Ein Gespräch mit Wolfgang Dressen* über das veränderte Auftreten militanter Rechter, die Frage von Krieg und Frieden und die Inflationierung des Antisemitismusvorwurfes.
Das Interview führte Markus Bernhardt, es ist in «Junge Welt» vom 30.07.2011 erschienen .
M.B.: Am 3. September wollen die militanten «Autonomen Nationalisten» anlässlich des von ihnen ausgerufenen «Nationalen Antikriegstages» erneut in Dortmund aufmarschieren und gegen «die internationalen Kriegstreiber – allen voran die USA mit ihren dazugehörigen Vasallenstaaten» demonstrieren. Was halten Sie von der Inszenierung der Neonazis als Kriegsgegner?
W.D.: Das erste Septemberwochenende ist von ihnen für ihren sogenannten Antikriegstag ausgewählt worden, weil im September 1939 angeblich ein Weltkrieg gegen Deutschland begonnen hat. Sie folgen damit der Rede Hitlers von 1939, in der er die «Vernichtung des europäischen Judentums» ankündigte, wenn Deutschland wiederum in einen Weltkrieg verwickelt würde. Dieser Antisemitismus ist offen in der Internetpropaganda der Neonazis für ihren Aufmarsch zu finden, so, wenn Israel als «internationale Völkermordzentrale» bezeichnet wird. Oder in einem Video, auf dem Pierre Krebs vom Thule-Seminar in Kassel das «Judäo-Christentum» für den «Verfall der Völker» verantwortlich macht. Die aktuellen Kriege werden in diesem Zusammenhang als ein Dritter Weltkrieg gegen alle freien Völker interpretiert. In Europa finde dieser neue und entscheidende Weltkrieg als «Ethnozid» statt: die geplante Vernichtung der europäischen Völker durch Einwanderung und «Vermischung». Gegen diesen Angriff sei jede Gegenwehr berechtigt.
Die deutschen Soldaten in Afghanistan werden demnach missbraucht. Die Neonazis bezeichnen sie in ihrem Aufruf als «Helfer der Hochfinanz», ein übliches Kürzel für «Judentum». Wie schon im Zweiten Weltkrieg würde von den USA, bestimmt von der «Hochfinanz», ein Angriffskrieg gegen die Welt geführt, und wie 1939 bleibt deshalb der Verteidigungskrieg notwendig. So heißt es auf einer Homepage der Neonazis: «Nie wieder Krieg nach unserem Sieg.»
Der sogenannte Antikriegstag der Neonazis muss deshalb als eine offene Kriegserklärung verstanden werden.
Das äußere Erscheinungsbild der Neonazis hat sich zunehmend verändert. Wurde die Szene früher von schlichten Gemütern im Skin-headoutfit dominiert, sind dort heutzutage zunehmend Personenkreise aktiv, die das Bild vermitteln, im Leben zu stehen. Welche Gefahren gehen von der – nennen wir es – Modernisierung der Nazis aus?
Diese «Modernisierung» bedeutet, dass die Neonazis in der Gesellschaft angekommen sind. Nicht mehr nur neurechte Krawallmacher, sondern normale und leistungsbereite Menschen folgen den rechten Aufrufen. Das hat Tradition. Das Erstaunen nach 1945, dass die Täter «normale Menschen» waren, basiert auf einer Fehleinschätzung des Nazismus.
Gerade der autoritäre und leistungsbereite «Normalmensch» spaltete von sich selbst als fremd und feindlich ab, was ihm versagt war. Anpassung führte zum Rassismus. Den «anderen» wurde alles zugeschrieben, was man sich verbieten sollte, nur «Arbeit macht frei». Gemeint war in diesem Sinne die Lohnarbeit, die aber erst befreite, wenn es nichts «anderes» mehr gab. Insofern bedeutete die «Endlösung» immer auch Vernichtung des fremden Selbst. Mit den verschärften Anpassungszwängen der neoliberalen Gesellschaft bis in die Schulen wird dieser normale Mensch, besonders wenn die Anpassung nicht zum erwünschten Erfolg führt, wiederum zum Kreuzritter gegen alles andere, das er sich dauernd verbieten muss.
Bereits seit einigen Jahren versuchen Neonazis, ursprünglich linke Codes und Inhalte zu kopieren und zu vereinnahmen. Mit Erfolg?
