissenschaftler, die daran mitgearbeitet haben, sei ein wichtiger Schritt zur Versöhnung der Völker.
Bei schönsten Sonnenschein, kräftigen Windböen und einer sehr befahrenen Straße war es nicht einfach, den Worten der Anwesenden zu folgen. Grotesk wirkten die zweistöckigen Touristenbusse, die alle zehn Minuten an der Pracht und Herrlichkeit der neuen deutschen Hauptstadt und dem kleinen Grüppchen der Mahner vorbeifuhren.
Stanislawa und Boleslaw Szymanik, Mitglieder des Vereins „Kinder von Zamosc" ließen sich von dem ungewöhnlichen Ambiente nicht beeindrucken. Sie waren der Einladung zur „Ausstellung ohne Obdach" gefolgt und erzählten, was ihnen, ihren Familie und vielen anderen Menschen vor 60 Jahren widerfuhr. Im Verein „Kinder von Zamosc" haben sich die Menschen aus dem Kreis Zamosc organisiert, die dem geplanten millionenfachen Morden entgangen sind.
Die Kreisstadt Zamosc hat den Beinamen ‚polnisches Pienta’. Der Marktplatz ist nach dem Vorbild der italienischen Renaissancestädte erbaut. In einem der Arkadenhäuser dieses Platzes wurde am 5. März 1870 Rosa Luxemburg geboren.
Den Zweiten Weltkrieg überstand Zamosc weitgehend unzerstört. Es war als Zentrum eines ‚Germanisierungsgebietes’ in ‚Himmler-Stadt’ umbenannt worden.
Friedrich Berkner, ein Neffe von Konrad Meyer, wurde bei einer Internetrecherche auf die Veranstaltungen zum Generalplan Ost aufmerksam. Er wandte sich an den Präsidenten der Humboldt-Universität, Prof. Dr. Mlynek. Im Namen der Familie teilte er ihm mit, dass die Universität alles daran setzen muss, die Vergangenheit besser aufzuarbeiten und als Bestandteil ihrer Geschichte anzuerkennen. Friedrich Berkner bemängelte die Unachtsamkeit, mit der die Offiziellen diese Veranstaltungen behandelten. Er schreibt u.a.: „Für mich als jemand, der auch den Beruf des studierten Landwirts ergriffen hat, sind die Parallelen zur momentanen Agrarpolitik erschreckend. Wie Sie sicherlich wissen, ist vorgestern, am 21. November 2001, der Wissenschaftliche Beirat des ehemaligen Landwirtschaftsministeriums aus Protest gegen die (an vergangene Zeiten erinnernde) Agrarpolitik unserer momentanen Regierung zurückgetreten".
Herma Ebinger
EBF
* Burchhard, Matthias: Der Generalplan Ost – ein finsteres Kapitel
Berliner Wissenschaftsgeschichte; Diplomarbeit 1993, Humboldt-Universität zu Berlin, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Landwirtschaftlich- Gärtnerischen Fakultät