Wie entstehen Epidemien und wodurch werden sie gefördert? Was für Schlussfolgerungen können aus bereits dagewesenen Seuchen gezogen werden? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen industrieller Viehzucht und dem Entstehen eines aggressiven Virus? Das Kollektiv Chuang hat einen sehr ausführlichen Artikel zu diesem Thema publiziert, aus dem wir, mit seiner freundlichen Genehmigung, einige Ausschnitte übernehmen. Wuhan ist umgangssprachlich als einer der «vier Öfen» Chinas bekannt – wegen des drückend heissen, feuchten Sommers, den die Stadt mit Chongqing, Nanjing und wahlweise Nanchang oder Changsha teilt, alles geschäftige Metropolen entlang des Yangtze-Flusses. Wuhan ist jedoch auch mit buchstäblichen Öfen übersät: Der riesige Stadtkomplex ist ein Nukleus der baugewerblichen Industrien Chinas und der multinationalen Autoindustrie («chinesisches Detroit»). Seine Landschaft ist gespickt mit den Hochöfen der verbliebenen staatlichen Eisen- und Stahlgiessereien, die nun, von Überproduktion geplagt, in eine neue Runde der Privatisierung und Umstrukturierung gezwungen wurden – was in den letzten fünf Jahren zu mehreren grossen Streiks und Protesten geführt hat. (...) Schliesslich ist die Gegend um Wuhan auch ein Epizentrum der Fabrikschweinehaltung und kämpft immer noch mit dem Massensterben von Schweinen nach dem Ausbruch eines anderen tödlichen Virus vor nur einem Jahr.
Die Produktion von Seuchen
Das Virus, das hinter der aktuellen Epidemie (SARS-CoV-2) steht, entstand, wie sein Vorgänger SARS-CoV im Jahr 2003, und die Vogel- und Schweinegrippe vor ihm, an der Schnittstelle von Ökonomie und Epidemiologie. Es ist kein Zufall, dass so viele dieser Viren die Namen von Tieren tragen: Die neuen Krankheiten sind fast immer das Ergebnis einer «zoonotischen Übertragung», was bedeutet, dass Infektionen vom Tier auf den Menschen überspringen. Wenn sich die Schnittstelle zwischen Mensch und Tier verändert, verändern sich auch die Bedingungen, unter denen sich solche Krankheiten entwickeln. Der Druckkochtopf der kapitalistischen Landwirtschaft und Urbanisierung bietet das ideale Medium, durch das immer verheerendere Plagen geboren, zu zoonotischen Sprüngen veranlasst und dann aggressiv durch die Bevölkerung getrieben werden. Die Grundidee wurde, unter anderem, von dem Biologen Robert G. Wallace entwickelt, der in seinem 2016 erschienenen Buch «Big Farms Make Big Flu» (1), die Verbindung zwischen der kapitalistischen Agrarindustrie und der Ätiologie (Ursachenlehre) der jüngsten Epidemien von SARS bis Ebola erläutert. Die Epidemien lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen, wobei die erste im Kerngebiet der agrarindustriellen Produktion, die zweite in ihrem Hinterland entsteht. Mit Blick auf die Ausbreitung von H5N1, auch als Vogelgrippe bekannt, nennt Wallace mehrere geografische Schlüsselfaktoren für die erste Kategorie von Epidemien: «Die ländlichen Gebiete vieler der ärmsten Länder sind heute durch unregulierte Landwirtschaft geprägt, die bis zu den Slums an den Rändern der Städte reicht. Die unkontrollierte Übertragung in anfälligen Gebieten erhöht die genetische Variation, durch die H5N1 menschenspezifische Merkmale entwickeln kann.» Die Ausbreitung wird durch die globalen Warenströme und die Migrationsbewegungen der Arbeiter·innen angetrieben. Durch sie wird das Virus in kurzer Zeit mit einer Vielzahl von Entwicklungspfaden konfrontiert, so dass sich die geeignetsten Varianten durchsetzen können. Bevor die Zirkulation die Widerstandsfähigkeit solcher Krankheiten erhöht, hilft jedoch die Logik des Kapitals schon, zuvor isolierte oder harmlose Virusstämme in ein hochkompetitives Umfeld zu versetzen. Das begünstigt die Entstehung jener Merkmale, die Epidemien verursachen: schnelle virale Lebenszyklen, die Fähigkeit, zoonotische Sprünge zu machen, und die Fähigkeit, schnell neue Übertragungsvarianten zu entwickeln. Diese Stämme zeichnen sich gerade durch ihre Virulenz aus, also ihre Fähigkeit, schnell heftige Krankheiten zu verursachen. Normalerweise wäre das ein Evolutionsnachteil, da die frühe Tötung des Wirts weniger Zeit für die Ausbreitung des Virus lässt. In bestimmten Umgebungen macht genau das jedoch Sinn: Wenn ein Virus zahlreiche Wirte in unmittelbarer Nähe vorfindet, und insbesondere wenn diese Wirte bereits verkürzte Lebenszyklen haben, wird eine erhöhte Virulenz zum evolutionären Vorteil. Die Vogelgrippe ist ein gutes Beispiel. Wallace weist darauf hin, dass domestizierte Populationen, die in Industriefarmen zusammengepfercht sind, in offensichtlicher Beziehung zu solchen Ausbrüchen stehen. «Grössere Populationsgrössen und -dichten begünstigen höhere Übertragungsraten. Beengte Verhältnisse schwächen die Immunabwehr. Ein hoher Durchsatz, der Teil jeder industriellen Produktion ist, sorgt für eine ständige Versorgung mit neuen Tieren, dem Treibstoff für die Entwicklung der Virulenz.»
