Der Exodus der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach hat sich in der letzten Septemberwoche vollzogen: Satellitenbilder* dokumentierten, wie sich auf der Hauptverkehrsachse des sogenannten Latschin-Korridors Tag für Tag eine schier unendlich lange Autokolonne durch die grüne Hügellandschaft des Südkaukasus schlängelte. Sie bewegte sich in eine einzige Richtung: weg aus einem Gebiet, das die Fliehenden bis vor kurzem noch ihre Heimat nannten.
Erschöpfte Kinder, verängstigte Frauen und abgemagerte Männer flohen in Privatwagen, in Bussen und auf vollgestopften Lastwagen, oft nur mit dem, was sie am Leib trugen. Innerhalb von nur fünf Tagen landeten so über 100.000 Menschen in der kleinen armenischen Grenzstadt Goris, besitzlos, verzweifelt, ohne Zukunft. Goris schien für einen Moment wie «eine Station, in der alle Schicksale ausweichlos einen Zielort hatten: Chaos und Ungewissheit», schrieb eine Journalistin vor Ort. Bergkarabach wurde innerhalb einer Woche entvölkert. Abgesehen von wenigen Alten und Gebrechlichen – man schätzt ihre Zahl auf rund 1000 Personen – werden hier keine Armenier·innen mehr leben – zum ersten Mal seit Jahrtausenden. Bis Ende September machte der armenische Teil der Bevölkerung 95 Prozent aus.
Auflösung aller Institutionen
Die Menschen sind geflüchtet, weil die Heimat, in der sie sich seit 30 Jahren in Sicherheit wähnten, nicht mehr existiert. Der wohl letzte Präsident ihrer international nie anerkannten Republik Arzach, Samwel Shahramanyan, besiegelte am 27. September 2023 mit einem Dekret die Auflösung aller politischen Strukturen Bergkarabachs. Die lokale Präsidentschaft, das Parlament und die gewählten Bürgermeister sowie sämtliche Institutionen der letzten 30 Jahre soll es ab dem 1. Januar 2024 nicht mehr geben.
Die formelle Auflösung der Republik, die vollständige Entwaffnung ihrer eigenen «Verteidigungskräfte», sowie die Aufnahme von Gesprächen mit Baku über die vollständige «Wiedereingliederung» in Aserbaidschan als Minderheit, waren Bedingungen, welche Aserbaidschan nach seinem letzten Blitzkrieg den Behörden in Stepanakert vorgelegt hatte.
Der letzte Krieg um Bergkarabach begann am 19. September dieses Jahres, als Aserbaidschan Bergkarabachs Städte und Dörfer massiv mit Artillerie und Drohnen angriff. Es war die zweite Grossoffensive Aserbaidschans gegen Bergkarabach innerhalb der letzten drei Jahre. Die Strategie der Eskalation habe sich für Aserbaidschans Autokraten Ilham Alijew nach 2020 immer ausgezahlt, urteilt Laurence Broers, einer der renommiertesten Südkaukasus-Experten. Alijew habe wiederholt und erfolgreich auf Gewalt gesetzt gegen einen Gegner, der unverhältnismässig schwächer war, ohne je auf nennenswerten Widerstand der Weltgemeinschaft zu stossen, sagte er in einem Interview gegenüber dem deutschen Magazin «Spiegel». Und er werde es wieder tun. Denn Aserbaidschan fordert jetzt einen Verbindungs-Korridor zu seiner Exklave Nachitschewan. Doch der Weg führt über armenisches Gebiet.
Teurer Preis des Triumphs
Tatsache ist, dass Bergkarabach der Offensive am 19. September militärisch wenig entgegenzusetzen hatte. Seine «Verteidigungskräfte», einige Tausend Mann, waren auf sich allein gestellt. Nicht einmal Armenien konnte oder wollte dieses Mal im Namen der Karabach- Armenier·innen kämpfen. Zudem war die Bevölkerung an den Rand einer Hungerkatastrophe gebracht worden. Zehn Monate lang hatte Aserbaidschan das geographisch isolierte Bergkarabach abgeriegelt und liess keine Nahrung, keine Medikamente und keinen Treibstoff durch. Baku setzte Hunger als Kriegswaffe schamlos ein, was eklatant gegen das Völkerrecht verstösst. Die UNO schwieg im Fall Bergkarabach aber eisern. Und liess zu, dass die Bevölkerung völlig entkräftet wurde.
Moskau vermittelte zwischen den Parteien und erreichte 24 Stunden später ein Waffenstillstandsabkommen, das sämtliche Forderungen Bakus unhinterfragt übernahm. Die Führung Bergkarabachs tauschte ihre Kapitulation gegen das Recht für die Bevölkerung aus, den Latschin-Korridor «frei und ungehindert» für die Flucht benützen zu können. Alijew triumphierte.
Der «Triumph», den Putin Alijew mit diesem Abkommen auf dem Tablett anbot, hatte freilich einen Preis. Berichten aus Baku zufolge, soll der Verbleib der russischen Friedenstruppen auf dem Territorium Aserbaidschans für «eine noch zu auszuhandelnde Zeit» verlängert werden. Als einzige Grossmacht konnte Russland nach dem Krieg 2020 rund 2000 Friedenssoldaten im Gebiet stationieren. Ihre Mission, offiziell zum «Schutz der Armenier Bergkarabachs», endet im Jahr 2025. Der Verbleib von «russischen Stiefeln» auf dem Territorium Aserbaidschans über dieses Datum hinaus garantiert, dass Moskau die Politik von Baku weiterhin mitbestimmen kann.