Einerseits steckt dahinter eine Dekonstruktionsstrategie: Die Begriffe des linken Gegners werden übernommen und umgedreht, so zum Beispiel der des Antikriegstags. Das bedeutet Angriff auf dem Terrain der linken Widersacher. Der Nazijurist Carl Schmitt hat dafür den Begriff des «politischen Partisanen» geprägt, der auch in der Neonaziszene übernommen wird.
Schmitt berief sich auf die Befreiungskämpfe gegen die Franzosen ab 1813 besonders in Preußen und auf den spanischen Guerillero, der in Spanien gegen die französische Besatzung und für die klerikalen und feudalen Vorrechte kämpfte. In beiden Fällen handelt es sich um einen reaktionären «Volkskrieg» gegen die französis-che Revolution und gegen gesellschaftliche Emanzipation.
Andererseits wird an diesem Beispiel deutlich: Die Rechte kann linke Begriffe usurpieren, weil die Linke auch rechte Begriffe benutzt. Der undifferenzierte Gebrauch des Begriffs «Volk» als Subjekt der Befreiung – also etwa die Verwendung von Begriffen wie Volkskrieg, Befreiungskampf der Völker usw. – macht diesen für die Rechte anschlussfähig: «Volk» als eine historische Konstruktion, zwischen Romantik und reaktionärer rassistischer Projektion, im Gegensatz zur «Nation» der französischen Revolution, dem Ergebnis politischer Befreiung. Auf diesen Begriff der Nation, nicht auf den des Volkes, konnten sich auch die Haitianer berufen, als sie sich vom französischen Kolonialismus befreiten.
Ähnlich werden rechte Begriffe und Vorstellungen übernommen im Begriff der «Heuschrecke», in der Vorstellung eines «Finanzkapitalismus», der moralisch besonders schlecht handele. Diese moralische Argumentation verweist auf die rechte Unterscheidung zwischen «schaffendem» und «raffendem» Kapital, auf die falsche Unterscheidung zwischen den Arbeitsmenschen und den Spekulanten. Die kapitalistische Basis der Lohnarbeit und des Mehrwerts wird damit ausgeblendet. Auch diese Moralisierung bleibt anschlussfähig für Neonazismus und Antisemitismus. Es käme also für die Linke darauf an, ihre eigene Begrifflichkeit selbstkritisch zu untersuchen.
Dortmund verfügt über eine der bundesweit mobilisierungsfähigsten Naziszenen. Seit Jahren kommt es kontinuierlich zu massiven Gewalttaten gegen Privatwohnungen von Antifaschisten, gegen Parteibüros von Linken und Bündnis 90/Die Grünen, alternative Cafés und Buchläden. Wie konnte es in einer westdeutschen Großstadt soweit kommen?
Darauf gibt es zwei Antworten. Zunächst scheint es Sympathien bis in die «normale Gesellschaft» zu geben. Bekannt wurde etwa die Teilnahme eines hohen städtischen Beamten und SPD-Mitglieds an einer Neonazidemonstration. Zudem können die Neonazis Einrichtungen der Linken angreifen, Menschen verletzen, sogar ermorden, weil die Polizei und andere Behörden auf dem rechten Auge blind sind.
Wenn Antifaschisten Neonazidemos blockieren wollen, müssen sie hingegen mit den schärfsten Angriffen der Staatsgewalt rechnen. Vielleicht ist es aber auch falsch, das wäre eine dritte Antwort, auf Neonazis nur zu reagieren. Antifaschisten sollten ihnen keinen Platz lassen: Nicht für ihre Demos, nicht an ihren Treffs, nicht in ihren Wohnungen.
Mancherorts haben Menschen, die sich selbst dem linken Spektrum zurechnen, die Thematisierung der sozialen Frage und die offensive Ablehnung von Kriegen aufgegeben. Einige sprechen sich sogar für die imperialistischen Kriegsaktionen der «westlichen Wertegemeinschaft» aus. Hingegen punkten die Neonazis ausgerechnet bei jungen Menschen mit der Ablehnung von Krieg und Besatzung. Welche Verantwortung trägt die politische Linke an dieser Entwicklung?
Da möchte ich Ihnen die Geschichte einer Studentin aus Sachsen-Anhalt erzählen: Sie berichtete mir, sie sei unpolitisch; in ihrem Heimatkreis sei die Linkspartei Teil des korrupten Systems. Wenn sie politisch wäre, würde sie sich den «Freien Kameradschaften» anschließen, und dann folgten die üblichen völkischen und antisemitischen Erklärungs- und Identifikationsmuster. Diese Studentin ist ernst zu nehmen: Wenn Die Linke bestenfalls einer Politik des kleineren Übels anhängt, dann muss sie sich nicht wundern, wenn die Menschen rechten Parolen folgen.
