DEUTSCHLAND/FRANKREICH: Musikalisch gegen Unmenschlichkeit

von Katrin Morawietz, EBF, Karola Kolbe, Radio Zinzine Aurélie Volpe, Boîte à Ressort, 04.03.2017, Veröffentlicht in Archipel 256

Vom 6. bis 8. Oktober 2016 war die Rap-Gruppe Bejarano & Microphone Mafia aus Deutschland auf Einladung des EBF für mehrere Konzerte und Lesungen in Marseille, Forcalquier und Arles zu Besuch. Die Begegnung mit der 92-jährigen Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano war für alle, ob jung oder alt, ein besonders eindrückliches und schönes Erlebnis.

Eine französische Delegation des EBF hatte die Gruppe bei dem Friedensfest am 9. Mai 2015 in Demmin in Mecklenburg-Vorpommern kennengelernt. Ihr Auftritt fand zum Abschluss einer gelungenen breiten Mobilisierung gegen den alljährlich von Neonazis organisierten Fackelzug.1
Mit ihrem Konzert für Frieden und Toleranz bringt Bejarano & Microphone Mafia drei Generationen aus drei verschiedenen Kulturen und Religionen gemeinsam auf die Bühne. Sie interpretierten traditionelle Widerstandslieder in yiddischer, deutscher, türkischer und italienischer Sprache, alle durch Raptexte ergänzt. Seit 2009 singt die 92-jährige Esther Bejarano an der Seite ihres Sohnes Joram und den Kölner Rappern Kutlu Yurtseven und Rossi Pennino. Auch auf diese Weise kämpft sie gegen das Vergessen des Holocausts, den sie als junges jüdisches Mädchen überlebt hat.2 In Deutschland wird die Gruppe in viele Schulen eingeladen, um die Schülerinnen und Schüler für eine kritische Haltung gegenüber rassistischen Parolen der erstarkenden Rechtsextremen zu ermutigen.
Die Zusage der Gruppe für eine Tournee in Südfrankreich motivierte uns, drei Frauen im Namen des EBF sowie von «Radio Zinzine» und der «Boîte à Ressort» die Gesamtorganisation zu übernehmen und viel ehrenamtliche Arbeit zu leisten. Zum Glück unterstützten uns etwa zwanzig Freundinnen und Freunde bei der Realisierung aller Ideen, die mit dem Projekt auftauchten. Mit den Konzerten wollten wir Rassismus und Antisemitismus, die Situation der Migrant_innen und den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft thematisieren. Unser Konzept war, alle Generationen anzusprechen und Aktivist_innen aus verschiedenen Ländern einzuladen. Wir wollten eine Brücke von der Vergangenheit zu aktuellen Entwicklungen und Problematiken schlagen, sprachliche Barrieren überwinden und das Gespräch mit Esther Bejarano, dieser beeindruckenden Zeitzeugin, ermöglichen.
Institutionen und Schulen
Wir suchten Kontakt zu diversen institutionellen Organisationen, zum Beispiel zum Mémorial «Camp des Milles», der grössten Institution zur Vermittlung der Geschichte der Shoah in unserer Region. Sie arbeitet erstens viel mit Zeitzeugen zusammen und möchte zweitens das zivile Engagement gegen Antisemitismus fördern. Die Verantwortlichen fanden unser Projekt zwar interessant; eine finanzielle Unterstützung war jedoch so kurzfristig nicht denkbar. Unsere Ge-sprächspartner_innen verhielten sich äusserst vorsichtig, wahrscheinlich weil sie uns nicht richtig einordnen konnten. Die Stiftung «Fondation pour la Mémoire de la Shoah» in Paris hatten wir kontaktiert, um uns bei der Zusammenstellung eines Begleitheftes für die Tournee beraten zu lassen und uns über die Vermittlung der Shoah auszutauschen. Das Begleitheft mit dem Titel «Se souvenir de ce que des idées racistes sont capable de mettre en oeuvre»3 sollte der Vorbereitung an Schulen dienen und an den Abendveranstaltungen verkauft werden. Das Goethe-Institut von Marseille und das deutsch-französische Zentrum in Aix-en-Provence verschickten immerhin die Konzertdaten über ihre Verteiler. Die Kapazitäten der deutschen Botschaft waren vom bevorstehenden «Tag der deutschen Einheit» in Anspruch genommen. Von einer jungen, sehr motivierten Deutschlehrerin des Gymnasiums Marcel Pagnol in Marseille erhielten wir schon im Juni eine definitive Einladung für eine Lesung mit Esther vor ihren Deutschklassen. Die Lehrer_in-nen vom Collège in Forcalquier sagten uns im September 2016 ihre Teilnahme am Projekt zu.
