Sexualisierte Gewalt als Symptom und Instrument des Patriarchats – das ist nur ein Aspekt der Unterdrückung von Frauen und anderen Kleingehaltenen. Nicht bloss in «fernen» Ländern und Kulturen, sondern auch in Europa sind täglich Menschen davon betroffen. Dieser Artikel kratzt nur ein bisschen an der Oberfläche und ist der Auftakt einer Serie, in der wir uns intensiver diesen und anderen Facetten des Patriarchats widmen wollen. Triggerwarnung1: Für Personen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, kann dieser Artikel verstörend sein.
Ich habe mich gefragt, ob man·frau in einer politischen Monatszeitschrift von der eigenen sexualisierten Gewalt schreiben darf, die man·frau in der Kindheit, Jugend oder als Erwachsene erlebt hat? Oder nur über gesamtgesellschaftliche Phänomene oder Schicksale, die andere betreffen? Keine Angst, ich werde mich nicht in Details über schreckliche Erlebnisse ergehen. Der Punkt ist, dass sexualisierte Gewalt meist von einzelnen gegen einzelne ausgeübt wird und in die immer noch aktuelle Kultur des Schweigens systemerhaltend in genau dieses System eingebettet ist. Die Kämpfe für die Gleichberechtigung der Frau haben in den letzten Jahrzehnten einiges verändert. Das dient manchen als Argument, dass Frauen, wenn sie nur wollten, die gleichen Möglichkeiten im Leben nutzten könnten wie Männer. Davon sind wir leider weit entfernt, aber die Ungleichheiten sind subtiler geworden.
Wie alle wissen, werden auch heute noch Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt und sind weniger in verantwortungsvollen Positionen und öffentlichen Diskursen vertreten. Und immer noch sind tagtäglich Frauen sexualisierter Gewalt in physischer und psychischer Form ausgesetzt. Und immer noch trauen sich die meisten nicht, nach einer Vergewaltigung darüber zu sprechen – aus Scham und aus anderen Gründen. Als Jugendliche dachte ich, aus irgendwelchen Gründen würde ich Freundinnen (und Freunde) mit sexualisierten Gewalterfahrungen anziehen, bis ich irgendwann begriff, dass es kaum Frauen und Mädchen gibt, die davon verschont geblieben sind. Im besten Fall deuten wir die Erlebnisse so um, dass es uns weniger schadet. Auch komplette Verdrängung von Gewaltsituationen aus dem Gedächtnis ist eine geläufige Bewältigungsstrategie. Die #metoo-Bewegung hat erheblich dazu beigetragen, Diskussionen über sexualisierte Gewalt und (patriarchische) Machtstrukturen aus den feministischen Milieus heraus in eine breitere Öffentlichkeit zu heben.
Ein Tag pro Jahr
Am Internationalen Frauentag, dem 8. März 2019, war ich in Berlin – als erstes Bundesland hat Berlin diesen Tag zum gesetzlichen Feiertag erklärt und tatsächlich waren diese Themen sehr präsent. Es gab Demonstrationen, Lesungen, Filme und Workshops. In allen Buchläden gab es rund um diesen Internationalen Frauentag mindestens einen Tisch mit einer Fülle von neuen Büchern über Feminismus, sexualisierte Gewalt als Unterdrückungsinstrument, Selbstbestimmung, starke Frauen in der Geschichte, Vaginas und Vulvas, den Unterschied zwischen Sexismus als Ideologie und Frauenfeindlichkeit als dessen Durchsetzungssystem, etc… Die Freitagsausgaben der Tageszeitungen waren voll von Geschichten über ganz unterschiedliche Frauen. Auf der Strasse und in den Cafés bin ich nicht wenigen Männern begegnet, die allein mit ihren kleinen Kindern unterwegs waren. Der 8. März als Feiertag ist ein gutes Symbol, aber der Weg ist noch weit. Ein einziger Tag im Jahr wird nichts am strukturellen Problem ändern. So tief sitzen die Mechanismen, die uns – Frauen wie Männer – auf eine Weise handeln lassen, die zementiert, was uns nicht gut tut, uns unfrei macht, voneinander trennt und Energie bindet, die an anderer Stelle fehlt.
Wenn ich in diesen Tagen mit Freund·inn·en über die Themen, die mich gerade sehr bewegen, gesprochen habe, konnte ich mein Gegenüber oft kurz zusammenzucken sehen oder einen langsamen Wimpernschlag – zu und wieder auf – beobachten. Ich kenne wirklich sehr wenige Frauen, die nicht irgendwann in ihrem Leben sexualisierte Gewalt oder Demütigung erfahren haben. Im Gespräch mit Männern ernte ich dafür oft aufrichtiges und betroffenes Staunen. Die möglichen persönlichen Folgen sind inzwischen eigentlich bekannt, aber mir ist es noch ein bisschen zu abstrakt, was das wirklich für unser Zusammenleben und -arbeiten sowie für unser Bemühen um eine bessere Welt bedeutet. Selbst in alternativen Milieus gibt es eine mysteriöse Trennung zwischen unseren Idealen und unseren persönlichen Interaktionen. Die Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre hat das schon thematisiert und den Satz «Das Private ist politisch» geprägt.
