Das neueste Buch des Journalisten und Schriftstellers Fabrizio Gatti ist ins Deutsche übersetzt und herausgegeben worden. Das Buch beschreibt die Durchquerung der Wüste Afrikas und des Mittelmeeres, die jährlich Tausende von Emigranten und Flüchtlingen unter dem Einsatz ihres Lebens unternehmen, um nach Europa zu gelangen.
Gattis Reise beginnt an der Westküste Senegals in Dakar und führt ihn mit dem Zug durch Mali an den Niger nach Niamey und Agadez am Rand der Ténéré-Wüste. Überall fällt der dunkelhaarige, aber etwas hellhäutige Italiener auf. Er gibt sich als Abenteuer-Reisender aus und versucht, den teils misstrauischen und teils neugierigen Blicken der Mitreisenden mit Offenheit zu begegnen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Die Gefahren bei diesem ersten Teil der Reise liegen vor allem in den hohen Temperaturen und in der für Europäer ungewohnten Ernährung. Trotzdem gerät er in einem überfüllten Zug in eine heikle Situation, bei der ihm am Ende ein Teil seines Gepäcks gestohlen wird.
Agadez, der Beginn der Wüste
In Agadez besteigt Gatti mit 200 weiteren Menschen einen uralten Lastwagen; vier oder fünf solche Laster starten täglich Richtung Libyen. Die in der Mitte des Buches abgedruckten ausgezeichneten Fotos dokumentieren diese unglaublichen Ladungen, die oben und seitlich die Ladeflächen mit Menschen, Wasserkanistern und Gepäcksäcken um mehrere Meter überragen. «Am Ende der Startbahn endet die Strasse. Endet Agadez. Endet die Sahelzone. Endet Schwarzafrika. Endet eine Welt. Vor dem Lkw erstreckt sich eine endlose steinige und sandige Ebene». Gleich wenige Kilometer nach Agadez treffen die Reisenden auf die erste Polizeisperre, bei der alle absteigen und sich im Sand hinknien müssen. Die Polizisten suchen sich einige Passagiere aus, die sie mit Gummischläuchen durchprügeln, um ihnen ein paar Francs abzuknöpfen. Bis zur libyschen Grenze werden sie so zwölf Mal angehalten. Manchmal gelingt es Gatti, die Aufmerksamkeit der prügelnden Soldaten und Polizisten abzulenken, indem er ihnen zum Beispiel Medikamente anbietet. Solche Versuche provozieren teilweise den Argwohn seiner Leidensgenossen, denn sie denken, er sei ein Verbündeter der Behörden. Oft fragt er sich, was er denn überhaupt da soll, ob er nicht abgebrüht und zynisch werde durch die erlebten Missstände, denen er nur mit der Erinnerung und der Schreibfeder begegnen kann.
In der Mitte der Wüste erreicht der Lastwagen die Oase Dirkou, in der Hunderte von Flüchtlingen gestrandet sind, die nicht mehr weiterkommen. Dort schlagen sie sich monate- oder jahrelang mit Prostitution, Betteln und Gelegenheitsjobs durch, bis sie die Mittel haben, um das letzte Stück zur libyschen Grenze anzugehen: «Ihr Geist ist noch voller Pläne, Träume und Freiheitsdrang. Nur kommen sie nicht weg von hier, weil ihr Körper im Alltag gefangen ist. Wenn sie je lebend in Europa ankommen, gelten sie höchstens als Desperados. Auch wenn sie in Wirklichkeit zu den wenigen Menschen auf der Welt gehören, die für die Hoffnung noch ihr Leben aufs Spiel setzen.»
Das Fünfsternhotel Lampedusa
Gatti kann den letzten Teil der Wüstendurchquerung über die Grenze nach Tripolis nicht mitmachen, weil er kein Visum für Libyen bekommt. Einige Monate später lässt er sich nach minutiösen Vorbereitungen, bei denen er sich genau über die Strömungen und die Winde um Lampedusa erkundigt, in einer Nacht stundenlang schwimmend durch das Meer treiben, um dann halb durchfroren an einem Strand an Land zu gehen. Ein Bewohner der Insel hilft ihm aus dem Wasser, zieht sein T-shirt aus, gibt es ihm und legt sich ihm auf den Bauch, um ihn aufzuwärmen. Nach dieser wohlwollenden Empfangsszene, bei der sich Gatti erstmals als kurdischer Flüchtling Namens Bilal ausgibt, gerät er in die erbarmungslose Verwaltungsmaschinerie Berlusconis. Es gelingt ihm mit List, seine kurdische Identität zu behalten und in den neu erbauten Flüchtlingskäfig eingeliefert zu werden. Dieses «Fünfsternhotel», wie es verantwortliche Politiker von der Regierungspartei Lega Nord nennen, erlebt Gatti als wahren Schandfleck Europas. Bei der Einweisung der Flüchtlingsgruppe wird ihnen gleich der Tarif erklärt: Die Gruppe muss sich in einem Raum auf den Boden setzen, der mit Fäkalien getränkt ist. Wer nicht pariert, bekommt Prügel. Besonders sadistische Wachmannschaften erheben gegenüber den Flüchtlingen den Arm zum Faschistengruss, zwingen die minderjährigen Muslime Pornobilder auf Handys anzuschauen und beschimpfen sie immer wieder.
Gegen Ende des Buches wird beschrieben, was mit den Flüchtlingen passiert, die aus Lampedusa wieder nach Libyen zurückgeschickt werden. Der Freundschaftsvertrag, den Berlusconi und Gaddafi 2008 unterschrieben haben, regelt das Problem der illegalen Einwanderung auf eine für Europa sehr bequeme, aber moralisch sehr verwerfliche Weise. Dafür, dass Gadaffi wieder in den Salons und Couloirs der internationalen Diplomatie zugelassen wurde, nimmt er die abgeschobenen Flüchtlinge wieder auf. Die Lager, in denen sie gehalten werden, haben aber nichts mit Lagern zu tun, sondern sind schreckliche Gefängnisse. Ein Teil der Flüchtlinge wird dann zwangsweise wieder zurück in die Wüste geschickt. Wie viele bei der wiederholten Durchquerung der Wüste ihr Leben verlieren – darüber wird es wohl nie Statistiken geben. Die Verantwortung Europas dafür ist unbestreitbar und auch den Flüchtlingen klar. Einer von ihnen gibt dies Bilal in der Wüste so zu verstehen:
«‚Du bist also Italiener?‘ Die Stimme kommt von einem der Männer, die stehen geblieben waren, um zuzuhören. Der Mond wirft ihre langen Schatten auf den vom Wind leicht gewellten Sand. Sie treten näher. ‚Dann bist Du schuld, dass wir jetzt hier sind.‘ Es hat keinen Sinn, nach einer Rechtfertigung zu suchen und darauf hinzuweisen, dass in einer Demokratie nicht immer alle Staatsbürger mit ihrer Regierung einverstanden sind.
Für einen Sklaven der neuen Welt ist die Demokratie nur eine ferne Lüge. Sie geht ihn nichts an.»
Fabrizio Gatti: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuss. Verlag Antje Kunstmann, München 2009, 24.90 Euro