Die Schliessung der Balkanroute ist nicht gelungen. Weiter-hin sind Menschen unterwegs Richtung Norden. Allerdings sind die Fluchtwege gefährlicher, die Methoden der Abschreckung grausamer geworden. Ende März beginnt in Bosnien die Landschaft zu grünen, die Kirschbäume blühen, in den Dörfern ragen die Minarette wie angespitzte Bleistifte in den Frühlingshimmel. Gruppen von Menschen ziehen in der Abenddämmerung warm angezogen, mit Schlaf- und Rucksack bepackt, Richtung Grenze. Unter Leitung des Europäischen BürgerInnenforums (EBF) haben wir uns als sechsköpfige Delegation auf den Weg gemacht, um die Lage der Menschenrechte an der bosnisch-kroatischen Grenze zu erkunden. Uns haben Zeugen- und Medienberichte über massive Gewaltausübung der kroatischen Grenzpolizei und das Aussetzen des Rechts auf Asyl im EU-Mitgliedsland Kroatien alarmiert. In Velika Kladuša im äussersten Nordwesten Bosniens angekommen, ist unser Fahrzeug gleich umringt von jungen Männern, die um Geld, Essen und Hilfe bitten. Seit Schliessung der Balkanroute unter der politischen Führung des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz stranden in Bosnien aufgrund seiner geographischen Lage an der EU-Aussengrenze zahlreiche Flüchtlinge. Im Kanton Una-Sana hat die Behörde eine Obergrenze von 3‘500 Menschen, die in Flüchtlingslagern versorgt werden, festgelegt. Alle anderen sind obdachlos. Hunderte hausen ausserhalb der Camps in leerstehenden Häusern, Ruinen und Zelten ohne ausreichende Nahrung, medizinische Versorgung und die Möglichkeit, sich selbst und ihre Kleidung zu waschen. Aus den überfüllten Lagern in Griechenland werden sich in der wärmeren Jahreszeit Zehn-tausende Richtung Norden auf den Weg machen und in Bosnien stranden. Auf Nachfrage bei der Fremdenpolizei finden von offizieller Seite keine Vorbereitungen statt, um die Lage humanitär zu bewältigen. In den folgenden Tagen führten wir Gespräche mit einem Polizeiinspektor des zuständigen Service for Foreigners’ Affairs (Fremdenpolizei) in Biha, Mitarbeiter·innen der IOM (Internationale Organisation für Migration), ausländischen und einheimischen Freiwilligen, der Ombudsfrau in Kroatien und dem Center For Peace Studies in Zagreb.
Menschlichkeit als Verbrechen Gleich am ersten Abend sprachen wir mit jungen Frauen aus Österreich, die mit ehrenamtlicher Arbeit die Menschen unterwegs unterstützen. Die Behörden hatten Anfang März 2019 alle internationalen Freiwilligen mit rechtlich fragwürdigen Begründungen des Landes verwiesen: Ihre NGOs seien nicht als Hilfsorganisationen angemeldet, die Freiwilligen nicht registriert, was vorher nirgends in Bosnien ein Problem war. Die beiden Frauen verteilen heimlich Kleidung an die Geflüchteten, immer auf der Hut, nicht von der Polizei entdeckt zu werden. Auch bosnische Helfer·innen werden an ihrer Arbeit gehindert, obwohl ihre Unterstützung mehr als nötig und oft die einzige Hilfe ist. Selbst verletzte Flüchtlinge dürfen nicht im Auto mitgenommen werden. Wer sich illegal im Land aufhält, sei kriminell. Wer Kriminelle im Auto mitnehme, sei selbst kriminell, erklärt uns Inspektor Enes von der Fremdenpolizei schlüssig. Wir besuchten zwei Flüchtlingslager mit sehr unterschiedlichen Standards: In Miral, einer leerstehenden Fabrikhalle, sind 700 alleinstehende Männer untergebracht, im Hotel Sendra bei Biha leben etwa 250 «vulnerable persons», das sind Frauen, Familien mit Kindern und unbegleitete Minderjährige. Das Miral-Lager richtete die IOM auf die Schnelle ein, nachdem eine Gruppe von Refugees mit einer Grenzblockade im Oktober 2018 erfolgreich gegen die fehlende Infrastruktur protestiert hatte.