Verantwortung übernehmen
Wir können uns nicht mit Schuldzuweisungen an Einzelne begnügen. Es geht darum, Verantwortlichkeiten zu erkennen – individuell und kollektiv – und gemeinsam zu lernen, Hand in Hand und offenen Auges und Herzens vorwärts zu gehen. Die Logik des Systems zu verstehen, zu begreifen, was auch wir alle unbewusst verinnerlicht haben, und wie wir dadurch das System erhalten. Auch wenn es manchmal weh tut. Sehr weh tut. Oft sind Täter·innen vorher Opfer gewesen und oft werden Opfer auch zu Täter·inne·n, wie auch immer sich das konkret manifestiert. Es kann subtil sein, eher psychologisch. Manchmal unbewusst. Wir können uns auch über diese Begriffe an sich – Opfer/Täter – streiten. Was transportieren sie für mich, für dich? Alternativ werden die Begriffe Betroffene, Überlebende, Gewaltausübende... verwendet, um nur einige zu nennen. Auch wenn die intellektuelle Auseinandersetzung in meinen Augen sehr wichtig ist, reicht sie nicht aus. Wir können nicht gleichzeitig im Kopf und im Körper sein. Der Intellekt ist ein Sammelsurium aus Einflüssen, denen wir im Laufe unseres Lebens ausgesetzt sind und aus denen wir das formen, was wir als unser persönliches Denken, unsere Werte und Meinungen ansehen. Was dabei herauskommt, hängt aber stark davon ab, wann und wie wir mit welchen Ideen von welchen Menschen in Berührung gekommen sind. Das können viele sich nicht aussuchen und oft verinnerlichen wir auch Dinge, die andere Teile unseres Bewusstseins ablehnen. Ein kleines Beispiel wäre das aktuelle Schönheitsideal für Frauen.
Das einzige, was uns – theoretisch – voll und ganz gehört, ist unser Körper und dessen Empfindungen. Deshalb sind auch Übergriffe auf diesen einen Körper, der uns gehört, so wirksam, um den Geist zu brechen. Sie greifen an der Basis, am letzten Refugium, dem letzten Versteckwinkel oder der letzten Auftankstation. Auch Männer (bzw. wenn, dann meist Jungen) und Inter·Trans·etc-Menschen erleben sexualisierte Gewalt, bei der es in der Regel ebenfalls um Demonstration oder Erhalt von Macht geht. Ich beschränke mich hier erst einmal auf die Gewalt gegen Frauen als Instrument zur Aufrechterhaltung einer patriarchischen Gesellschaftsordnung. Dabei ist es für mich aus dieser Perspektive nebensächlich, ob mir «nur» im Bus ein fremder Mann an meine Geschlechtsteile greift, der Chef mich über Jahre mit sexualisierten Kommentaren auf meinen Platz verweist oder ob der Familienfreund mich im Kinderzimmer penetriert. Alles basiert auf einer internalisierten Hierarchie, in der die Frau unter dem Mann steht. Traumatisierung lässt sich zudem nicht an «Fakten» festmachen, sondern hängt vom persönlichen Erleben der Situation ab. Ich wage es nicht, von Lösungsansätzen zu sprechen. Ich weiss nur, dass ich mich selbst für mich und meine nahen Beziehungen einsetzen muss, aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus. Das kann auf einer ganz persönlichen Ebene geschehen, mit mir selbst, meinen Freund·inn·en, den Gruppen, in denen ich lebe und arbeite, bis hin zu Aktivismus in einem grösseren Rahmen, d.h. ohne zwingenden direkten Kontakt. Die intellektuelle Auseinandersetzung halte ich für wichtig, aber ohne Körperlichkeit / Verkörperung (dass wir unseren eigenen Körper bewohnen) bleiben die Worte hohl. Da uns seit Jahrtausenden der Zugang zu unserem eigenen Körper abtrainiert wird, gibt es dort jede Menge nachzuholen. Damit beschäftige ich mich in meinem direkten Umfeld. Für den Diskurs erscheinen mir Texte, Berichte, Buchbesprechungen in schriftlicher Form – auch im Archipel – ein essentieller Mosaikstein. Es gibt unzählige verschiedene Aspekte und mögliche Ansatzpunkte oder Perspektiven. Tatsächlich existiert spätestens seit den 1960er/70er Jahren eine Fülle von Literatur und Broschüren, die bisher allerdings eher in kleineren Kreisen bekannt sind. Ich habe jedenfalls einen ganzen Stapel frischer Bücher aus Berlin mitgebracht. Einige davon werden wir in der nächsten Zeit hier vorstellen.
Julia Jahnke, EBF
- Der Begriff «Trigger» kommt aus dem Englischen und bedeutet «Auslöser.» Die Triggerwarnung wurde für den Schutz von Menschen eingesetzt, die unter (posttraumatischen) Belastungsstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen leiden. Sie soll Menschen, die etwas Verstörendes oder Lebensbedrohliches erlebt haben, helfen, Inhalte, Diskussionen oder Berichte zu meiden, die zu einer Erinnerung an das erlebte Trauma und damit zu einer Angst- oder Panikreaktion führen können.