Bosnien und Herzegowina ist der neue Hotspot vor den Toren der Europäischen Union. Obwohl zahlenmässig nicht besonders viele Menschen im kleinen, von Hügeln und Bergen durchzogenen Balkanstaat gestrandet sind, ist deren Situation katastrophal – auf 8000 Migrant·inn·en schätzen offizielle Zahlen die Anzahl Menschen, rund 2000 davon leben auf der Strasse. Die Bilder sind schrecklich, die humanitäre Situation schlecht. Doch die Eskalation hat System: Sie hält das Bild einer Krise aufrecht, das die Europäische Union und ihre Politiker·innen benötigen, um ihre Politik der Migrationsabwehr zu rechtfertigen.
Seit 2018 entwickelt sich die Föderation Bosnien und Herzegowina zu einem wichtigen Standort für die Externalisierung der EU-Aussengrenzen innerhalb Europas. Die Staaten entlang der Balkanroute werden mit Geld und politischen Druckmitteln enger an den Schengen-Raum und die EU gebunden, was dieser im Gegenzug ermöglicht, ihre Migrationspolitik in diese Länder auszulagern. Es werden Camps errichtet, die Registrierung und Überwachung von Migrantinn_en wird verbessert und die entsprechenden Regierungen zu Rückübernahmeabkommen mit Ländern wie Pakistan gedrängt – alles dank und mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union und ihrer Partner·innen. Während drei Wochen reisten wir nach Sarajevo, Zenica, Banja Luka und an zahlreiche Orte im Kanton Una-Sana an der Grenze zu Kroatien. In Gesprächen mit dutzenden Migrant·inn·en, Aktivist·inn·en, Vertreter·inne·n von internationalen Organisationen und lokalen Bewohner·inne·n versuchten wir, den komplexen Schauplatz etwas besser zu verstehen.
Nachkriegsordnung
Letztes Jahr feierte die Welt 25 Jahre Dayton-Vertrag. Das Abkommen beendete 1995 den Krieg in Bosnien und Herzegowina. Es teilte das Land in die Republik Srpska und in die Föderation Bosnien und Herzegowina plus das von beiden Teilrepubliken verwaltete Brcko-Distrikt, das offiziell als Kondominium gilt. Der Krieg, Dayton, die alten Konflikte: Überall, wo wir hinkamen, war das ein grosses Thema. Noch immer sind die Traumata allgegenwärtig und der Frieden brüchig. Im Kriegsgeschehen wie auch in der Nachkriegsarchitektur von Bosnien und Herzegowina spielten internationale Organisationen eine umstrittene Rolle. Kritiker·innen bezeichnen den Vertrag von Dayton als Paradebeispiel neoliberaler Friedensbildung.
„Bosnien und Herzegowina ist seit 1995 eine Art Protektorat. Anstatt Behörden entscheiden internationale Organisationen und ihre Manager·innen. Die heutige Situation kann ohne Blick auf das Nachkriegssystem nicht verstanden werden. So viele Konflikte und Traumata wurden bis heute ignoriert“, sagt Gorana Mlinarević. Laut der feministischen Aktivistin und Konfliktforscherin aus Sarajevo hat das viel mit den derzeitigen Auseinandersetzungen und Herausforderungen rund um Migration zu tun: „In den letzten 25 Jahren entstand ein Staat, dessen Wohlfahrtssektor ausgelagert wurde. Genau das ist die Idee von neoliberaler Friedensbildung: durch Privatisierung einen kapitalistischen Staat zu erschaffen, in dem NGOs und internationale Organisationen im sozialen Bereich eine tragende Rolle spielen. Und so stehen wir heute vor einem in weiten Teilen dysfunktionalen Staat. Das ist auch der Grund, warum die EU heute der IOM (International Organization for Migration) Geld für Migrationsmanagement gibt und nicht dem hiesigen Sicherheitsministerium.