Seit einigen Wochen ist Bolivien in Aufruhr: Straßensperren, Streiks und Demonstrationen, am 13. Oktober ca. 50 Tote und 100 Verletzte. Jeden Tag schließen sich neue Gruppen den Protesten an (Bauern, Rentner, Lehrkräfte, verschiedene Vereinigungen usw.). Die Bewegung umfasst alle Sektoren, die in Folge des herrschenden Wirtschaftsmodells verarmt sind und seit Jahren ihren Unmut kundtun.
Es vereint sie ihr Widerstand gegen die geplanten Erdgasausfuhren. Das Gas wird zum Symbol des Kampfes gegen eine Situation von Armut und Ausbeutung, die sich seit Jahren ständig verschärft.
Bolivien ist eines der ärmsten Länder Lateinamerikas. Das Pro-Kopf-Einkommen betrug 2002 882 US-Dollar, ein Drittel der Bevölkerung (2,6 Millionen) musste jedoch mit nur 200 Dollar pro Jahr auskommen. Das Pro-Kopf-Einkommen ist dem INE (Nationales Institut für Statistiken) zufolge in den letzten vier Jahren konstant gesunken, was vor allem die Armen getroffen hat.
Die Korruption ist im Land so stark verankert, dass die Regierung sich gezwungen sah, ein Sekretariat zu ihrer Bekämpfung einzurichten, das zwar direkt vom Vizepräsidenten abhing, aber keine nennenswerten Resultate erzielen konnte.
Wer Armut sagt und Korruption, der sagt Ungerechtigkeit, die umso stärker empfunden wurde, als die politischen Institutionen (Präsident, Parlament) der Situation nicht die erfoderliche Aufmerksamkeit zukommen ließen. Erst am 9. Oktober, das heißt vier Wochen nach Beginn der Unruhen, widmete ihnen die regierende "Mega-Koalition" eine Session, so beschäftigt waren die einzelnen Parteien damit, möglichst viele Posten für ihre Mitglieder zu ergattern.
Um die Bedeutung der Erdgasausfuhren aus Bolivien zu verstehen, muss auf einige Ereignisse der letzten Jahre eingegangen werden:
1985 wird ein Strukturanpassungsplan des Internationalen Währungsfonds über das Land verhängt. Eine der Maßnahmen dieses Programms zielt auf die Stabilisierung der Währung ab und betraf vor allem die staatliche Erdölgesellschaft Yacimientos Petroliferos Fiscales Bolivianos (YPFB). Dem Unternehmen wird ein Transfer von 75 bis 85 Prozent ihres Einkommens an den Tresor der Nation auferlegt, was dazu führt, dass die Produktion sinkt und der Bau des Erdgasverteilernetzes im Lande stillgelegt wird. Diese Maßnahmen vergrößern die Schulden des Unternehmens und dienen als Vorwand, die "schlechte Führung" der staatlichen Unternehmen anzuprangern.
Ab 1990 wird die Privatisierung oder "Kapitalisierung" als Lösung für die Krise präsentiert: das Monopol der YPFB bei verschiedenen Etappen der Verarbeitung wird aufgehoben. 1996 erlaubt ein neues Gesetz die totale Liberalisierung des Erdölmarktes und bestimmt extrem niedrige Abgaben der Privatunternehmen an den Staat. Seither sind an die 80 Prozent der Erdöl- und Erdgasreserven unter der Kontrolle von Petrobras (Brasilien), Total, Maxus (Spanien/Frankreich) und Repsol (Spanien).
1997 werden bedeutende Erdgasvorkommen entdeckt. Das internationale Unternehmen Goldyer&Mac Naughton schätzt die bolivianischen Erdgasreserven auf 52 Trillionen Kubikfuß, die zweitgrößten in Lateinamerika.
Die Erdgasvorkommen in Südamerika belaufen sich insgesamt auf 123,7 Trillionen Kubikfuß, davon entfallen 42 Prozent auf Bolivien, 20,8 Prozent auf Argentinien und 16,6 Prozent auf Venezuela. Auch bei Abdeckung des internen Bedarfs auf dem Kontinent bliebe noch genug für die Ausfuhr. Es geht also nicht um einen Mangel an Gas. Das Problem liegt viel mehr beim Eigentum der Vorkommen, der Verarbeitung und dem Vertrieb dieses Bodenschatzes und beim Profit, den der bolivianische Staat einstreichen könnte, wenn das Gas ohne Zwischenhändler exportiert würde.
