VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN: Die Krise der Wahrheit

von Johannes Vogele, EBF u. crise & critique, 15.03.2021, Veröffentlicht in Archipel 301

Die Handlung spielt in der realen Welt, das heisst nirgendwo. 2020 war nicht nur das Jahr der Wiederentdeckung der Pandemie, sondern auch ein grosses Festival der Verschwörungstheorien in all ihrer Vielfalt und all ihren Ausprägungen. Nicht dass diese Formen der Wirklichkeitsdeutung neu wären; sie haben bereits eine lange Geschichte, sicherlich eine Vorgeschichte und zweifellos auch eine Zukunft. Teil 2*.

Krise und jüdische Weltverschwörung

Aber mit der Wirtschaftskrise ab den 1970er und 1980er Jahren, die eine soziale und ökologische Krise, aber auch den ideologischen Zerfall implizierte, kehrten diese Vorstellungen allmählich in die Mitte der Gesellschaft zurück und begannen einen höchst paradoxalen Kampf zu führen: Die Verteidiger einer gesellschaftlichen Norm, die von einem „ungezügelten“ und globalisierten Kapitalismus angegriffen würde, stehen den Verteidigern einer Norm der Vernunft, der Wissenschaft und der Demokratie gegenüber – ohne freilich zu erkennen, dass der gemeinsame Boden, auf dem sie sich bekämpfen und den niemand in Frage stellt, der des patriarchalen Kapitalismus ist, der subjektlosen Herrschaft der Verwertungsmaschine, die in eine tiefe, um nicht zu sagen endgültige Krise geraten ist.

Um nur ein eher triviales Beispiel zu nennen: Weder die Klimaskeptiker – die davon überzeugt sind, dass der Klimawandel eine Lüge ist, um eine Diktatur auf Weltebene zu errichten – noch die Vertreter der Staaten und der Wissenschaft, die Erklärungen und Konferenzen multiplizieren, haben eine echte Lösung, um der globalen Erwärmung zu begegnen. Dies würde zuallererst eine radikale Kritik der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse erfordern. Obwohl es also dringend notwendig ist, die Strömungen der konspirativen Mystifizierung ohne Nachsicht zu bekämpfen, hat es keinen Sinn, dies im Namen jenes Schosses zu tun, aus dem sie gekrochen kommen. Sie entstehen als Krisenphänomen und sind gerade deshalb besonders gefährlich. Weit davon entfernt, die wirklichen Ursachen des Zusammenbruchs der sozialen Verhältnisse und der Beziehungen zur Natur zu benennen, schlagen sie Sündenböcke vor: soziale Gruppen, die ihrem Wesen nach böse seien und deshalb beseitigt werden müssten. Den Theorien nach mag es sich um so weit hergeholte Akteure wie Reptiloide oder andere Ausserirdische handeln, die meisten der erklärten Feinde jedoch sind Menschen wie Banker, Oligarchen und Politiker oder von ihnen geführte Gebilde wie Staaten und Geheimdienste. Hinter all diesen Feindbildern, sowohl in der Funktionsweise, die ihnen unterstellt wird, als auch in den Bildern, die sie repräsentieren sollen, ist sozusagen als Negativ, die „jüdische Weltverschwörung“ unschwer zu erkennen. Auch der grosse Einfluss, den die nachweislich frei erfundenen „Protokolle der Weisen von Zion“ nach wie vor in der Weltöffentlichkeit haben, zeugt davon. Es ist wichtig, sich diese Verwandtschaft vor Augen zu halten, die ihr Gewalt- und Faschismuspotenzial offenbart, wenn man mit jenen „Rebellen“, „Freiheitskämpfern“ und weiteren vermeintlich friedlichen, humanistischen und selbsternannt verfolgten „Aufklärern“ konfrontiert wird. Unter anderem auch deshalb muss jede Form der Verharmlosung des Antisemitismus angeprangert und bekämpft werden.

Von Subjekten und dem freien Willen

Welche Bevölkerungsgruppen sind für Verschwörungstheorien besonders empfänglich? Es gibt eine reichhaltige und widersprüchliche Literatur (und Statistiken) zu diesem Thema, die nicht frei von einseitigen Interpretationen sind. Es ist hier kein Platz, auf diese Überlegungen einzugehen. Eine Beobachtung ist jedoch erwähnenswert: Der deutsche Forscher Michael Butter schreibt: „Die verschwörungstheoretischen Texte, Bilder und Videos, mit denen sich die Kulturwissenschaften beschäftigen, stammen nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute noch fast ausschliesslich von Männern. Dasselbe gilt mehrheitlich auch für die Kommentare unter Videos, Blogeinträgen oder Artikeln mit konspirationistischem Inhalt.“(1) Er fügt in Bezug auf das Anhängertum dieser Theorien hinzu, dass Männer eher an grosse Verschwörungstheorien wie diejenigen über 9/11 und die Neue Weltordnung glauben würden, Frauen eher an solche, die das Leben direkt betreffen, wie Chemtrails oder Impfungen. Letzteres gilt natürlich auch für Männer, die diese aber eher in grössere globale Verschwörungsnarrative einbinden würden.