Geschichte und Ätiologie
Seuchen sind die Schatten der kapitalistischen Industrialisierung – und zugleich ihre Vorboten. In England, wo die Durchsetzung des Kapitalismus mit der massenhaften Vertreibung von Bäuerinnen und Bauern einherging, die der frühen Massentierhaltung weichen mussten, finden wir die frühesten Beispiele für diese kapitalistischen Seuchen. Im England des 18. Jahrhunderts traten drei verschiedene mehrjährige Pandemien auf. Der Ursprung jeder dieser Pandemien war importiertes, mit den vorkapitalistischen Pandemien (die oft auf Kriege folgten) infiziertes Vieh aus Europa. Aber in England hatte man begonnen, das Vieh auf neue Weise zu konzentrieren. Die Einführung der infizierten Tiere schlug daher viel aggressiver auf die Bevölkerung durch als in Europa. Dieses Beispiel aus dem Heimatland des Kapitalismus muss mit den Auswirkungen kapitalistischer Landwirtschaft auf seine Peripherie zusammen betrachtet werden. Während die Rinderpandemien im frühkapitalistischen England (durch Massenkeulungen und neue Impfstoffe) eingedämmt wurden, waren die Folgen anderswo weitaus verheerender. Die fatalste war die Rinderpest in Afrika in den 1890er Jahren. Das Datum ist kein Zufall. Ende des 19. Jahrhunderts war der europäische Imperialismus auf seinem Höhepunkt. Die Rinderpest, die die Italiener bei ihren Kolonialkriegen nach Ostafrika einschleppten, verbreitete sich über die lokalen Rinderpopulationen bis nach Südafrika, wo sie die frühe kapitalistische Agrarwirtschaft der Kolonie verwüstete. Die Pest raffte bis zu 90 Prozent des Viehs dahin und hatte eine beispiellose Hungersnot in den überwiegend pastoralistischen Gesellschaften in Subsahara-Afrika zur Folge. Auf die Entvölkerung folgte die invasive Besiedlung der Savanne durch Dornenbüsche, die wiederum eine gute Umgebung für die Tsetsefliege schufen, die sowohl die Schlafkrankheit überträgt als auch das Weiden des Viehs verhindert. Dies sorgte dafür, dass viele Gebiete nach der Hungersnot nur begrenzt wiederbesiedelt wurden, was den weiteren Vormarsch der europäischen Kolonialmächte auf dem Kontinent begünstigte. Der aktuelle Ausbruch des Coronavirus hat also nichts spezifisch Chinesisches. Die Erklärung dafür, warum so viele Epidemien in China aufzutreten scheinen, ist nicht kultureller Art, sondern eine Frage der Wirtschaftsgeografie. Arbeiter·innen haben wenig Kontrolle über die Bedingungen, unter denen sie arbeiten (und oft auch leben). Bedingungen, die zum schlechten Gesundheitszustand der Bevölkerung beitragen, begünstigen die Verbreitung der vielen Seuchen des Kapitalismus. Nehmen wir die Spanische Grippe, eine der tödlichsten Epidemien der Geschichte. (2) Die Spanische Grippe war, wie historische Forschungen zeigen, nicht viel virulenter als andere Grippeviren; ihre hohe Sterblichkeitsrate war wahrscheinlich vor allem die Folge der Unterernährung, der Überbevölkerung der Städte und der unhygienischen Lebensbedingungen in den betroffenen Gebieten. Zugleich wurde die rasche Ausbreitung der Grippe durch den globalen Handel und die globale Kriegsführung der damaligen Imperialismen möglich, die den Ersten Weltkrieg überlebt hatten. Die Parallelen zum chinesischen Fall sind auffällig. Ähnlich wie die Spanische Grippe konnte sich das Coronavirus zunächst durch eine Verschlechterung der allgemeinen medizinischen Grundversorgung rasch ausbreiten. Vor der schrittweisen Eingliederung des Landes in das globale kapitalistische System wurde die Gesundheitsfürsorge in China im Rahmen des danwei-Systems betrieblicher Sozialleistungen oder von lokalen Gesundheitskliniken mit einer Vielzahl von «Barfuss-ärzt·inn·en» erbracht; die Leistungen waren kostenlos. Die Erfolge der sozialistischen Gesundheitsfürsorge nötigten selbst den schärfsten Kritiker·in-ne·n des Landes Respekt ab. Seitdem hat eine Kombination aus Vernachlässigung und Privatisierung das System massiv verschlechtert – und das zu einem Zeitpunkt, als die rasche Verstädterung und die unregulierte industrielle Produktion von Haushaltsgütern und Lebensmitteln eine umfassende Gesundheitsversorgung noch notwendiger machte. Heute belaufen sich Chinas Gesundheitsausgaben nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf 323 US-Dollar pro Kopf. Das ist selbst für Länder mit «gehobenem mittleren Einkommen» wenig: etwa die Hälfte von dem, was Brasilien, Weissrussland oder Bulgarien ausgeben. Unter diesen Bedingungen ist es keine Überraschung, dass sich COVID-19 so leicht durchsetzen konnte. Aber wir müssen auch verstehen, wie das Virus selbst produziert wurde.
