Dieser Artikel schildert die Politik der Bundesregierung gegenüber den Flüchtlingen bis Mitte September 2015. Da sich die Ereignisse zurzeit sehr schnell weiterentwickeln und mit jedem neuen Medienbrennpunkt leicht in Vergessenheit geraten, möchten wir die Vorgeschichte beleuchten..
Seit Jahren, und verstärkt seit April diesen Jahres, versuchen zehntausende Flüchtlinge, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Viele von ihnen sind dabei ertrunken und Italien rief erfolglos die Europäer zur Unterstützung bei der Aufnahme der Gestrandeten auf. Die deutsche Bundesregierung forderte den Einsatz von Kriegsschiffen im Mittelmeer zur Bekämpfung der Schlepper. Die inzwischen durch spektakuläre Aktionen bekannt ge-wordenen Lampedusa-Flüchtlinge, die es geschafft haben, bis nach Deutschland zu kommen, und eine kollektive Regularisierung fordern, sind bis heute mit der gnadenlosen Ablehnung der Behörden und mit polizeilicher Verfolgung konfrontiert. Inzwischen sind gegen das Massensterben im Mittelmeer immer mehr private Initiativen entstanden, wie das Rettungsschiff Seawatch oder das Notruftelefon Watch The Med, die versuchen, die Festungspolitik der EU zu durchbrechen. Die katholische und evangelische Kirche haben dazu aufgerufen, angesichts des Flüchtlingselends nicht wegzuschauen, wodurch Kirchgemeinden ermutigt wurden, vermehrt ihre Kirchen zum Schutz von Flüchtlingen zu öffnen. Monatelang hat die Bundesregierung die Verantwortung für die Unterbringung der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen den Gemeinden und Ländern überlassen, die kurzfristig für tausende Flüchtlinge Unterkünfte und Betreuung bereitstellen mussten.
Überall in Deutschland wurde die Ankunft der Flüchtlinge von nationalistischen Organisationen genutzt, um unter dem Deckmantel so genannter besorgter Bür-ger_innen Proteste vor den geplanten oder bereits bewohnten Unterkünften zu organisieren. Ihre rassistische Hetze, ihre Angriffe auf Flüchtlinge und die Brandanschläge auf Unterkünfte wurden weder von der Regierung noch von den Sicherheitsexperten besonders ernst genommen. Es blieb weitgehend antifaschistischen Gruppen überlassen, sich den Rassisten entgegen zu stellen. Die Regierungspartei CDU hielt sich fein zurück, wie zum Beispiel in meinem Landkreis, wo der Landrat (CDU) dem stellvertretenden Landrat (Die Linke) die Aufgabe übertrug, die Gemeinden von der notwendigen Unterbringung der Flüchtlinge zu überzeugen und sie notfalls zur Aufnahme zu zwingen.
Plötzlicher Umschwung
Als die Konfrontation zwischen nationalistischen Kräften und den durch immer mehr Flüchtlinge überforderten Gemeinden eine Welle der Solidarisierung mit den ankommenden Flüchtlingen in der Bevölkerung auslöste, kam der unerwartete Umschwung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Am 26. August besuchte sie die Gemeinde Heidenau, die seit zwei Wochen durch faschistische Aufmärsche gegen die Notunterbringung von 600 Flüchtlingen in einem ehemaligen Baumarkt europaweit in den Schlagzeilen war. Die Bundeskanzlerin verkündete, die Flüchtlinge seien willkommen und die Bundesregierung werde keine Pöbeleien, Beleidigungen und tätliche Angriffe auf Flüchtlinge dulden. Wenige Tage später erhob sie den Empfang von Flüchtlingen in den Rang einer nationalen Aufgabe. Diese Aufgabe umriss sie ungefähr so: Angesichts der Not zigtausender Flüchtlinge werde die Bundesregierung menschlich und unbürokratisch handeln. Syrische Flüchtlinge seien in Deutschland willkommen, auch wenn sie über ein anderes EU-Land nach Europa eingereist sind, die Regierung werde keine Obergrenze festlegen. Die meisten syrischen Flüchtlinge sind gut ausgebildet und sollen so schnell wie möglich in die Wirtschaft integriert werden. Aber, um denjenigen zu helfen, die wirklich in Not sind, werde man allen, die in ihrer Heimat nicht bedroht sind, klar machen, dass hier kein Platz für sie ist. Die Bundesregierung verlange von allen EU-Ländern, dass sie einen angemessenen Beitrag zur Aufnahme der Flüchtlinge leisten. Gegen rassistische Anfeindungen werde mit aller Härte vorgegangen; sie warne vor einer neuen rechtsterroristischen Gefahr.
