Während das Mittelmeer seit den 1990er Jahren zu einem Massengrab für Flüchtende und Migrant_inn_en geworden ist, war der mediterrane Raum während langer Perioden von der Ägäis bis nach Gibraltar ein Raum der Freiheit und des friedlichen Zusammenlebens. Christian Reder, emeritierter Professor für Kunst- und Wissenstransfer, unermüdlicher Autor und einer der wichtigsten Universalgelehrten Wiens, hat ein Buch vorgelegt, das den gegenwärtigen Zustand des Mittelmeerraums historisch einordnet, scheinbar Verschüttetes offenlegt und Perspektiven für eine lebbare Zukunft skizziert.(1)
Während sich gefühlt die Distanzen eher vergrössern und Berichte über Beirut oder Tripolis beinahe ausschliesslich Krieg und Katastrophen behandeln, vergessen wir, dass es rund um das Mittelmeer über weite Strecken der Geschichte weltoffene Phasen akzeptierter urbaner Vielfalt gab. Mit atemberaubendem Detailreichtum betätigt sich Christian Reder als sorgfältiger und akribischer Archäologe des emanzipatorischen Wissens des Mittelmeerraums. Wir erfahren, dass Alexandria, um 1900 der drittwichtigste Mittelmeerhafen nach Genua und Marseille, unter den zehntausenden Einwandernden als „neues Kalifornien“ galt. Unaufgeregt zitiert Reder Quellen, die belegen, dass es lange Zeit undenkbar war, Urbanität rund um das Mittelmeer „ethnisch“ oder „national“ zu denken. Die durchlässigen Mittelmeerbeziehungen Istanbuls/Konstantinopels verdeutlichen laut Reder, welche Freiheitsgrade und Schwankungsbreiten an Toleranz dort bereits erreicht gewesen sind. Im Kapitel über Odessa ruft er in Erinnerung, dass die Stadt einst für Fremde errichtet wurde und seit jeher für Revolutionäre unterschiedlichster Herkunft attraktiv war. Der riesige Teil Europas zwischen der Ostsee, dem Schwarzen Meer und der Adria war vor den nationalistischen Verheerungen des 20. Jahrhunderts ein grosses Schachbrett der Völker, voller Inseln, Enklaven und seltsamster Kombinationen gemischter Bevölkerungsgruppen. Anhand der Stadt Sewastopol weist Reder darauf hin, dass die Region Krim und das Schwarze Meer endlose Bezugsfelder für die soziale und politische Geschichte Zentraleuropas eröffnen. Verbindungen zwischen Mitteleuropa, Mittelmeer und Afrika, so der Autor, könnten auch bewusster machen, wie fiktiv und ausgrenzend Fixierungen auf irgendeine „Mitte“ sind, vor allem als wieder weithin propagierte nationalistische Parole: „Unser Land zuerst“. In Saloniki, so konstatiert Reder trocken, war es um die vorletzte Jahrhundertwende durchaus üblich, sechs oder sieben Sprachen zu sprechen. Die multi-konfessionelle, ausserordentlich polyglotte osmanische Welt transformierte sich durch Ankommende und Wegziehende fortwährend.
Die Städte
Wie bizarr und stumpfsinnig wirkt im Vergleich dazu die in ihrer Bedeutung seit den letzten Wahlen marginalisierte FPÖ mit ihrer Parole „Wien uns Wienern“. Zu unterstützen sind hingegen die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die angesichts der Realität der Migrationsgesellschaft auch in Wien demokratiepolitische Aktualisierungen einfordern: Denn absurderweise wird beinahe einem Drittel der Menschen, die in Wien leben und im wahlfähigen Alter sind, das Wahlrecht vorenthalten. Beispiele für einen anderen Umgang mit Migration bieten beispielsweise die Stadt Palermo und Gemeinden wie Riace in Kalabrien, auf die sich Reder bezieht. Reders Leitfrage ist, „wie und wo es möglich war und wieder sein kann, dass Menschen trotz ihrer Unterschiede in der Lage sind, zusammenzuleben, dass sie also zu 'kompetenten Städtern' werden.“ Neben den zwanzig Städteportraits rund um das Mittelmeer und das Schwarze Meer unterzieht Reder der seit dem Jahr 2008 von Barcelona aus agierenden „Union für den Mittelmeerraum“ einer kritischen Analyse. Denn der halbherzig agierenden Institution gelingt es aktuell kaum, den in Europa vorherrschenden Fantasien von Ausschluss, Abschottung und Abwehr etwas entgegenzusetzen. Gerade angesichts des Versagens der Politik betont Reder die zentrale Bedeutung einer aktiven Zivilgesellschaft für ein Gelingen von Zusammenleben und friedlicher Prosperität.
Auch im Kampf gegen die Klimakatastrophe sei es ungeheuer wichtig, das „dynamische Netzwerk der mediterranen Städte“ zu aktivieren: Meeresschutz, Sonnen- und Windenergie, Ausbildungsoffensiven im Sinne eines „Green New Deal“ oder sanfter Tourismus mit Rückbau der bestehenden und oft extrem klimaschädlichen Infrastrukturen. Vor allem in den Bereichen des Massentourismus, z.B. in der Kreuzschifffahrt, sind Massnahmen dringendst notwendig und könnten von den Mittelmeerstädten initiiert werden. Reder beweist mit diesem neuen Standardwerk, dass der Mittelmeerraum und letztlich ganz Europa immer wieder den absurden Tendenzen von Abschottung und Exklusion getrotzt haben. Ein unerlässliches Buch; ein Meilenstein der Stadt- und Migrationsforschung.
Alexander Behr, EBF Wien
- Christian Reder: „Mediterrane Urbanität, Perioden vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas“, September 2020, Mandelbaum-Verlag, Wien.