Es gibt keine Wildnis
Im Fall von Corona ist die Sache weniger eindeutig als bei der Schweine- oder Vogelgrippe, die so offensichtlich mit dem agroindustriellen System zusammenhängen. Viel scheint darauf hinzudeuten, dass das Virus von Fledermäusen oder Schlangen stammt, die normalerweise in freier Wildbahn gefangen werden. Doch auch hier besteht ein Zusammenhang, denn die durch die Afrikanische Schweinepest verursachte schlechtere Verfügbarkeit von Schweinefleisch hat dazu geführt, dass die Fleischnachfrage oft durch die wet markets gedeckt wird, die «Wildfleisch» verkaufen. Aber kann man ohne den direkten Bezug zur Massentierhaltung dieselben Prozesse verantwortlich machen? Wallace nennt zwei Hauptwege, auf denen der Kapitalismus hilft, immer tödlichere Epidemien zu entfesseln: Beim ersten, weiter oben skizzierten, gedeihen Viren in industriellen Umgebungen. Der zweite entsteht durch die kapitalistische Expansion ins Hinterland, wo bisher unbekannte Viren aus Wildtieren «geerntet» und entlang der globalen Kapitalkreisläufe verteilt werden. Entweder weil durch die erhöhte Nachfrage nach Wildtieren neue globale Lieferketten für «wilde» Waren entstehen. Oder weil sich agroökologische Wertschöpfungsketten in bisher «wilde» Bereiche ausdehnen, dort lokale Ökologien und damit die Schnittstelle zwischen Mensch und Nichtmensch verändern: Wenn die Kapitalakkumulation neue Gebiete erschliesst, werden die Tiere in schwerer zugängliche Gegenden gedrängt, wo sie mit zuvor isolierten Erregern in Kontakt kommen, während diese Tiere selbst zur Zielscheibe der Kommerzialisierung werden. Zugleich drängt diese Expansion den Menschen näher an diese Tiere. Das gibt dem Virus mehr Möglichkeiten, so zu mutieren, dass es Menschen infizieren kann. Tatsächlich ist die «natürliche» Sphäre bereits unter ein vollständig globales kapitalistisches System subsumiert, welches das Klima grundlegend verändert und die meisten vorkapitalistischen (3) Ökosysteme zerstört hat. Diese Prozesse reduzieren laut Wallace «die Art der Umweltkomplexität, mit der der Wald Übertragungsketten unterbricht». Es gibt keine natürliche Peripherie des kapitalistischen Systems mehr – und auch keine unberührte Wildnis, deren Zustand erhalten werden könnte. Das Kapital hat lediglich ein untergeordnetes Hinterland, das seinerseits vollständig in die globale Wertschöpfung eingebunden ist. Das schafft die Voraussetzungen für die Verwandlung «wilder» Virenstämme in globale Pandemien. COVID-19 ist kaum die schlimmste. Eine ideale Veranschaulichung des Grundprinzips findet sich beim Ebolavirus. (4) Seine Ursprungswirte sind vermutlich mehrere in West- und Zentralafrika heimische Fledermausarten, die das Virus übertragen, selbst aber nicht erkranken. Jenseits seiner Wirtsspezies hat Ebola einen äusserst aggressiven Lebenszyklus. Es verursachte mehrere grosse Epidemien mit extrem hohen Sterberaten von meist über 50 Prozent. Der bisher grösste dokumentierte Ausbruch, der sich zwischen 2013 und 2016 in mehreren westafrikanischen Ländern ereignete, forderte 11‘000 Todesopfer. In den letzten Jahren haben Unternehmen mehrere Impfstoffe entwickelt, aber langsame Zulassungsverfahren und strenge Regeln zum Schutz geistigen Eigentums haben im Zusammenspiel mit einer mangelhaften Gesundheitsinfrastruktur verhindert, dass Impfstoffe viel dazu beitrugen, die jüngste Epidemie, die sich auf die Demokratische Republik Kongo konzentriert, zu stoppen. Eindämmung als Übung in Staatskunst Die Krankheit