Wir haben verschiedene Menschen, die sich an dem seit Oktober 2019 andauernden Protest in Chile engagieren, gefragt, welche Gründe sie für den Aufstand sehen, wie sie die Situation einschätzen und was sie motiviert, trotz der extremen Repression, weiter zu machen. Hier der 2. Teil der Stellungnahmen, eingeholt in Santiago von Paloma Matus de la Parra.
Der Hase im Pfeffer
Ich dachte zuerst, es sei ein Witz, das mit dem Ausnahmezustand und der Sperrstunde; und dann haben sie es, ohne rechtliche Grundlage, so nach und nach in einen regelrechten Belagerungszustand verwandelt – besonders in der Nacht, in vielen Nächten machten wir das durch. Jeden Abend bei Sonnenuntergang wollte ich es nicht glauben, denn ich wusste, dass Menschen in dieser Nacht sterben würden. Ich wusste ja, wie die Militärs vorgegangen waren, als sie damals in der früheren Diktatur in die Strassen geschickt wurden. Es war mir seit meiner Jugend klar, was passiert, wenn die Soldaten anfangen einzugreifen. Vor ein paar Jahren gab es Massenentlassungen und wir verfügen nur über wenig Bargeld. Es ist aber für mich beruhigend, wieder das Gefühl zu haben, in einem Land von bewussten Menschen zu leben. Menschen, die sich zumindest ihrer Situation als Sklaven bewusst geworden sind und ihre Befreiung ins Auge fassen und damit auch so etwas wie den Aufbau einer ethischen Gesellschaft. Vorher haben die Menschen sich nicht manifestiert, weil sie hypnotisiert waren, als ob sie unter Drogen gestanden wären, in einem Traum wie in der «schönen neuen Welt» von Huxley. Hier war es der Konsum, jede Art von Konsum, unterstützt von den wechselnden Regierungen, welche die neoliberale Idee in sich aufgesogen hatten und glaubten, wenn nicht konsumiert wird, gehen wir alle Bankrott. Sie lehrten uns, ja nicht zu sparen, sondern nur zu konsumieren. Diese Reduzierung der chilenischen Gesellschaft auf ein Spielzeugmodell glaubten nicht einmal die kleinen Kinder, die später einen Schritt voraus gingen und schliesslich «basta» riefen, noch bevor ein Erwachsener es getan hatte. Die Verfassung der Diktatur muss zerstört werden, wir müssen wieder neu anfangen. Sie war die Struktur der modernen Sklavengesellschaft und der Plünderung durch die Oligarchie. Diese Regierung wird nichts Gutes für die Bevölkerung bringen und unter den Parlamentariern sind die Wenigsten ehrlich. Im März werden nur noch die wirklich Skrupellosen bleiben. Das System der Pensionen und was aus uns wird, wenn wir alt werden, da liegt eigentlich der Hase im Pfeffer für die ganze Gesellschaft.
Gonzalo Espinosa Menéndez, 57 Jahre
Faschistischer Krebs
Hier hat man nie aufgehört, Menschen umzubringen. Ich glaube nicht, dass es eine neue Verfassung geben wird und wenn es sie gäbe, dann würde sie nichts grossartig verändern. Ich habe das Empfinden, dass der faschistische Krebs schon alle befallen hat, denn es geht um Etwas, das jenseits der Verfassung liegt. Es ist der kränkliche Alltag, der uns befallen hat. Es ist schwer zu wissen, was geschehen wird. Es gibt eine gemeinsame Forderung, aber keine Einheit. Im Unterschied zu den Mapuches und den Europäern, haben wir Mestizen («Mischlinge») keine gemeinsame Identität und Geschichte. Wir sind das Resultat einer missratenen Mischung verschiedener Kulturen. Es gab keine kulturelle Symbiose, sondern einen kulturellen Rückschritt und die Stärkung einer Hegemonie, die sich bis heute gehalten hat. Wir haben keine Identität, als Chilenen sind wir weder Mapuches noch Europäer. Wir wurden immer von wirtschaftlichen und kulturellen Eliten dominiert, die uns eine Art und Weise zu leben aufgezwungen haben, die nicht die unsere ist. Das Schlimmste ist, dass es noch dazu eine europäische, gehirnamputierte und gesetzlose Lebensweise ist.