Im Sommer hatten wir stolz das Begleitheft in den Händen, als erstes sichtbares Ergebnis dank viel spontaner Mitarbeit. Es beinhaltet die Übersetzungen von allen Liedern, sowie eines Interviews mit Esther Bejarano. Wir hatten Texte zur Gruppe, zu unserer Idee und zur Shoah geschrieben, sowie eine Bibliographie zusammengestellt. Die Künstlerin Luitgard Sievers hatte zur Illustration eigens Werke kreiert. Die grosse Unbekannte war, ob sich ein französisches Publikum trotz der Sprachbarriere gewinnen liesse. Deshalb hatten wir einen perfekt zweisprachigen Freund mit Bühnenerfahrung für die Tourneebegleitung als Übersetzer engagiert.
Greifbare Geschichte
Am Vortag des 6. Oktobers 2016 holten wir Esther und Joram spätabends vom Flughafen ab. Kutlu sollte tags darauf kommen, Rossi war aus beruflichen Gründen verhindert. Der erste Termin war am folgenden Nachmittag im Gymnasium in Marseille, in einem sozial durchmischten Bezirk, dessen Bewohner_innen sichtbar Vorfahren auf allen Kontinenten haben. Die Direktorin hatte uns zum Essen in die Schulkantine eingeladen. Während Esthers Lesung war es mucksmäuschenstill. Die Lehrerin hatte den Auszug aus Esthers Memoiren im Unterricht mit ihren Schüler_innen unter den verschiedensten Aspekten durchgenommen und beschlossen, dass sie den Text in Orginalsprache hören sollten. Ohne Scheu stellten die etwa hundert Schüler_innen ihre zahlreichen Fragen, die sie vorbereitet hatten. Mit Hilfe des Übersetzers antwortete Esther in schlichten, eindringlichen Worten. Als Überraschung hatte der Musiklehrer mit einigen Schüler_innen ein kleines musikalisches Programm vorbereitet. Zum Schluss drängelten sich alle um die zierliche Esther, sei es um ein Autogramm, ein Selfie mit ihr oder beides zu ergattern.
Der nächste Termin fand im «Équitable Café», einem alternativen Treffpunkt in Marseille statt. Parallel zur Schulveranstaltung hatte ein Freund hier seinen vorbereiteten Diavortrag «Die Shoah, Nazipropaganda und moderner Antisemitismus anhand der Biographie von Esther Bejarano» gezeigt. Bei der anschliessenden Diskussion mit 30 bis 40 Teilnehmern war zum zweiten Mal in diesen Tagen von einer Person aus dem linksalternativen Milieu zu hören, dass die Hochfinanz von Juden wie Rothschild kontrolliert sei. Offensichtlich gibt es hier noch grossen Diskussionsbedarf.
Am Abend las Esther vor einem dicht gedrängten Publikum wieder aus ihren Erinnerungen. Für uns war es die Feuerprobe, ob wir es schafften die schriftlichen Übersetzungen zeitangepasst über eine Leinwand zu schicken. Spürbar war auch dieses Publikum tief von Esthers Präsenz ergriffen. Die Musik und Kutlus Kommentare mit prompter humorvoller Übersetzung brachten das Publikum in Stimmung und rissen es mit.
