Lustig, manchmal beklemmend, historisch, politisch, radikal, konzentriert informativ, auf den Punkt gebracht: Der Comic «Der Ursprung der Welt» von Liv Strömquist handelt vom weiblichen Geschlechtsorgan.
In 6 Kapiteln nimmt uns die schwedische Politikwissenschaftlerin, Radiomoderatorin und Comiczeichnerin mit auf eine Reise durch die Jahrhunderte und Gesellschaften. Sie zeigt, wie die weibliche Sexualität und das weibliche Geschlechtsorgan je nach historischem Kontext und Stellung der Frau in der Gesellschaft ganz unterschiedlich, ja teilweise komplett widersprüchlich dargestellt wurde. In der gesamten patriarchalen Geschichte allerdings – Überraschung! – jeweils als Instrument zur Entmündigung und Entmächtigung der Frau. (Von anderen Geschlechtern gar nicht zu reden, diese werden entweder gleich bei der Geburt «zurechtgeschnitten» oder auf andere Weise «zurechtgedrückt» oder ausgeschlossen). So wurde beispiels-weise der Sexualtrieb der Frau je nach Bedarf als zügellos und unkontrollierbar oder als eigentlich gar nicht vorhanden erklärt. Beides diente der allgemeinen Argumentation, die natürlich ausschliesslich von Männern geführt wurde, dass Frauen schwächer und allgemein weniger fähig (zu allem) seien, was zur logischen Schlussfolgerung führt, sie beherrschen oder anführen zu müssen. Und überhaupt: Was ist eigentlich das weibliche Geschlechtsorgan, wie sieht es aus, wo fängt es an, wo hört es auf, was gehört alles dazu? Ein Aspekt, der sich durch das ganze Buch zieht, ist dessen Reduzierung auf die Vagina, also das Verbindungsstück zwischen den eigentlich sichtbaren Teilen der Vulva und der Gebärmutter. Was steckt dahinter und war das schon immer so? In den ersten drei Kapiteln erfahren wir von Göttinnen aus verschiedenen vorchristlichen Religionen und Kulten, bei denen rituelle Vulvaschauen zur Verehrung dazu gehörten, die Anhän-ger·innen stärkten und insgesamt die Moral hoben. Einige Relikte davon haben sich sogar bis in unsere Zeit gehalten. Allerdings lesen wir auch von Scheusslichkeiten in der jüngeren Vergangenheit wie Klitorisbehandlung mit Säure oder gleich das Herausoperieren der Klitoris gegen Onanie, von konkreten Aktionen gewisser Kirchenmänner im Frühchristentum und während der Hexenprozesse und von Diskriminierungen intersexueller Menschen. Im Kapitel über den Orgasmus beschreibt sie unter anderem, wie die Darstellung und Definition der menschlichen Sexualität im Laufe der Jahrhunderte den Bedürfnissen der Gesellschaften angepasst wurde, um den Platz, den man der Frau zuwies, zu rechtfertigen. Es gibt auch eine Zeichnung der Klitoris nach aktuellem Erkenntnisstand zur Veranschaulichung, falls es jemand noch nicht wissen sollte: sie ist nämlich nicht bloss der kleine Zipfel am oberen Ende der Vulva, sondern ein wesentlich (!!) grösseres Organ.
Scharfsinniger Humor
In den letzten drei Kapiteln geht es um Gefühle von Schuld, Scham und Angst von Frauen in Bezug auf die eigenen Genitalien, die eigene Sexualität, um die Periode und das prämenstruelle Syndrom (PMS).Diese Gefühle sind bekann-terweise eine ausgezeichnete Grundlage für Unterdrückung. Der Umgang mit der Periode und dem PMS hat im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Wandel durchlaufen. Hierzu gibt es ebenfalls historische Beispiele, Ausflüge in die Welt der Mythologie und Märchen sowie uns bekannte Darstellungen der Themen in heutiger Zeit. Was mich am meisten berührt hat, ist die Niederschwelligkeit von Liv Strömquist, in so ein grosses Thema einzusteigen. Durch die Aufarbeitung als Comic auf 140 Seiten macht sie diese verschiedenen Aspekte des Umgangs mit der weiblichen Sexualität so zugänglich, dass ich die ganze Zeit laut «DANKE» schreien will! Das Ganze entwickelt seinen besonderen Charme vor allem durch den scharfsinnigen Humor, der sehr viel über die Zeichnungen transportiert wird. Natürlich ist alles krass reduziert, das geht ja auch gar nicht anders in dieser Form, allerdings gut recherchiert und mit vielen Quellenangaben versehen für diejenigen, die mehr wissen wollen. Die Inhalte des Buches sind auch in kurzen Zeiteinheiten und mit relativ geringem Konzentrationsaufwand leicht aufzunehmen – und machen gleichzeitig Lust, tiefer einzusteigen. Das macht es für mich zu einem Schatz, den ich gern in Kollektivräumen herumliegen lasse und verschenke – auch an Vollzeitarbeitende, die abends müde nach Hause kommen, stillende Mütter oder Menschen, die einen akademischen Schreibstil ablehnen oder zu anstrengend finden. Prädikat: Grossartig! Diese unterschwellige Haltung «Hallooo, geht’s noch?! Wir sind jetzt im 21. Jahrhundert!» stimmt mich zuversichtlicher und leichter im Herzen! Das kann nur hilfreich sein! Von der gleichen Autorin gibt es übrigens zwei weitere Bücher mit ähnlicher Sprengkraft und nach bewährter Methode zwischen Witz, Schock und Recherche.
Julia Jahnke
Liv Strömquist, Der Ursprung der Welt, Taschenbuch 140 S., avant-verlag, 2017
Liv Strömquist, Der Ursprung der Liebe, Taschenbuch 136 S., avant-verlag, 2018
Liv Strömquist, I’m every woman, Taschenbuch 112 S., avant-verlag, 2019