Joao Brito, 30 Jahre
Suche nach menschlichen Beziehungen
Der soziale Ausbruch vom 18. Oktober 2019 durchrüttelt alle Sektoren der Gesellschaft. Er unterscheidet sich von allen anderen grossen Mobilisierungen der Übergangsjahre und unter den bisherigen rechten Regierungen; von den Studentenprotesten und der Bewegung gegen die Privatisierung der Rentenkassen: Er ist nicht sektoriell beschränkt sondern heterogener Natur, denn er entstand aus unterschiedlichen Forderungen wichtiger Teile der Gesellschaft. Keine Partei oder spezifische Organisation hat zu der Mobilisierung aufgerufen. Sie ist spontan entstanden. Ihre Forderungen und ihr Inhalt sind nicht klar begrenzt, sondern bringen die allgemeine Unzufriedenheit und den Ärger zum Ausdruck. Es geht um den Arbeitsrythmus, die Ungleichheiten, die traditionelle Politik und überhaupt das Leben in einem neoliberalen System. In den ersten Wochen versuchten Organisationen wie die Kommunistische Partei und die Studentenföderation hektisch, die Forderungen der Bewegung an die verfassungsgebende Versammlung zu richten. Diese war allerdings bereits von der Regierung und dem Parlament vereinnahmt. Alle volksnahen Probleme, welche die verfassungsgebende Versammlung eigentlich beantworten sollte, wurden reingewaschen. Diese vertritt demnach die Meinung, dass alles nur durch das alte Parlament und die parlamentarische Vertretung der politischen Parteien verhandelt werden kann. Ein solches institutionelles Vorgehen angesichts der Mobilisierung ist charakteristisch für die praktizierte Politik der letzten 20 Jahre. Sie beruft sich auf den «Pakt zur Konzertation», der darin besteht, die politischen Entscheidungen an eine kleine Handvoll Experten zu delegieren. Unter dem Vorwand der Neutralität derselben wird der Bevölkerung jede Fähigkeit politischer Projektion abgesprochen. Diese alte Taktik hält die Trennung zwischen Gesellschaft und Politik aufrecht. Auf diese Weise haben die Eliten des Landes die Politik für sich vereinnahmt und so hat nur die Klasse der Unternehmer Einfluss auf die Politik des Landes. Trotz des Ausmasses der Mobilisierung in den letzten Monaten hat diese Situation sich nicht geändert. Die Antwort der Regierung bestand aus erhaltenden Massnahmen wie z.B. das Einfrieren der Fahrpreise im öffentlichen Verkehr und die Vergabe von Gutscheinen. Die einzige Veränderung, die man wirklich gespürt hat, ist die Eskalation der Staatsgewalt, die zu systematischen Menschenrechtsverletzungen geführt hat, Leben zerstört und hunderte Menschen vergewaltigt oder verstümmelt hat. Die soziale Mobilisierung ist die Suche nach menschlichen Beziehungen, nach Beziehungen, die nicht im Sinne des Marktes instrumentalisiert sind. Der soziale Ausbruch war jedoch zutiefst von Männern dominiert, weshalb ich mich nicht wirklich vollständig damit identifizieren kann. Die allgemeine Gewalt hat sehr viel mehr Frauen verletzt, und die sexuelle Gewalt geht sowohl vom Staat aus als auch von subalternen Sektoren. Der Ausschluss und die Herabstufung der Frauen in der Politik sind rein ideologisch begründet, obwohl wir die Mehrheit in der Bevölkerung sind. Die Männer sind sich darüber einig, dass wir in der Minderheit sind, was unsere Relevanz betrifft, und betrachten unsere Beteiligung als eine zu erfüllende Quote. Wir sind aber die Hälfte der Welt! In den Augen einer Frau bedeuten die heutigen Ereignisse die Krise einer Gesellschaft, die von Männern gebaut wurde und die männliche Wertvorstellungen verbreitet hat, wie die der Gewalt, des Neoliberalismus und der Herrschaft von Parasiten. Ich persönlich kann eine neue Konstitution nur unterstützen, wenn diese tatsächlich die sexuellen Unterschiede anerkennt, die angebliche Minderwertigkeit der Frauen gegenüber den Männern abwirft (als ein Prinzip, das vom Bürgertum entwickelt wurde) und anerkennt, dass die Gewalt von einem Geschlecht ausgeht. Wenn es nicht so ist, wird eine neue Konstitution in meinen Augen einmal mehr das Gleiche sein: eine tote Sprache des Männerzentrismus.
Javiera Paz, 25 Jahre