“ Das ist problematisch, denn während die Ministerien, so korrupt und dysfunktional sie auch sein mögen, gegenüber der lokalen Bevölkerung wenigstens rechenschaftspflichtig sind, sieht das bei der UN-Migrationsagentur IOM anders aus. Diese erhält das Geld von der EU – und ist deshalb auch dieser gegenüber verantwortlich. So steht das klar in einem kürzlich von der in Genf ansässigen UN-Organisation veröffentlichten Bericht geschrieben: „Sobald die EU eine Entscheidung über die Höhe der zuzuweisenden Mittel getroffen hat, werden die Prioritäten und das Budget durch ein Treffen zwischen Vertretern der EU-Delegation in Bosnien und Herzegowina, dem Sicherheitsministerium von Bosnien und Herzegowina, der IOM und ihren UN-Partner·inne·n sowie dem Dänischen Flüchtlingsrat festgelegt. Die endgültige Entscheidung über Zuteilung und Budget liegt beim Geldgeber.“
IOM, der verlängerte Arm der EU
Gegen 80 Millionen Euro hat die IOM alleine von der EU seit Juni 2018 erhalten, wie eine im Januar veröffentlichte Übersicht ausweist. 80 Millionen Euro investiert von der EU, die auf der anderen Seite der Grenze der Misshandlung und Gewalt gegenüber Menschen auf der Flucht tatenlos zusieht, verwaltet von der UN-Migrationsagentur. Die kürzlich veröffentlichten Zahlen lassen ansatzweise erahnen, wie die IOM die EU-Millionen investiert: So wurden über 3,4 Millionen Euro für direkte Unterstützung von bosnischen Behörden verwendet. Ein grosser Teil dieser Ausgaben floss in Sicherheitsequipment wie Drohnen, Wärmebildkameras oder Fahrzeuge für lokale und nationale Polizeieinheiten. Ausgewiesen wird beispielsweise der Kauf von 30 Spezialfahrzeugen, unter anderem für die Polizei im Kanton Una-Sana. Ebendiese Polizei führt seit 2018 auf Anordnung der Kantonsregierung illegale Buskontrollen in Klucj an der Grenze zur Republik Srpska durch und zwingt alle Reisenden ohne Papiere auszusteigen. Diese müssen dann zu Fuss weiter gehen; entweder sie gelangen in eines der Camps oder sie suchen Schutz in Wäldern oder Ruinen. Bis nach Bihac sind es über 100 Kilometer. Ebenfalls finanziert wurde die sogenannte Schutzausrüstung, also Polizeihelme, Stiefel und Krawall-Körperschutz.
Der grösste Teil der Ausgaben, fast 40 Millionen Euro, ist unter dem Punkt „humanitäre Unterstützung“ aufgelistet – diese fliessen insbesondere in den Unterhalt der Camps, inklusive der dazugehörigen Sicherheitsmassnahmen. Die IOM ist verantwortlich für die Errichtung und den Betrieb von unterschiedlichen Camps: zwei davon in Sarajevo (Usivak und Blazuj) und drei im Kanton Una-Sana (Borici, Sedra und Miral), da sich die Organisation Ende Dezember aus Lipa zurückgezogen hat. Trotz des beachtlichen Budgets sind die Berichte aus den Camps ernüchternd. Bewohner·innen aus Blazuj erzählten uns, dass sie für jede Mahlzeit bis zu zwei Stunden anstehen müssen. Das Camp ausserhalb von Sarajevo ist hoffnungslos überfüllt, Krätze ist weitverbreitet, Spannungen und Gewalt zwischen Bewohner·inne·n und den privaten Sicherheitsangestellten gibt es ständig.