wird oft als eine Art Naturkatastrophe dargestellt. Aber der Zeitpunkt der beiden grossen Ausbrüche (2013-2016 in Westafrika und seit 2018 im Kongo) war keineswegs ein Zufall. Beide traten genau dann auf, als die Expansion der Rohstoffindustrien die im Wald lebenden Menschen weiter verdrängt und die lokalen Ökosysteme erschüttert hat. Ähnlich beim Ausbruch 2013 in Guinea, der sich ereignete, kurz nachdem eine neue Regierung begonnen hatte, das Land für den Weltmarkt zu öffnen und grosse Landflächen an internationale Agrarkonzerne zu verkaufen. Insbesondere die Palmölindustrie scheint hier eine Verantwortung zu tragen, da ihre Monokulturen sowohl die Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme angreifen als auch jene Fledermausarten anziehen, die als natürliche Wirtsarten für das Virus dienen. COVID-19 hat weltweit eine beispiellose Aufmerksamkeit erregt. Zum Teil lag das an der spektakulären Reaktion der chinesischen Regierung, die ebenso spektakuläre Bilder von menschenleeren Megastädten erzeugte – ein krasser Gegensatz zum üblichen Chinabild, das diese als überfüllt und verdreckt zeigt. Auf einer tieferen Ebene scheint die Faszination aber auch darin zu bestehen, wie hier eine Generalprobe für die umfassende Mobilisierung staatlicher Aufstandsbekämpfungskapazitäten inszeniert wurde. Dies ist auch ein Lehrstück für alle, die sich für die Möglichkeiten einer globalen Revolution interessieren, denn wir haben hier einen Probelauf für die vom Staat orchestrierte Reaktion erlebt. (...) All das sind wichtige Lehren für eine Epoche, in der die Verwüstungen durch die grenzenlose Akkumulation zunehmen und die Krisen sich häufen. Da die kapitalistischen Krisen scheinbar nichtökonomische Formen annehmen, werden die Epidemien, Hungersnöte, Überschwemmungen und anderen «Naturkatastrophen» zur Rechtfertigung für die Ausweitung staatlicher Kontrolle genutzt werden. Die Frage ist, wie lange sich die Menschen in der Quarantäne, unter verschärfter staatlicher Kontrolle halten lassen, bevor sich aus den immer neuen Krisen eine aufständische Dynamik entwickelt, die nicht mehr einzudämmen ist.
- Die Zeitschrift «Chuang» analysiert den chinesischen Kapitalismus und soziale Kämpfe in China. Der Text ist die Kurzfassung des Artikels «Social Contagion. Microbiological Class War in China», der Ende Februar auf dem Chuang-Blog erschien: chuangcn.org/2020/02/social-contagion. Diese Kurzfassung wurde von Jan Ole Arps für die Zeitung «Analyse und Kritik Nr. 658» übersetzt. Wir konnten sie, mit freundlicher Genehmigung, übernehmen. Parallel zu AK hat auch die Zeitschrift «Wildcat» den Artikel übersetzt. Die fast vollständige Übersetzung des Originals findet sich auf www.wildcat-www.de.
- Ein Buch über die politische Ökologie der Epidemien, aus dem die Zitate von Wallace stammen.
- Die Spanische Grippe brach in drei Wellen vom Frühjahr 1918 bis 1920 weltweit über die Menschen herein und tötete in nur wenigen Monaten Schätzungen zufolge zwischen 27 bis 50 Millionen Menschen.
- Es ist falsch, diese Ökosysteme als «vormenschlich» zu bezeichnen. Viele der scheinbar «urzeitlichen» Naturlandschaften Chinas sind in Wirklichkeit Produkte früherer Phasen der menschlichen Expansion, welche Tierarten, die früher auf dem ostasiatischen Festland heimisch waren (Elefanten zum Beispiel), ausgerottet hat.
- Genau genommen ist dies ein Sammelbegriff für etwa fünf verschiedene Viren, von denen das tödlichste einfach Ebolavirus, früher Zairevirus, genannt wird.