Fehlendes Asylsystem, massive Gewalt Es stimmt nicht, dass alle Menschen auf der Flucht in die EU wollen. Bosnien-Herzegowina ist ein disfunktionaler Staat mit hoher Korruption. Wer vor Krieg, Verfolgung und Hunger flieht, für den ist es hier dennoch besser als im Herkunftsland. Aber wie um Asyl ansuchen? Bei der Registrierung – 24‘000 Personen im Jahr 2018 – bekommen alle eine White Card nur in bosnischer Sprache, die 14 Tage gültig ist. Wer in diesem Zeitraum nicht um Asyl ansucht, hält sich illegal im Land auf. Für die Asylanträge stehen nur drei Beamte zur Verfügung. Trotz ungenügender Rechtsberatung und Übersetzung gelang es im Jahr 2018 mehr als 1‘500 Personen einen Asylantrag zu stellen. Die Verantwortung der EU ist nicht von der Hand zu weisen: Bosnien hat seit Ende des Krieges 1995 mit dem Vertrag von Dayton und dem 2015 in Kraft getretenen EU-Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, das den EU-Beitritt vorbereitet, einen Grossteil seiner Souveränität eingebüsst. Ein funktionierendes Asylsystem einzurichten, stand wohl nicht auf dem Plan der internationalen Organisationen und der EU, neoliberale Reformen mit Privatisierungen und Abbau des Sozialsystems schreiten hingegen zügig voran. Wir sprachen mit mehreren Dutzend Geflüchteten in den Camps sowie auf den Strassen der Städte: Sie erzählten uns vom Mangel an ärztlicher Versorgung und Nahrung, von Krätze-Epidemien und dass es unmöglich sei, ihre Rechte durchzusetzen. Die Verzweiflung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie berichteten uns eindrücklich von der massiven physischen und psychischen Gewalt der kroatischen Grenzpolizei und zeigten uns Wunden, die sie bei Push Backs davongetragen hatten. Die Polizei übt systematisch Gewalt an Menschen aus, um sie daran zu hindern, die EU zu betreten. Sie treibt Geflüchtete, die um Asyl ansuchen möchten, mit der Behauptung zurück, es gäbe in Kroatien kein Asyl. Mitglieder von NGOs, die Flüchtlinge zur Polizei begleiten, um einen Asylantrag zu stellen, werden als Schlepper kriminalisiert und zu hohen Geldstrafen verurteilt. Push Backs sind in Europa verboten: Menschen dürfen nicht ohne rechtmässige Klärung der Fluchtgründe über eine Staatsgrenze zurückgewiesen werden. Kroatien ist im Bewerbungsverfahren um Aufnahme in den Schengenraum, das bis 2020 abgeschlossen sein soll. Wird hier die Grenze mit allen – auch illegalen – Mitteln dichtgemacht, um sich als Kandidat zu bewähren? Die kroatischen Grenzbehörden werden in ihrer Arbeit von der Europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX personell unterstützt, ausgebildet und technisch ausgestattet. Betroffene berichten, dass nicht nur Polizisten in kroatischer Uniform Gewalt ausüben. Inwiefern FRONTEX an Gewalthandlungen beteiligt ist, muss die EU dringend aufklären.