Die Rechte hat es schon immer verstanden, eine Ästhetik der Entschiedenheit zu vermitteln. Dieser bloße Schein wird nicht durchschaut, wenn das Rot und der Name der Linkspartei nur noch als Werbemarke wahrgenommen werden.
Was die Kriegsbefürworter innerhalb des linken Spektrums insgesamt betrifft: Wie schon in der Geschichte der Grünen folgt die Befürwortung imperialistischer Kriegsaktionen aus einer bestimmten Interpretation der Nazivergangenheit. Sie wird personalisiert – wenige Exzesstäter – und aus ihrem gesellschaftlichen und historischen Umfeld gelöst. Dann können neue «Hitler» überall auf der Welt entdeckt und bekämpft werden. Der imperialistische Krieger verkleidet sich also als Antifaschist. Dagegen hilft noch immer oder wieder eine intensive und nicht auf Gedenktage beschränkte Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus, ein Mangel in großen Teilen der linken Gruppierungen.
Zwar protestieren vielerorts Menschen gegen neofaschistische Provokationen und Gewaltexzesse, verzichten jedoch darauf, das Erstarken der extremen Rechten gesellschaftlich einzuordnen. Selbst die zunehmende Militarisierung der bundesdeutschen Innenpolitik – wie etwa bei den antifaschistischen Protesten im Februar in Dresden – lässt nur verhältnismäßig wenige aufhorchen. Warum?
Es ist schon erstaunlich. Die Antinazidemo im September in Dortmund wird intensiv vorbereitet. In Nordrhein-Westfalen liegen kriegswichtige Stützpunkte: Der Flugplatz der AWACS in Geilenkirchen oder der zentrale Flughafen in Köln-Wahn. Warum wird der Betrieb dieser Stützpunkte nicht zumindest symbolisch blockiert? Die Bundeswehr wirbt an Schulen, «Jugendoffiziere» sind auf diese Aufgaben spezialisiert. Wieso können diese Kriegsverführer ihrer Tätigkeit unbehelligt nachgehen? Wichtige Rüstungsstandorte liegen in diesem Bundesland, so «Rheinmetall» in Düsseldorf. Wieso kann dort der Geschäftsbetrieb ohne Polizeischutz alltäglich abgewickelt werden?
Die antifaschistische Linke scheint sich in ihrem Antikriegskurs nicht ernst zu nehmen: Wenn es wirklich darum geht, Kriege zu verhindern, warum wird dies nicht offensiv versucht? Ein Nebeneffekt dieser Schwäche: Die Neonazis können mit ihrem scheinbaren Antikriegskurs punkten.
Ein weiterer Schwachpunkt linker Gruppierungen bleibt die Übernahme des Extremismusbegriffs. Auch bei erheblichen Anstrengungen gelingt es bisher nicht, diesen Begriff in linken Veröffentlichungen oder Reden zu vermeiden. Immer wieder taucht der gefährliche «Rechtsextremismus» auf. Damit wird die Vorstellung einer politisch korrekten politischen Mitte übernommen, die von den extremen Rändern bedroht werde. Das entspricht nicht dem historischen Nazismus und auch nicht der gesellschaftlichen und politischen Gegenwart. Faschismus war und ist eine politische Reaktion der gesellschaftlichen Mitte auf die Bedrohung ihrer Machtpositionen. Das zur politischen Funktion, aber der Faschismus bleibt auf eine breite Unterstützung angewiesen. Und hier steckt ein wirkliches Problem für linke Gruppierungen.
Ich muss hier noch einmal auf die psychische Basis des Rassismus zurückkommen. Der Psychoanalytiker Arno Gruen hat einmal vom «Wahnsinn der Normalität» gesprochen. Er meinte damit die Normalität des korrekt funktionierenden Menschen, der alles von sich abspalten muss, was er sich nicht zugestehen darf. Diese Anforderungen steigen im Neoliberalismus, bis zur «Förderung» schon in den Kindergärten. Produziert wird damit nicht nur der angepasste Bürger, sondern auch der fleißige Lohnarbeiter, der sich mit seiner Arbeit identifiziert, gleichgültig gegenüber deren Inhalt.