Was hat sie damit erreicht?
Zunächst hat sie ihren Ruf einer kalten, unmenschlichen Machtpolitikerin in Europa zumindest kurzfristig relativiert, gleichzeitig aber ihren Führungsanspruch gegenüber allen anderen EU-Ländern demonstriert. Sie setzte eigenmächtig das Dublin-III-Abkommen vorübergehend ausser Kraft, in dem geregelt ist, dass Flüchtlinge nur in dem Land, in dem sie in die EU eingereist sind, einen Antrag auf Asyl stellen können. Eigentlich wäre es wünschenswert, dass dieses Abkommen definitiv und im Einklang mit der EU aufgehoben würde, so wie es Asylinitiativen seit langem fordern. Aufgrund dieses Abkommens schiebt Deutschland seit Jahren Flüchtlinge nach Griechenland, Ungarn, Polen oder Italien zurück. Die Unternehmer_innen stellen sich jetzt plötzlich hinter die Kanzlerin, weil die gut ausgebildeten Syrer_innen dringend in der Wirtschaft gebraucht werden. Sie gehen davon aus, dass diese bereit sind, für einen geringen Lohn zu arbeiten. Demzufolge sollen sie auch schnell und unbürokratisch in das Arbeitsleben integriert werden, während Flüchtlinge anderer Herkunftsländer über Jahre keine Arbeitserlaubnis erhalten.
Der Grossmut gegenüber den Syrer_innen soll die schnelle Abschiebung von tausenden Flüchtlingen anderer Herkunftsländer verschleiern. In Wirklichkeit sagt sie: Roma und Afrikaner raus, Syrer rein. Serbien, Mazedonien und der Kosovo wurden kurzer-hand zu sicheren Drittstaaten erklärt und die Abschiebungen sind in vollem Gang.
Wie sieht die Realität aus?
Die staatlichen Flüchtlingsämter sind mit der politischen Entscheidung völlig überfordert, nachdem sie jahrelang gelernt hatten, wie die Flüchtlinge abzuschrecken seien. In den völlig überfüllten Erstaufnahmelagern der verschiedenen Länder herrschen unmenschliche Bedingungen, und ein unbürokratischer Elan der Behörden ist genau so wenig zu spüren wie eine unbürokratische finanzielle Unterstützung durch die Bundesregierung. So wird ein Grossteil der konkreten Hilfe auf die Bevölkerung abgeschoben, die sich in einer unerwartet grossen Mobilisierung mit den Flüchtlingen solidarisiert, und zwar unabhängig von deren Herkunft. Im ganzen Land bilden sich spontan Gruppen von Bürgern_innen, die zusammen mit Kirchen und Vereinen tatsächlich und unbürokratisch helfen. Hier in Rostock zum Beispiel kümmern sich viele Menschen selbstorganisiert unter dem Motto «Rostock hilft» um den Empfang der Ankommenden. Diese werden in alternativen Kulturzentren untergebracht und so gut wie möglich versorgt, während die Stadt und auch die Landesbehörden in der ersten Zeit durch Abwesenheit auffallen. Mit jedem Fährschiff nach Schweden können 75 Flüchtlinge weiterreisen, wenn sie von einer Person oder mehreren Menschen aus Rostock begleitet werden. Bevor die Situation in den zentralen Aufnahmelagern zur Katastrophe eskaliert, erhält die Bundeswehr Gelegenheit für einen «humanitären Einsatz» und glänzt durch die schnelle Bereitstellung von 1000 Betten – obwohl dafür eigentlich zivile Organisationen durchaus ausgerüstet und vorbereitet sind, wie das Rote Kreuz oder das Technische Hilfswerk. Die Gelegenheit ist günstig, um das Bild von einer «humanitären» Armee zu prägen.