Hilfe und Solidarität Die Solidarität der bosnischen Bevölkerung mit den Flüchtlingen war von Anfang an gross, wohl auch aufgrund der eigenen Erfahrungen mit Krieg, Leid und Verfolgung. Auch in Velika Kladuša haben anfangs viele Leute Kleider für die Flüchtlinge gewaschen, Essen gekocht, Medikamente besorgt und manchmal Familien mit Kindern bei sich zuhause aufgenommen. Aber auch international kommt etwas in Bewegung: Amnesty International und die Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlichten Berichte über die Menschenrechtsverletzungen. Medico International, Frankfurt, arbeitet an einer interaktiven Plattform «Pushback-Mapping», auf der Rechtsbrüche und systematische Gewalt an Europas Grenzen visualisiert werden, um spätere Klage- und Asylverfahren zu unterstützen. Ende März erging ein ausführlicher Protestbrief an die EU-Kommissare Avramopoulos (Migration) und Stylianides (humanitäre Hilfe), in dem 30 Abgeordnete des Europäischen Parlaments Aufklärung und ein Ende der Gewalt fordern. Milena Zajovi von der NGO «Are You Syrious?» aus Zagreb, die borderviolence dokumentieren (siehe Archipel Nr. 278), hielt Ende März eine aufrüttelnde Rede vor dem Europäischen Parlament. Die Zagreber Rechtsanwältin Sanja Jelavi vertritt die afghanische Familie Husseini vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, nachdem der kroatische Verfassungsgerichthof ihre Beschwerde abwies. Die 6-jährige Tochter der Familie starb im November 2017 bei einer Rückweisung der kroatischen Grenzpolizei, als diese der Familie befahl mit den Kindern nachts auf Bahngeleisen zurück nach Serbien zu gehen, wo das kleine Mädchen vom Zug erfasst wurde. In Velika Kladuša hat nach dreiwöchiger Pause wegen ausbleibender Spenden das Restaurant von Latan wieder aufgemacht. Der Bosnier kocht mit einigen Freunden seit mehr als einem Jahr täglich 400 Mahlzeiten für Flüchtlinge, die sonst keinerlei Versorgung erhalten. Im Keller der kleinen Kneipe bekommen sie Boxer-Shorts, Socken und Jacken. Es herrscht ein grosser Mangel an Schuhen. Daka steht in der Tür und passt auf, dass die Kleiderausgabe geordnet abläuft. Er habe als Bosnier hier das verfassungsmässige Recht, Menschen zu helfen. «Die internationalen Freiwilligen helfen mir beim Helfen», erklärt er uns lächelnd.
Heike Schiebeck, Longo maï, EBF
Spenden für Latans Restaurant und die Kleiderausgabe in Velika Kladuša bitte auf das EBF-Konto mit dem Vermerk «Bosnien». Quellen und Informationen: «Pushed to the Edge. Violence and Abuse against Refugees and Migrants along the Balkans Route.» Amnesty International, 2019, «People on the Move in Bosnia and Herzegvina in 2018: Stuck in the Corridors to the EU.» Gorana Mlinarevi, Dr. Nidžara Ahmetaševi, Heinrich-Böll-Stiftung, 2019
Forderungen An der kroatischen EU-Aussengrenze werden die Genfer Flüchtlingskonvention, die Menschenrechtskonvention und EU-Verordnungen über die Durchführung von Asylverfahren mit Füssen getreten. Mehrere NGOs, internationale Journalist·inn·en und Amnesty International haben detaillierte Berichte publiziert. Alles ist hinreichend dokumentiert, die EU-Instanzen müssen nun handeln. Das EBF fordert: • das sofortige Ende der körperlichen und psychischen Gewalt durch die kroatische Grenzpolizei mit Unterstützung und Ausrüstung der Europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX. • die Offenlegung des FRONTEX-Einsatzes an der kroatisch-bosnischen Grenze. Wie viel Geld und wie viele technische und personelle Ressourcen werden hier auf welche Weise eingesetzt, um die Grenze zu versperren? Die europäischen Steuerzahler·innen haben ein Recht, das zu erfahren. • eine gesamteuropäische Lösung für die Geflüchteten in den südlichen EU-Ländern und an den EU-Aussengrenzen. Länder wie Bosnien und Griechenland dürfen mit der Versorgung nicht allein gelassen werden; die Geflüchteten haben ein Recht auf ausreichend Nahrung, Gesundheitsversorgung, Hygiene, sichere Schlafplätze und Rechtsberatung. Die EU muss Resettlement-Programme für die Ankommenden organisieren. Der fehlende politische Wille darf keine Menschenleben kosten.