Warum exportieren?
Die bolivianische Regierung ging auf das Angebot eines internationalen Konsortiums (Pacific LNG) ein, das Gas nach Kalifornien und Mexiko ausführen will. Es schlug den Bau einer Gasleitung bis zu einem chilenischen Hafen vor, da Bolivien keinen Zugang zum Meer hat. Dort soll das Gas mittels von der Pacific LNG kontrollierten Spitzentechnologie verflüssigt und anschließend per Schiff zu den nordamerikanischen Märkten transportiert werden.
Damit das Geschäft möglichst rentabel sei, ersuchte das Konsortium den bolivianischen Staat, seine Geldforderungen einzuschränken, die ja schon durch das Gesetz von 1996 heruntergeschraubt worden waren.
Dieses Ansuchen wurde von breiten Kreisen der Bevölkerung angefochten, weil Bolivien bei diesem Geschäft etwa 70 Millionen Dollar pro Jahr einnehmen würde, gegen 1300 Millionen für die Pacific LNG. Für jeden Dollar, den Pacific LNG an Steuern zahlt, werden sie an die 20 selbst einstreichen.
Die Vertreter der Protestbewegungen gegen die Erdgasausfuhren unterstreichen, dass die Erträge aus diesem Handel das Land keineswegs aus der Wirtschaftskrise führen könnten. Die Geschichte Boliviens zeige allzu deutlich, dass die Ausbeutung der Bodenschätze bisher nicht zur Förderung einer dauerhaften Entwicklung beigetragen habe: Bodenschätze dem Staat als Rohstoff verkaufen reduziere die finanziellen Einkünfte und schaffe keine Arbeitsplätzebei der Verarbeitungsindustrie oder den Dienstleistungsbetrieben.
Die transnationalen Unternehmen hingegen sind äußerst rentabel. Neben der Ausfuhr profitieren die Kompanien vom internen Markt, weil der Preis des bolivianischen Erdgases höher ist als in Argentinien oder Venezuela. Vor diesem Hintergrund wehren sich fast alle Sektoren des Landes gegen die Exporte, weil die BolivianerInnen einmal mehr nicht von den eigenen Ergasreserven profitieren könnten, um die Entwicklung des eigenen Landes voranzutreiben.
Zusammengefasst gibt es also drei Elemente: Die transnationalen Unternehmen machen ungerechte Profite; das Gas wird nicht zugunsten der dauerhaften Entwicklung des Landes genutzt, und die Ausfuhr über einen chilenischen Hafen (Bolivien hat seit einem Krieg mit seinem Nachbarn am Ende des 19. Jahrhunderts keinen Zugang mehr zum Meer) wird unter anderem aus historischen Gründen abgelehnt. In Anbetracht dieser Tatsachen sagt eine Mehrheit der BolivianerInnen, dass es ihnen lieber sei, das Gas würde nicht gefördert, als es auf diese Weise praktisch zu verschenken. Sie ist der Ansicht, die Bemühungen müssten in Richtung einer Verarbeitung im Land gehen, um dies als Motor für Industrialisierung und Arbeitsplatzbeschaffung zu nützen.
Die derzeitige Krise zeigt auf, dass die Bevölkerung genug hat von kurzfristigen Lösungen, genug von der herrschenden Armut. Sie ist sich bewusst, dass das auf der Ausfuhr von natürlichen Ressourcen beruhende Wirtschaftsmodell bisher nicht zu wirtschaftlichem und sozialem Aufschwung beigetragen hat.
Selbst wenn man sich fragen kann, ob die Forderungen der Protestbewegung kurzfristig realistisch sind, so ist es doch angebracht, von der Regierung zu verlangen, langfristige Lösungen anzustreben, die auf sozialer Gerechtigkeit basieren und nicht auf den Erfordernissen des herrschenden Wirtschaftsmodells, das sich einzig und allein nach den Diktaten des "Marktes" richtet. (…)
Roxana Paniagua
Ana Maria Seifert
Frida Villareal *
*Die französische Fassung dieses Artikels findet man auf www.risal.collectifs