Begeisterte Schüler_innen
Für den 7. Oktober 2016 waren im städtischen Kulturzentrum von Forcalquier eine Vorstellung am Nachmittag vor allem für Schü-ler_innen und eine am Abend geplant. Für diesen Veranstaltungsort konnten wir sogar zwei Ausstellungen organisieren: «Vichy und die Juden» vom Archiv des Departements und die Zeichnungen samt Texten über das Leben der Migrant_innen im Dschungel von Calais von einer jungen Künstlerin, die dort ein Jahr gelebt hatte. Die vier Abschlussklassen aus dem Collège der kleinen Stadt besichtigten sie mit ihren Geschichts-, Französisch, Kunst- und Musiklehrer_innen. Seit mehreren Wochen hatten sie das Ereignis fachübergreifend vorbereitet. Zu Beginn des Konzerts las ihnen Esther aus ihrem Buch vor. Wieder erzählte sie, wie sie nach Auschwitz gekommen ist und dort überlebte, weil sie im Mädchenorchester war und wie sie später nach Ravensbrück verlegt wurde. Sie beschrieb ihre Flucht auf dem Todesmarsch und wie sie das Ende des Krieges mit amerikanischen und russischen Soldaten feierte. Die Schüler_innen stellten auch hier viele Fragen zu damals und zu heute. Die einfache, authentische Art von Esther zu antworten, begeisterte alle. Am Ende des Konzerts standen alle Jugendlichen auf, um die Lieder, die sie einstudiert hatten, mitzusingen. Dann stürmten sie die Bühne. Die Lehrerinnen und Lehrer hatten ihre liebe Mühe die Schüler_innen weg von Esther wieder in die wartenden Autobusse zu bekommen. Vor der Abendvorstellung lud das lokale Komitee «Solidarité Migrants 04» zu einer Diskussion über die Situation der Migrant_innen in Europa ein. Aktivist_innen aus Deutschland und Österreich berichteten über die Initiativen in ihren Ländern. Der anwesende Bürgermeister rühmte sich, zwei Migranten in seiner Gemeinde aufgenommen zu haben, verschwand aber, bevor er um mehr gefragt werden konnte. Am Abend war der Saal mit 350 Plätzen gut gefüllt. Vor allem vielseitig lokal engagierte Menschen waren gekommen.
Am letzten Tag ging es nach Arles. Hier lud der Bürgermeister zu einem kleinen Empfang mit einigen Stadträten und der Presse ein. Nach seiner langen Ansprache über die Stadtgeschichte und Esthers Verdienste, liess Esther es sich nicht nehmen, ihn dringend zur Aufnahme von Migrant_in-nen in Arles zu mahnen. Das Konzert fand abends in einer düsteren ehemaligen Kirche mit einer schwierigen Akkustik statt. Der Techniker leistete ein wahres Bravourstück. Zwei Schulklassen und etwa achtzig Personen füllten die Kirchenbänke.
Wie es weitergeht
Während wir Esther, Joram und Kutlu von einem Termin zum anderen begleiteten, verbrachten wir sehr reichhaltige und intensive Tage mit ihnen, und der Abschied fiel uns schwer. Umso mehr macht es uns Freude zu hören, was die Begegnungen mit der Gruppe im Nachhinein bewirken. So haben alle 90 Jugendliche aus Forcalquier spontan Briefe an Esther geschrieben, die zum Grossteil von den Deutschklassen in Marseille übersetzt wurden. In diesen Briefen ist zu lesen, wie berührend Esther Bejarano es geschafft hat, das Thema der Shoah und seine ungebrochene Aktualität zu vermitteln. Ein abstrakter Unterrichtsinhalt hatte sich in lebendige Geschichte verwandelt. Die Musik war für die jungen Menschen attraktiv und hatte sie schon im Vorfeld neugierig auf den Anlass gemacht.
Gerade hören wir, dass das «Mémorial de la Shoah» in Paris mit der Gruppe Kontakt aufgenommen hat und einen Auftritt im Juni 2017 plant. Jetzt im Januar 2017 sind Esther und ihre Jungs erst einmal auf Kubatournee.
Katrin Morawietz, EBF,
Karola Kolbe, Radio Zinzine
Aurélie Volpe, Boîte à Ressort

Tourneekalender unter: www.bejarano-microphonemafia.de
CD-Bestellungen: Per la Vita und La Vita Continua, Al Dente Recordz, Köln.
Buchveröffentlichung: Esther Bejarano, Antonella Romeo, «Erinnerungen. Vom
Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen Rechts», Laika Verlag.