Den Ergebnissen zufolge geraten insbesondere Muslime ins Visier. Fast 60 Prozent der Deutschen wollen Muslimen verbieten, ihre Religion auszuüben. Bemerkenswert dabei: Islamfeindliche Einstellungen sind selbst bei der Hälfte der Deutschen verbreitet, die rechtsextremen Aussagen an sich überwiegend kritisch gegenüber steht. Dabei sind rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft sogar stärker ausgeprägt als in der ärmeren Bevölkerungsschicht. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, verstärkt durch die Krise, mache die Mittelschichten anfällig für rechtsextreme Ansichten. Die zunehmende soziale Unsicherheit und das Anwachsen der «prekarisierten Unterschicht» spielen eine wichtige Rolle.
Die sich überschlagenden Debatten zur Integration treiben seltsame Blüten: Kanzlerin Merkel sowie Bayerns Ministerpräsident Seehofer finden, dass der «Multikulti-Ansatz» (was immer das bedeutet) gescheitert sei.
Ein «Star» in dieser Debatte ist Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied, Finanzsenator Berlins von 2002 bis April 2009, danach bis Ende September 2010 Vorstandmitglied der Deutschen Bundesbank. Öffentlich provoziert er schon lange – Hartz-IV-Empfänger*, die «Unterschichten», MigrantInnen. Im Jahr 2008 beauftragte er die Berliner Finanzbehörde, einen detaillierten Speiseplan für Hartz-VI-Empfänger zu erstellen. Demnach könnten sich Arbeitslose schon für 3,76 Euro «völlig gesund, wertstoffreich und vollständig ernähren», meinte Sarrazin gegenüber der «Welt».
Ein Interview in der Oktoberausgabe «Lettre International» zeigt neben rassistischen Äusserungen das mangelnde Geschichtswissen und merkwürdige -verständnis Sarrazins: «Dreißig Prozent aller Ärzte und Anwälte, achtzig Prozent aller Theaterdirektoren in Berlin waren 1933 jüdischer Herkunft. Auch Einzelhandel und Banken waren großenteils in jüdischem Besitz. Das alles gab es nicht mehr, und das war gleichbedeutend mit einem gewaltigen geistigen Aderlass. Die Vernichtung und Vertreibung der Juden aus dem deutschsprachigen Raum insgesamt betraf zu sechzig bis siebzig Prozent Berlin und Wien. Dazu kam der Weggang des klassischen leistungsorientierten Bürgertums. Hermann Josef Abs, Vorstand der Deutschen Bank, wohnte bis 1945 im Berliner Westend. Unauffällig hatte er seine Familie im Herbst 1944 nach Remagen im Rheinland geschafft, wo er 1940 ein Landgut gekauft hatte; er selbst war nach Hamburg entschwunden. Der Siemens-Vorstand hatte im Oktober 1944 beschlossen, die Führung heimlich nach München zu verlegen». Hat er vergessen, dass grosse Teile des «klassischen leistungsorientierten Bürgertums» an der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung beteiligt waren, Herr Abs und der Siemens-Vorstand eingeschlossen?
Ein Berliner Kreisvorstand der SPD hat ein Gutachten zum Interview bei dem Politikwissenschaftler Gideon Botsch vom Moses-Mendelsohn-Zentrum in Potsdam in Auftrag gegeben. Die 21-seitige Studie kommt zu dem Schluss, dass Sarrazin in teilweise herabwürdigender Form türkische und arabische Migranten beschreibe. Diese Passagen seien «eindeutig als rassistisch zu betrachten. Seine Bemerkungen seien nicht bloss Ausdruck unbewusster rassistischer Ressentiments, schreibt Botsch: «Sie dienen vielmehr der bewusst als Tabubruch inszenierten Konstruktion und Mobilisierung von Vorurteilen, verknüpft mit weit reichenden – in dieser Radikalität nur von antidemokratischen, rechtsextremen Parteien erhobenen – Handlungsvorschlägen an die Politik.»
Die «höchste Radikalität» schreibt Botsch der Formulierung Sarrazins in dem Interview zu: «Jemanden, der nichts tut, muss ich nicht anerkennen. Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue Kopftuchmädchen produziert.» Dies ziehe letztendlich eine Logik nach sich, so Botsch, «die tendenziell auf physische Elimination dieser nicht anzuerkennenden Bevölkerungsgruppen aus der Berliner Stadtgesellschaft hinausläuft.»
Der Vorstand der SPD leitete am 30. August 2010 ein Parteiordnungsverfahren mit dem Ziel des Ausschlusses ein, da Sarrazins Thesen «diametral den sozialdemokratischen Überzeugungen entgegen» stünden und teils «Nähe zu nationalsozialistischen Theorien» aufwiesen.
Am gleichen Tag erschien das Buch «Deutschland schafft sich ab» von Thilo Sarrazin, dass inzwischen schon weit über eine halbe Million Exemplare verkauft wurde und ihm mehr als 1,5 Millionen Euro einbrachte. Mit dem Buch ist er auf Lesereise und in Talkshows zu erleben. Und erfährt eine Menge Zuspruch.
*Empfänger von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, erhalten die Miete plus 351 Euro Bargeld im Monat; benannt nach seinem Erfinder Peter Hartz, der bis Juli 2005 Personalvorstand und Mitglied des Vorstands der Volkswagen AG war. Peter Hartz ist Mitglied der SPD und der IG Metall. Er wurde am 25. Januar 2007 wegen Untreue als VW-Vorstand in 44 Fällen zu zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, sowie zu einer Geldstrafe von 360 Tagessätzen a 1.600 Euro (insgesamt also 576.000 Euro) verurteilt.