Bei einem Kurzbesuch im Camp von Miral in der Nähe von Velika Kladusa trafen wir auf so ein überfülltes Lager: ursprünglich für 700 Leute gebaut wohnen dort derzeit über 1100 Menschen, zusammengepfercht in einer Halle, eng beieinander auf Doppelstockbetten. Ausser den Betreuer·inne·n trug bei unserem Besuch niemand Masken. Währenddessen Millionen für den Ausbau von Überwachungstechnik, grenzübergreifende Sicherheitszusammenarbeit und Aufrüstung budgetiert sind, scheint es kein Geld für Masken zu geben, um die Menschen vor Corona zu schützen. In Bosnien und Herzegowina sind derzeit ca. 8000 Migrant·inn·en gestrandet – warum deren Lebensumstände trotz Millionenbudget und den zahlreichen erfahrenen internationalen Organisationen vor Ort so prekär sind, ist unklar. „Diese Krise müsste keine sein“, sagten uns Betroffene und Aktivist·inn·en immer wieder. Was sich in Bosnien abspielt, ist keine Migrationskrise, sondern eine Krise der sozialen Gerechtigkeit, basierend auf einer Politik der geschlossenen Grenzen, ausgetragen auf dem Rücken der Geflüchteten, die in überfüllten Camps oder bei Minustemparaturen in Ruinen oder in verschneiten Wäldern überleben müssen.
Die Berichte über prekäre Zustände, über fehlerhaftes Management, problematische Investitionen in einer Konfliktregion mit zweifelhaften Geschäftspartner·inne·n und exzessiver Gewalt in den Camps: Sie sind zahllos. Ob lokale Bewohner·innen, internationale Aktivist·inn·en oder Campinsass·inn·en, wir trafen praktisch niemanden an, der Gutes über die UN-Migrationsagentur zu berichten hatte. Das Durchsetzen der EU-Migrationspolitik durch die IOM löse alte Konfliktlinien wieder aus und verschärfe die Spannungen in der fragilen Struktur der bosnischen Nachkriegsgesellschaft. Und die IOM? Anstatt sich an die EU zu richten und ein Ende der Gewalt und der Politik der geschlossenen Grenzen zu fordern (kein einziger EU-Staat erklärte sich bereit, in Bosnien und Herzegowina gestrandete Migrant·inn·en aufzunehmen), richtet sie sich an die lokalen Behörden und fordert ein Ende des „derzeitigen Stillstands“. Das geht einher mit einer Medienberichterstattung, die ein barbarisches Bild von Bosnien und Herzegowina zeichnet: fremdenfeindliche Bevölkerung, faschistische Lokalpolitiker·innen, unfähige Regierung und überall Gewalt. Die Journalistin und Aktivstin Nidzara Ahmetasevic sieht darin eine Dämonisierung des Balkans: „Die IOM und andere Akteure pushen ein bestimmtes Bild vom Balkan als Ort des Bösen. Leider tun das auch etliche internationale Freiwillige. Es ist eine sehr neokoloniale Art und Weise und zeigt Bosnien und vor allem seine Bevölkerung als einen feindlichen Ort. Dabei geht vergessen, dass die internationalen Organisationen das Sagen haben. Bosnien ist ein Protektorat, hat keine eigenen Zuständigkeiten – Bosnien ist kein funktionierender Staat. Es sind die IOM, die EU, das UNHCR, die ihre Agenden durchsetzen und die Folgen ihrer Politik der geschlossenen Grenzen nach Bosnien auslagern.“ Was VertreterInnen der IOM zur Kritik sagen, wird zu einem späteren Zeitpunkt hier thematisiert werden.
Feministische Solidarität
Inwiefern die von der EU skizzierte und von internationalen Organisationen durchgeführte Politik in Bosnien und Herzegowina den humanitären Herausforderungen gerecht werden soll, bleibt unklar. Aber das ist wohl auch gar nicht das Ziel, denn die Politik der Hotspots ist eine Politik der Abschreckung: Wie ein Mahnmal soll ein System voller Gewalt davon abraten, den Weg in die EU zu suchen – Grenzgewalt, Camps, forcierte Rückkehr sind integraler Bestandteil dieser Politik. Gerade in Bosnien und Herzegowina wird klar, dass es nicht um bessere Camps geht, sondern das eingeschränkte und exklusive Recht auf Bewegungsfreiheit das Problem und damit auch der Elefant im Raum ist, über den niemand mehr spricht: „Die Menschen haben unter widrigsten Umständen zehn Grenzen überquert. Was denkt die EU eigentlich, dass sie nun einfach aufgeben? Das wird nicht passieren“, fasst die aus dem Dorf Velecevo bei Klucj stammende Aktivistin Sanela Klepic die Situation zusammen.