Die globale Krise des Kapitalismus und ihre grossen Zusammenbrüche erfahren die Einzelnen, also wir alle, in jedem Bereich unseres täglichen Lebens. Arbeitslosigkeit und Elend, ökologische und soziale Verwerfungen, Unsicherheit und Unberechenbarkeit verlangen nach Erklärungen. Die Corona-Krise hat einmal mehr gezeigt, wie fragil diese „Normalität“ ist, an die wir uns klammern. Das moderne Subjekt hatte gelernt, dass alles „eine Sache des Willens“ ist, dass der einzige wirkliche Akteur es selbst ist, ob in seiner individuellen oder kollektiven Form (Nation, Partei, Klasse, Rasse usw.). Aber die moderne Formierung der Subjektivität hatte als Begleiterscheinung die Ingangsetzung einer immensen objektiven Maschinerie, die dem Subjekt und seinem Willen ihre Gesetze diktiert. Das ist der historische Prozess der Kapital- und Verwertungsgesellschaft, des „automatischen Subjekts“ (Marx), das vom Menschen als „zweite Natur“, als Ausdruck eines unausweichlichen Gesetzes verinnerlicht wird. Sie beinhaltet auch von Grund auf eine „Abspaltung“ (Roswitha Scholz) von dem, was als weiblich (und damit als minderwertig) konstituiert wird, und zwar als conditio sine qua non für die Durchsetzung und Reproduktion dieser Gesellschaftsformation. Erst durch diese Verinnerlichung konnte sich das Subjekt (vom Wesen her weiss, männlich und westlich) diesem falsch emanzipierten freien Willen hingeben. Aber die „zweite Natur“ ist ein gesellschaftliches Produkt, und die Subjekte, auf allen Ebenen der sozialen Hierarchie, reproduzieren sie jeden Tag durch ihre Alltagsgesten und die ideologischen Reflexe, die sie entwickeln.

Das verwildernde Subjekt

Die Krise des Kapitalismus ist auch die Krise dieses Subjekts. Komplottismus ist eine anomische Reaktion auf Letztere, motiviert durch die Angst vor Deklassierung, (die bereits im Gange ist), und das verzweifelte Festhalten an einer phantasierten Normalität. Dieser folgt selber dem postmodernen Prozess der Zersetzung: Seine Inhalte sind heute vielfältig und widersprüchlich und haben die „grosse Erzählung“ aufgegeben, die sich nur noch als Puzzle verschiedener, manchmal kurzlebiger Theorien konstituiert. Zu diesem Thema ist es interessant, die Funktionsweise der Pro-Trump-Verschwörungsbewegung „QAnon“ in den Vereinigten Staaten und in der Welt zu betrachten. Wenn soziale Medien durch ihre Funktionsweise sicherlich an dieser Entwicklung teilhaben, wäre es jedoch vergeblich zu versuchen, all diese Entwicklung damit begründen zu wollen.

Schon das Bild jener Capitol-Angreifer, ihre übersteigerte und zur Schau gestellte Männlichkeit, ihr erklärter Rassismus und Antisemitismus sowie ihre spektakuläre Anbiederung an einen Führer, lässt erahnen, wie dieses verfallende westliche Subjekt aussehen wird und zu welchem Hass und welcher Gewalt es in den kommenden Zeiten fähig sein wird. Das Gleiche gilt z.B. auch für Teile der „coronaskeptischen“ Demonstranten in Deutschland. Wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist, auf die serienmässigen Katastrophen zu reagieren, welche die Menschheit und den Planeten heimsuchen, werden die Ernsthaftigkeit und die Grundlage ihrer so genannt „offiziellen“ Aussagen(2) geschwächt oder gar nicht mehr wahrgenommen. Die Gesellschaft spaltet sich und verliert alle gemeinsamen Grundlagen, ausser der verdrängten Krise ihres Reproduktionsmodells. Kein entrüsteter und moralisierender Appell wird ausreichen, um damit umzugehen, wenn wir es nicht wagen, uns der Wahrheit der Krise zu stellen.

Johannes Vogele, EBF, crise&critique

  1. Michael Butter, a.a.O. S. 149/150
  2. Die konspirative Phraseologie der „offiziellen Versionen“ muss natürlich kritisiert werden. Jedoch so zu tun, als ob die herrschenden Politiker-, Wirtschaftsexperten-, Wissenschaftler- und Medienwelten frei von Ideologie wären und rein objektiv daher kämen, wäre selber ja schon ideologisch.
  • Der erste Teil dieses Artikels war in Archipel 300 abgedruckt.