Wie geht es weiter?
Der Bundesinnenminister hat bereits angekündigt, Deutschland müsse den Zustrom von Flüchtlingen verlangsamen, und hat die Grenzkontrollen an der österreichischen Grenze wieder eingeführt. Die nächste Etappe soll die Einrichtung riesiger Auffanglager in Griechenland und Italien sein, wo alle ankommenden Flüchtlinge registriert und sortiert werden. In dem Vorschlag der EU-Kommission werden diese Zentren als so genannte «Hotspots» bezeichnet, um die Flüchtlingsbewegungen besser zu kontrollieren. Von dort werden die einen die Festung Europa wieder verlassen, die anderen auf dem Arbeitsmarkt angeboten und auf die Länder verteilt. Dazu zählen zurzeit lediglich Flüchtlinge aus Eritrea, Syrien und dem Irak. Die Planung für die ersten beiden Zentren in Griechenland und Italien sind abgeschlossen, ihre Kontrolle soll die europäische Grenztruppe Frontex übernehmen. Schon jetzt sind zwei Kriegsschiffe in Richtung Mittelmeer mit der Mission unterwegs, die Boote, mit denen die Flüchtlinge übersetzen, ausserhalb der Hoheitsgewässer abzufangen und nach Evakuierung der Insass_innen zu zerstören. Was dann mit den Flüchtlingen passieren soll, wird nicht erwähnt. Die Regierung hat beschlossen, 950 Soldaten für diese Aufgabe zu mobilisieren. Als nächste Etappe sieht Innenminister de Maizière die Einrichtung von Auffanglagern in Nordafrika unter EU-Verwaltung vor. Es ist kaum damit zu rechnen, dass die solidarischen Menschen in Deutschland, die zusätzlich beinahe täglich mit Aufmärschen rassistischer Organisationen konfrontiert sind, diese oder andere militärische Scheinlösungen protestlos hinnehmen werden.
ZuFlucht Wendland Kampagne 10‘001
Zuwanderung als Chance begreifen
Das Wendland ist eine Region im Bundesland Niedersachsen, die durch die jahrelangen Proteste gegen das Atommüll-Lager in einem ehemaligen Salzbergwerk und gegen die Transporte von radioaktiven Abfällen bekannt geworden ist. Seitdem die Transporte eingestellt wurden, ist es ruhig geworden um diese von der Landwirtschaft geprägten Region, die von Abwanderung bedroht ist. Seit Anfang dieses Jahres versucht die Initiative «ZuFlucht Wendland», diese Region durch die Einladung von 10‘001 Menschen, deren Heimat durch Krieg verwüstet wurde, neu zu beleben. Ihr Aufruf hat breite Beachtung in der Bevölkerung gefunden. Es werden leerstehende Häuser gesucht und Begegnungsstätten für und mit Flüchtlingen eingerichtet. Beratungsstellen sowie Möbel- und Kleidersammelstellen unterstützen die erste Unterbringung und Freiwillige bieten Deutschkurse an. Flüchtlinge, die bereits hier leben, kommen auf öffentlichen Veranstaltungen zu Wort. Die Initiative hat zum Ziel, den bedrohten Menschen bereits in ihrer Herkunftsregion Flugtickets zur vermitteln, damit sie nicht länger auf die teuren und lebensgefährlichen Dienste von Schleppern angewiesen sind. Bei ihrer Ankunft sollen sie, wenn sie es wünschen, die vollen Bürgerrechte erhalten. Nur so können sie sich an der Neugestaltung der Region wirklich beteiligen.
Weitere Informationen unter: