Bei einer Konferenz in Delémont (Schweiz) 2004, mit einem Titel (1), der uns an die Schriften von Ivan Illitsch erinnert und deswegen unser Interesse geweckt hatte, trafen wir Jean Robert zum ersten Mal. Es stellte sich heraus, dass er tatsächlich eng mit Ivan Illitsch zusammenarbeitete. Jean Robert lebt auch heute in Mexiko und beschäftigt sich nach wie vor mit dem Aufstand der Zapatisten. Erster Teil.
Im August dieses Jahres habe ich eine bewegende Erfahrung gemacht. Auf gewisse Weise war diese Reise nach Chiapas auch eine Reise in die Zeit, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. In eine Vergangenheit, die immer noch lebendig ist im Gedächtnis des Volkes, das sich nach und nach aus der modernen eindimensionalen Zeitlichkeit befreit. In eine Zukunft, die Platz bietet für andere Welten. Nach dem modernen Konzept von Zeit muss sich alles wandeln, um seine Identität zu bewahren, ein wertvolles Objekt wird einem einzigen Gesetz unterworfen, dem der Seltenheit – Fundament der kapitalistischen Wirtschaft. Existieren noch andere? Zum Wandel verurteilt wird, was noch nicht vermarktbar gemacht wurde, es verschwindet mit seinem Eintritt in den Markt: die Traditionen, die Bräuche und die Würde. All dies verurteilt die «Modernisierung» und Verwestlichung zum Tode. Die moderne Gegenwart hat keine empfindlichen, keine konkreten Bezugspunkte: Sie wird mehr erlitten als gelebt. Wenn hingegen das Gestern die Vision des Morgen erleuchtet, erhält das Heute eine neue Tiefe. Der Schritt des Menschen hinterlässt wieder Spuren auf dem atavistischen Boden. Diese Wiederaneignung eines Volkes seiner Zeit und seiner Geschichte war das Erste, was mich berührt hat. Die Moderne ist amorph und flüssig. Aber hier sind seine Wasser, wie in einer Furt, weniger tief und vom Grund ragen einige Steine heraus, die den Füssen festen Stand bieten, Zeichen, dass wir uns am Rande der Moderne befinden, in der Zone des Widerstands gegen ihre verheerende Flut. Zweiter starker Eindruck: Hier ist ein Volk, das seit Jahrhunderten an den Rand gedrängt wurde, das sich erhebt, einen Lebensraum schafft und diesen gastlich macht.
Ich habe diese Reise wie ein Eintauchen in eine Geschichte erlebt, die sich aus der lebendigen Tradition nährt und als eine Möglichkeit konstruiert wird, die als a-utopisch eingeordnet werden sollte, weil sie vor unseren Augen zur Realität wird. Für uns Gäste, die von aussen kommen, ist diese Erfahrung eine Hoffnung. Sie ist mehr als ein Beispiel – weil sie unnachahmlich ist – ist sie der Beweis, dass ein anderer Weg möglich ist, aber dass man ihn erfinden muss. Eine Hoffnung also, die, wenn wir sie teilen, zu einem Projekt werden kann. Ich bin mit dem unpräzisen Eindruck heimgekommen, dass wir hier, wo ich lebe, Neues initiieren müssten.
Entwurzelung
Man hört sagen, dass nichts der zerstörerischen Flut der Moderne widerstehen wird. Dass es keine Anhaltspunkte mehr geben werde, keinen Griff für die Hände, keinen Grund unter den Füssen, die nur auf das Nichts treffen oder im Gegenteil auf die Betondecke, die zu hart ist, um eine Spur zu hinterlassen. Und dennoch, hier ein Volk im Widerstand gegen seine Auslöschung und das Weggetragen werden von seiner Heimat, vom morgendlichen Feuer und der Maistortillas rund um die Feuerstelle. Die Moderne ist flüssig, wie es ein berühmter Philosoph (2) sagte. Er sagt auch, dass diese Flüssigkeit besonders sichtbar wird in den Migrationsströmen, der Entwurzelung ganzer Menschenmassen von ihrem Herkunftsgebiet, ohnegleichen bis zum Jahrhundert der Weltkriege. Aber die Moderne ist auch hart, flüssig und hart zugleich, wie ein Weichtier, deren Weichteil sich verflüssigt, um nur noch die Schale übrigzulassen. Die tatsächlich existierende Moderne, man kann sie kapitalistisch nennen, ist jedoch nicht nur flüssig, sondern auch verflüssigend. Sie zermalmt alles, mit dem sie in Berührung kommt. In Europa hat sie alle vormodernen Kulturen aufgelöst, so beispielsweise die alte bäuerliche Kultur, deren Erneuerung sie verhinderte und die entwurzelte bäuerliche Bevölkerung zu Fremden in ihrem eigenen Land gemacht hat. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entsteht eine Welt, die den Immigranten, den Mensch ohne Qualitäten und nur ausgestattet mit einem vagen Existenzrecht, zum Modell des Bürgers macht. Der Staat konnte sich damit umformen zum Überlebensverwalter des verallgemeinerten Immigranten.
Ein Volk im Widerstand ist heutzutage zwangsläufig ein Volk, das nicht emigrieren möchte und noch weniger zum Immigranten im eigenen Land reduziert werden möchte. Aus diesem Grund widersteht es den Vorgaukelungen der weit entfernten Städte und lehnt die Almosen des Staates ab, die aus ihm einen Bettler im eigenen Haus machen würden. Es ist ein Volk, das nicht hergibt, was es hat, was zwar wenig, aber fundamental ist, und nicht aufgibt, was es kann, was wiederum viel ist. Für uns, die Gäste dieser Feier der konkreten Hoffnung, war dies ein Fenster zu neuen Möglichkeiten in einem Land, von dem man allzu leichtfertig sagt, es sei auf dem Weg des Zusammenbruchs: Aufhören, sich über die Zerstörung der sozialen Netzwerke zu beklagen, neue Beziehungen knüpfen und die alten aufleben lassen, dort wo wir leben.
Anstatt auf die Hilfe des Staates zu warten oder auf eine hypothetische grosse Revolution, ist hier ein Volk, eine Gruppe von Frauen und Männern, die beschlossen haben, auf ihrem Land von Grund auf eine Welt neu- und wiederaufzubauen. Sie beginnen nicht bei null, sondern mit den Steinen unter ihren Füssen, die aus dem Boden und aus den Flüssen ihrer Vorfahren hervorragen, sprich einem soliden bäuerlichen Gemeinsinn, atavistischem Wissen über die Subsistenz basierend auf der Milpa (3), den von den saisonalen Regen gegossenen Maisfeldern, den Bräuchen, der autochthonen Sprache, der Kunst der Absprachen und des gegenseitigen Zuhörens und einer stählernen Widerstandskraft aus fünf Jahrhunderten Unterdrückung ihrer Kultur. Und hier, wo ich lebe: was haben wir, was können wir konstruieren?
