«Die Wahl ist der Rummelplatz des kleinen Mannes, alle vier Jahre da tun wir so, als ob wir täten, aber aufgelöst und regiert werden wir doch», schrieb Kaspar Hauser alias Kurt Tucholsky im September 1930 in der Zeitschrift «Die Weltbühne» über die Erkenntnisse eines selbstständigen Gemüsehändlers nach dem Besuch unzähliger Parteilokale vor der Wahl zum Reichstag.
Rummelplatz der «kleinen Leute», um deren Gunst mehr als 40 Parteien in der BRD zur diesjährigen Bundestagswahl buhlten. Mit primitiven rassistischen und sexistischen Wahlplakaten und einer Skandalpolitik, mit der sie täglich für Schlagzeilen in nahezu allen nach Sensation heischenden Medien sorgte, zog die neu gegründete AfD (Alternative für Deutschland) mit 12,6 Prozent in den Bundestag ein. Nun gibt es Forderungen nach Rücktritten sowie Rücktritte bei den etablierten Parteien wegen der Stimmverluste; Aufregung in den Medien wegen der Stimmgewinne der AfD. In der Union aus CDU und CSU gibt es – nicht nur hinter verschlossenen Türen – heftige Auseinandersetzungen, die vorerst beigelegt wurden, um Kompromisse für eine «Jamaika»-Koalition mit FDP und Grünen zu finden. Umsonst – die FDP entschied sich kurz vor Schluss für das Abbrechen der langwierigen Verhandlungen. Nun wird nach Auswegen gesucht, möglich sind: Grosse Koalition (die SPD ziert sich noch), Minderheitsregierung (könnte spannend werden), Neuwahlen (sind möglichst zu verhindern, sie könnten der AfD, der «Alternative für Deutschland», noch mehr Stimmen bringen).
Seit dem Auftauchen der «Alternative» brodelt es in dieser Partei. Nachdem im Frühjahr 2015 durchgesickert war, dass der Landessprecher und Fraktionschef der Thüringer AfD, Björn Höcke, Verbindungen zur NPD habe, bemühte sich der neoliberale Flügel, Höcke auszuschliessen. Am Bundesparteitag im Sommer 2015 unterlag dieser Flügel und verliess die Partei. Nun, nach dem Einzug in den Bundestag als drittstärkste Partei, verliessen zwei Abgeordnete die Fraktion und die Partei. Und es gerüchtelt, dass mit weiteren Austritten zu rechnen sei, sollte der völkische Flügel weiter die Oberhand gewinnen. Die inneren Kämpfe dürften andauern und sorgen weiterhin für eine banalisierte mediale Präsenz.
Völkische Tendenzen
Das ändert nichts an ultranationalistischen Zielen der AfD, für die sie tausende «Gewinner und Verlierer» begeistert hat. In ihrem Wahlprogramm fordert die AfD die Änderung des Gesetzes zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft vom Geburtsprinzip zurück zum Abstammungsprinzip, das bis zum Jahre 2000 gültig war. Ziel ist dabei der «Erhalt des deutschen Staatsvolks». Das erinnert an den Ariernachweis aus der Zeit des Faschismus. Ebenfalls im Wahlprogramm bekennt sich die AfD zu der ominösen deutschen Leitkultur und verurteilt «Multi-Kultur» als Nichtkultur. Bei solchen Zielen ist es verwunderlich, dass verschiedene Abgeordnete, die mit diesem Programm unterwegs waren, sich nun gegen die völkische Ausrichtung stellen. In mehreren Landtagen haben inzwischen elf Abgeordnete die AfD-Fraktion verlassen. So z. B. auch in Mecklenburg-Vorpommern, wo vier von 18 Abgeordneten der Fraktion den Rücken gekehrt haben. Der Beisitzer im Landesvorstand, Michael Bertram, legte sein Amt nieder mit der Begründung: «Viele Kreisvorstände sind rechts unterwandert.» Mühsam versuchte der «gemässigte» Flügel der AfD eine formal demokratische Fassade aufrecht zu erhalten, die nun nach den Wahlen mehr und mehr abbröckelt. Zum Vorschein kommt eine ziemlich braune Sauce.
So wie in allen privilegierten europäischen Staaten und den USA Parteien Zulauf haben, die mit rassistischen und autoritären Forderungen antreten, hat dies die AfD in der BRD geschafft. Den Nährboden für eine solche Partei haben unter anderem die hitzigen Debatten um den sogenannten «EU-Rettungsschirm», um die Griechenland-Kredite und die verschiedenen Freihandelsabkommen geschaffen.
In Sachsen wurde die AfD stärkste Partei mit 27 Prozent (CDU: 26,9; Linke: 16,1; SPD: 10,5; FDP: 8,2 und Grüne: 4,6 Prozent). In dieser Region fuhr vor 27 Jahren schon einmal eine AfD die grössten Wahlgewinne ein – die «Allianz für Deutschland», ein Bündnis zur Wahl der letzten Volkskammer der DDR. Die «Allianz» trat für die schnelle Wiedervereinigung ein. Die Hoffnungen auf das Paradies haben sich in diesen Breitengraden nicht erfüllt, aber deutsche Treue ist eine Tugend laut Leitkultur – einmal AfD, immer AfD!