Auf der Reise an verschiedene Orte treffen wir viele Aktivist·inn·en. Währenddessen EU und IOM munter ihr Migrationsmanagement betreiben, sind im Schatten davon hunderte Freiwillige aktiv, die der EU-Migrationspolitik ein Stück Menschlichkeit entgegensetzen. Doch diese gehen in der aktuellen Berichterstattung unter: Lokale Bewohner·innen werden meist nur im Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit oder Übergriffen gegen Migrant·inn·en erwähnt. Die humanitäre Industrie stellt die kleinteilige aber mit einem langen Atem begonnene Solidarität in Bosnien und Herzegowina in den Schatten. Dabei ist sie essentiell. Und mehr als erwähnenswert. Es handelt sich oft um Frauen, die mittlerweile eine Art Netzwerke über das ganze Land aufgebaut haben. „Diese Vernetzung stärkt uns enorm im patriarchalen Bosnien und Herzegowina: Wir kämpfen nicht nur für die Rechte von Migrant·inn·en sondern für eine solidarische Gesellschaft als solche und zeigen, dass wir uns als Frauen organisieren können“, sagt Klepic beim Abendessen in einem Restaurant in der Kleinstadt Klucj, die an der Grenze zwischen dem Kanton Una-Sana und der Republik Srbska liegt. Gemeinsam mit ihrem Vater startete sie ein Unterstützungsprogramm für Reisende, die gleich nach der Kantonsgrenze zur Republik Srbska von der örtlichen Polizei auf Anordnung der Kantonsregierung aus dem Bus gezogen werden. Mit nichts und lediglich zu zweit gestartet, haben sie heute ein Team, Toiletten, kleine Hütten zum Übernachten und einen Verteilcontainer mit Schlafsäcken und sonstigen überlebenswichtigen Gütern – möglich machte das die Hilfe von Freiwilligen und finanzielle Unterstützung vom bosnischen Roten Kreuz. Doch angesichts der Herausforderungen denkt Sanela Klepic weiter: „Ich will nach Sarajevo ziehen und dort ein Projekt starten, welches eine Schnittstelle aus lokaler Bevölkerung, Migrant·inn·en, internationalen Freiwilligen und Organisationen schafft.“ Sie will die Erfahrungen der letzten Jahre nutzen, das Netzwerk der Solidarität ausbauen und stärken: ganz im Sinne der Idee „Corridors of Solidarity – from the Sea to the Cities“.
Unsichtbare Solidarität in Bosnien und Herzegowina lebt, auch wenn sie mancherorts unter Druck ist und auch wenn fremdenfeindliche Tendenzen und Gewalt gegen Migrant·inn·en zunehmen. Aber ob in Sarajevo oder in Zenica bei zwei jungen Schwestern, die selbstständig ein Unterstützungsnetzwerk auf die Beine gestellt haben, oder in Velecevo bei Sanela Klepic und an vielen anderen Orten: Der Widerstand gegen das gewalttätige Migrationsregime und die Solidarität mit Menschen auf der Flucht haben viele Gesichter und Geschichten. Das sehen auch die meisten Migrant·inn·en so: „Nirgends waren die Leute so nett zu uns wie hier“, sagen uns viele mit Blick auf ihre Verbündeten. Doch ihr Ziel bleibt die EU: Sie werden sich weiterhin über die EU-Migrationspolitik und ihr gewalttätiges Grenzregime hinwegsetzen und ihr Recht auf Bewegungsfreiheit einfordern. Und die EU? Die schottet sich weiter ab. Um jeden Preis.
Sophie-Anne Bisiaux, Researcherin Migreurop
Lorenz Naegeli, freischaffender Journalist