Vom 7. bis 9. Mai 2015 fand in der Stadt Demmin (Mecklenburg-Vorpommern) eine internationale Begegnung anlässlich des 70. Jahrestages zum Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Diktatur statt. Archipel berichtete vorgängig darüber (siehe Nr. 234 und 235).
Das «Aktionsbündnis 8. Mai Demmin» organisierte zu diesem Anlass öffentliche Konferenzen, kulturelle Veranstaltungen und eine Friedensdemonstration. An der Abschlusskundgebung sprachen der Kreistagspräsident, Landtagsabgeordnete und internationale Gäste. Nach dieser Friedensdemonstration am 8. Mai kam es zu verschiedensten Strassenaktionen wie Sitzblockaden, Tanz- und Singblockaden, um den angekündigten Fackelmarsch der neonazistischen NPD zu verhindern. Die Neonazis begehen hier seit mehreren Jahren den Tag der Befreiung als Trauertag, an dem sie an «die deutschen Opfer nach der Niederlage» erinnern. Dabei missbrauchen sie die dramatische Geschichte einer Selbstmordwelle in Demmin nach Ankunft der Roten Armee Ende April 1945.
Internationale Beobachter_innen
Da die Polizei letztes Jahr mit brutaler Gewalt gegen die friedlichen Proteste der antifaschistischen Demonstrant_innen vorgegangen war, mobilisierte das EBF auf Anfrage des Aktionsbündnisses zwölf internationale Beobach-ter_innen aus Belgien, Grossbritannien, Kamerun, Frankreich und der Schweiz, die das Verhalten der Demonstrant_innen und vor allem dasjenige der Polizei im Auge behalten sollten. Die Teil-nehmer_innen an den Protesten bescheinigten der internationalen Delegation, dass sie einen wesentlichen Beitrag zum friedlichen Ablauf der Demonstrationen geleistet hat. Nur vereinzelt kam es zu unübersichtlichen, von Nervosität geprägten Situationen. Die aus Solidarität angereisten Antifaschist_innen aus Hamburg, Rostock und Berlin traten insge-samt friedlich auf und die 800 Polizist_innen, welche rund 800 bis 1.000 Demonstrant_innen (fast im Verhältnis Eins zu Eins) in Schach halten sollten, hatten offenbar die Anordnung erhalten, dieses Mal bürger_innenfreund-licher aufzutreten. Mehrere hundert Menschen aus verschiedenen Ländern hatten im Vorfeld persönlich an den Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern geschrieben, um den Behörden und damit der Polizei ein besonnenes Verhalten nahezulegen. Zudem wurde der Einsatzleiter vom letzten Jahr ausgewechselt. All dies änderte jedoch nichts daran, dass das massive Polizeiaufgebot dazu da war, um den Marsch der Neonazis zu ermöglichen.
Blockaden mit Fantasie
Das Aktionsbündnis hält in seiner Pressemitteilung vom 9.5.2015 fest: «Ein beeindruckendes Beispiel für Zivilcourage waren zahlreiche friedliche und fantasievolle Blockaden. Dadurch kam der in diesem Jahr zahlenmässig deutlich kleinere Neonazi-Aufzug (ca. 150 Personen, Anm. d. Red.) immer wieder zum Halten und musste sich der ablehnenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger stellen. Dabei waren vielfältige Protestformen zu sehen: Es wurde getanzt, gesungen und Musik gemacht. (…) Die Neonazis mussten stundenlang ausharren, bis sie auf ihrer Route weiterkamen. (…) Im Ergebnis haben die Veranstaltungen vom Aktionsbündnis und den Demonstrant_innen zum ersten Mal in Demmin den Neonazi-Aufzug erfolgreich aufgehalten. Das engagierte Auftreten und die gezeigte Zivilcourage haben deutlich gemacht: Demmin bleibt bunt!»
Der Protest war ein Erfolg und hat den engagierten Menschen neuen Mut gemacht. Trotzdem kamen die Neonazis an ihr Ziel, wenn auch mit grosser Verspätung und ganz kurz vor Ablauf der genehmigten zeitlichen Frist für ihren Marsch. Ein Kordon von Polizist_innen mit scharfen Polizeihunden riegelten den «Trauerakt» am Demminer Hafen gegen die Protestierenden ab. Dabei handelt es sich um den gleichen Skandal wie die Jahre zuvor. Anstatt dass die Landesregierung den Marsch verbietet, zumal der Tag der Befreiung in Mecklenburg-Vorpommern ein offizieller Gedenktag ist, und die Handhabe für ein Verbot vorhanden wäre, schützt sie ihn. So hatten die internationalen Beobachter_innen zum Schluss den bedrückenden Eindruck, dass der politische Revanchismus in Deutschland wieder auflebt.
Ein breites Spektrum
Zum Glück gibt es «ein anderes Deutschland», das gegen dieses Phänomen Widerstand leistet, sich mit Flüchtlingen und Immigrant_innen zusammentut, die Militarisierung der Gesellschaft ablehnt und verschiedenste Friedens- und Menschenrechtsinitiativen ergreift. Die öffentlichen Konferenzen vom 7. und 8. Mai vor den Demonstrationen boten ein breites inhaltliches Spektrum, das aufzeigte, dass es den engagierten Menschen nicht um ein Protest-Ritual gegen die Neonazis geht, sondern hauptsächlich um eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Missständen und einer neu auftauchenden Militarisierung der Gesellschaft in Europa und in der Welt. Am Tag nach den Demonstrationen, am 9. Mai, lud das Aktionsbündnis noch zu einem Friedensfest ein. Die 90-jährige Musikerin und Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano zeigte zusammen mit der Rap-Gruppe «Microphone Mafia» eine aussergewöhnliche Präsenz mit politischen Texten und mitreissender Musik.* Das Publikum reagierte tief berührt, mit Tränen in den Augen, dann mit tanzenden Beinen. Die Stimmung besagte ganz einfach: «Wir geben nicht auf!»
Der Bericht der interationalen Delegation kann hier angeschaut werden. Und hier finden Sie eine A3-Zusammenfassung der Ereignisse und Berichte zum Ereignis.
* Mehr Informationen unter: www.bejarano-microphonemafia.de
Buchhinweis: Esther Bejarano: Erinnerungen – Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts. Herausgegeben von Antonella Romeo, Laika Verlag, Hamburg, 2013