Die Geschichte der Zapatisten in Kürze
Damit es für die nicht-mexikanischen Leser nachvollziehbar wird, hier eine kurze Zusammenfassung zur Gruppe, die uns eingeladen hatte, dem zivilen Arm der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung). Diese Abkürzung ist am 2. Januar 1994 zum ersten Mal auf Seite eins der mexikanischen Zeitungen aufgetaucht. Bewaffnet mit Holzkolben-Gewehren, haben die Indigenen der wichtigsten Ethnien Chiapas fünf zentrale Orte, darunter San Cristobal, militärisch besetzt. Am Morgen des neuen Jahres schlenderten die Touristen über den Platz in Belle Jovel, wie San Cristobal in den indigenen Sprachen genannt wird, und konnten die erste öffentliche Rede miterleben, die ein Mann mit Sturmmütze vom Balkon des Rathauses aus hielt. Er hatte sich als Marcos, Subkommandante der Aufständischen, vorgestellt und sollte fortan Sprecher und Übersetzer der Zapatisten sein. Seine Rede war mit einem entwaffnenden Humor gespickt - schon hier kündigte sich die beachtliche literarische Qualität in Marcos Stil an, die sich in den folgenden Jahren noch in Hunderten Stellungnahmen und mehreren Büchern zeigte - und brachte die Touristen zum Lachen. Der mexikanische Präsident hingegen, damals Carlos Salinas de Gortari, war weder von diesem Humor, noch später von der literarischen Qualität der zapatistischen Pamphlete angetan. Für ihn waren die Aufständischen Spielverderber, da sie den Effekt seines Siegesschreis zerstört hatten, den er zur Ankündigung des Eintritts Mexikos in die OECD, Klub der sogenannten reichen Länder und jener, die dabei sind, es zu werden, ausstiess. Kleines Detail: Der aktuelle Generalsekretär der OECD Angel Gurria war damals (1994-1997) mexikanischer Aussenminister (secretario de Relaciones Exteroires).
Die Zapatisten mit ihrer symbolischen Bewaffnung konnten dank der Benommenheit der Polizisten und Soldaten nach dem Neujahrsfest einige Tage Zeit gewinnen, bevor der mexikanische Präsident sie mit schwerer Artillerie überrollte. Täglich zählten Zeitungen, Radios und Fernsehen die Toten und veröffentlichten unerträgliche Bilder. Das führte zu einer solchen Solidaritätsbewegung der städtischen Zivilbevölkerung mit dem «Basta!» der revoltierenden bäuerlichen Indigenen, wie sie Mexiko noch nie gesehen hatte. Nach gut zehn Tagen musste Salinas sich dem Verdikt der Bevölkerung beugen und das Feuer einstellen. So begann die Epoche der «Dialoge in der Kathedrale», der Kathedrale von San Cristobal, wo Vertreter der Zapatisten mit Gesandten der Regierung, Beobachtern der Zivilgesellschaft und Vertretern der Presse in Gespräche eintraten. Nach mehreren Jahren resultierte daraus ein Teilabkommen über die Selbstbestimmungsrechte der indigenen Gemeinschaften und Völker. Die Regierung trat dieses jedoch mit Füssen, worauf die Zapatisten jegliche Einigungsversuche unterbrachen, bis es ein Gesetz gäbe, das in einer gemeinsamen Übereinkunft definiert worden wäre. Seit dem Aufstand reorganisieren sich die zapatistischen Gemeinschaften ohne jegliche staatliche Unterstützung. Im Jahr 2003, Gründungsjahr der Caracoles (Sitze der Juntas de Buen Gobierno) (4), haben sie sich mit einer autonomen Regierung ausgestattet, deren Organe der Rat in den Döfern, Weilern und Gemeinschaften, der Gemeinderat und die Versammlung der Guten Regierung sind, mit eigenen Schulen, medizinischen Einrichtungen und sogar eigenen Banken.
Der Automobilverkehr, Röntgenaufnahme der industriellen Kontraproduktivität (siehe Archipel Nr. 113, Februar 2004)
Zygmunt Bauman ist polnisch-britischer Soziologe und Philosoph, der sich v.a. mit den Themen Moderne, Totalitarismus, Holocaust und zuletzt mit den Phänomenen der Macht in der Postmoderne auseinandersetzte.
- Die Milpa ist ein Landwirtschaftssystem, das von den Mayas seit vielen Jahrhunderten bis heute betrieben wird und auf dem Anbau von Mais, Bohnen und Kürbisse basiert.
- Caracoles: Die zapatistischen Gemeinschaften haben ihr Gebiet in fünf Organisationsregionen geteilt. Sie nennen diese Caracoles Die Juntas de Buen Gobierno sind auf deutsch Räte der Guten Regierung, was im Gegensatz zur «schlechten Regierung» des mexikanischen Staats steht.