Alle dabei notwendigen Abspaltungen werden in Konstruktionen von «Fremden» projiziert, die sich angeblich alles erlauben, was sich dieser «erfolgreich» erzogene Normalmensch nicht leisten darf. Das bleibt die psychische Basis jedes Rassismus. So kann auch der «gute Arbeiter» zum Rassisten werden, denn diese «gute Arbeit» bleibt in der bürgerlichen Gesellschaft die Lohnarbeit, die ohne Verdrängung nicht auskommt. In dieser rassistischen Einstellung liegt die gefährliche Möglichkeit einer breiten gesellschaftlichen Basis des Neonazismus, nicht im «Extremismus», sondern in der «Normalität».
Vielfach kommt es wegen des Nahostkonfliktes zu massiven Auseinandersetzungen, die die politische Linke in den letzten Jahren massiv geschwächt haben…
Insgesamt geht es hier ebenfalls um das Problem, dass linke Gruppierungen rechte Parolen übernehmen, hier in Gestalt eines Philoisraelismus. Viele jüdische Menschen sind empört, wenn der Boykottaufruf gegenüber Israel, zumindest gegenüber Produkten aus den besetzten Gebieten, von Linken abgelehnt wird, weil der Aufruf an die Naziparole «Kauft nicht bei Juden» erinnere. Diese Jüdinnen und Juden argumentieren mit Recht, sie möchten als jüdische Menschen nicht mit Israel identifiziert werden. Das sei rassistisch und nur der Umkehrschluss der Antisemiten.
Schon in den 50er Jahren hatte in der Bundesrepublik eine kritiklose Unterstützung Israels oft die Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten des Nazismus ersetzt. Von den Hermann Josef Abs, Hans Globke, Theodor Oberländer und Co wurde damit abgelenkt. Antisemiten brauchen dabei aber ihren Rassismus gar nicht aufzugeben: Die abstrakt negative wird in eine abstrakt positive Bewertung umgedreht.
Grundsätzlich bleibt: Deutsche tragen aufgrund des Holocaust eine besondere Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden. Das bedeutet ein entschiedener Kampf gegen jeden Antisemitismus, wo auch immer er auftritt. Das bedeutet aber auch ein entschiedener Kampf gegen jeden Rassismus, auch wenn er von einer israelischen Regierung vertreten wird.
In diesem Zusammenhang: Diese besondere Verantwortung besteht auch gegenüber Sinti und Roma. Und Roma werden aus der Bundesrepublik «abgeschoben». Das ist nicht hinnehmbar und müsste von Antifaschisten weitaus entschiedener bekämpft werden.
Die Inflationierung des Antisemitismusvorwurfes ist jedoch nicht nur bei der politischen Rechten, sondern selbst bei Mitgliedern Ihrer Partei in vollem Gange...
Ich musste zweimal lesen, aber Gregor Gysi hat es wirklich gesagt, in einem Interview im Neuen Deutschland am 17. Juni 2011. Ich möchte das zitieren: «Wenn man heute als deutscher Linker akzeptiert, dass den Deutschen ein Staat geblieben ist, in dem sie die Mehrheit stellen, den Juden aber gleichzeitig erklärt, sie dürfen aber nur in einem Staat leben, in dem sie eine Minderheit sind, dann ist das für mich nicht akzeptabel.»
Diesen Satz muss man genau lesen. Da Gysi «Deutsche» «Juden» gegenüberstellt, meint er wohl nicht die Staatsangehörigkeit, sondern die «Volkszugehörigkeit», da werden sich in Deutschland aber die Migranten freuen, dass sie nicht die Mehrheit stellen dürfen. Wie will Gysi das erreichen? Geburtenkontrolle oder was? In Israel leben etwa 20 Prozent Menschen nichtjüdischer Herkunft, sie müssen auch darauf achten, nicht zu viele Kinder zu bekommen.
Mit dieser völkischen Argumentation wird «rechts» argumentiert. Die Linke sollte sich nicht wundern, wenn völkisch Gesinnte gleich das Original bevorzugen.
Vielleicht wandte sich Gysi damit gegen die Einstaatenlösung?
Da wäre eine gründlichere Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll. Schon früh haben Linkszionisten wie Martin Buber oder jüdische Kommunisten einen einzigen Staat auf dem Gebiet des früheren Palästinas gefordert, in dem Menschen palästinensischer und jüdischer Herkunft, gleich welcher Religionszugehörigkeit, gleichberechtigt zusammenleben. Die komplizierte Trennung in zwei Staaten würde in beiden Staaten völkische Tendenzen befördern. Gerade die Erfahrung des deutschen Nazismus müsste es nahelegen, völkische Lösungen grundsätzlich abzulehnen. Aber hier wären wir wieder am Anfang des Interviews: Wieso haben die Neonazis Zulauf?