Wo ist die Weltgemeinschaft?
In einer Zeit, in der globale und regionale Mächte wieder dabei sind, neue Verbindungswege für den Transport von Energieressourcen zu erschliessen, misst der Kreml der Nutzung von Aserbaidschans Pipelines besondere Bedeutung bei, um Russlands Energiereichtum trotz Sanktionen auf den Weltmarkt zu bringen. Und wo es um «strategische Interessen» geht, spielen Volksgruppen wie die Karabach-Armenier·innen die Rolle der Bauern auf dem Schachbrett: Sie werden als erstes geopfert.
Am 24. September öffnete Alijew den Latschin-Korridor für die «freie, freiwillige und ungehinderte Bewegung» der Bewohner·innen Bergkarabachs. Die ethnische Säuberung Bergkarabachs sollte als «freiwillige Flucht» getarnt werden. «Wie sie meine Erinnerungen entweihen. Wie sie meine Werte verhöhnen. Wie sie sich in meinen Himmel einmischen», sagte Meri Asatryan, eine Assistentin des Ombudsmanns für Menschenrechte in Karabach, in einem Video auf Instagram. Dann trat auch sie die Flucht an. «Alle wussten, dass die ethnische Säuberung Bergkarabachs bevorsteht; niemand hat etwas getan, um sie zu verhindern», beklagt der politische Analytiker Benyamin Poghosyan in Jerewan.
Nach Beginn des Ukraine-Kriegs traten die EU und die USA als geopolitische Akteure und als «Alternative» zu Russland im Südkaukasus auf. Am 6. Oktober 2022 unterzeichneten Aserbaidschans Ilham Alijew und Armeniens Nikol Paschinjan in Prag eine Erklärung, in der sie gegenseitig die territoriale Integrität und Souveränität ihrer Länder anerkannten. Statt einer Selbstbestimmung für Bergkarabach sah der EU-Plan einen internationalen Mechanismus vor, der dafür sorgen sollte, dass die 120.000 Armenier·innen Bergkarabachs in ihrer Heimat in «Würde und Sicherheit» leben könnten. Der Plan wurde vom US-Aussenminister persönlich unterstützt.
Dieser Friedensplan des Westens war einmal mehr sehr schlecht vorbereitet. Er enthielt keine Mechanismen, die es ermöglicht hätten, die Konflikt-Parteien zu einer Umsetzung zu zwingen. Vom Plan des Westens pickte Alijew nur jenen Paragraphen heraus, der die territoriale Souveränität und Integrität Aserbaidschans vorsah – und setzte einmal mehr auf das Recht des Stärkeren. Die Entvölkerung Bergkarabachs ist auch eine Folge der Unfähigkeit des Westens, seine Pläne umzusetzen. «Ein äusserst schlechter Präzedenzfall für die Glaubwürdigkeit des Westens», kritisierte Stefan Meister, der die Bundesregierung aussenpolitisch berät.
Türkische Welt: von der Adria bis nach China
Für Alijew zähle nur die Meinung der Türkei und Russlands, schreibt Thomas de Waal, auch er ein sehr guter Kenner des Südkaukasus, in der Zeitschrift «Foreign Affairs». Alijew habe verstanden, dass die Türkei seine Ambitionen unterstützen und Russland ihn dabei nicht hindern würde und dass der Westen nicht fähig sei, seine Worte in Taten umzusetzen. In der Tat halten Ilham Alijew, wie auch Putin und Erdogan, den Westen für dekadent und käuflich. Wie Moskau und Ankara macht auch Baku keinen Hehl daraus, dass sie die USA und die EU aus dem Südkaukasus verdrängen wollen.
Als hätte eine riesige Uhr die Zeit zurückgedreht, buhlen Russland, die Türkei und der Iran wie in vergangenen Jahrhunderten erneut um Macht und Einflusssphären in der Region. Die Türkei ist spätestens seit 2020, als sie im zweiten Krieg um Bergkarabach beträchtlich zum Sieg Aserbaidschans beitrug, als mächtiger Akteur zurückgekehrt. Die türkische Aussenpolitik betrachtet den Südkaukasus und Zentralasien dabei als einen eng miteinander verbundenen Raum, der die Basis bilden sollte für eine turksprachige Welt, die sich von der «Adria bis zur Chinesischen Mauer» erstreckt. Von dieser Welt verspricht sich der immer wieder von Grossmacht-Visionen getriebene türkische Präsident, die Türkei im 21. Jahrhundert in eine globale Macht verwandeln zu können. Voraussetzung für die Verwirklichung seines Traums ist allerdings ein territorialer Zugang, der die Türkei direkt mit Aserbaidschan und Zentralasien verbindet. Und dieser verläuft durch die südarmenische Provinz Sangesur.
Einen Tag nach der Kapitulation Bergkarabachs gratulierte Erdogan seinem Amtskollegen Alijew in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan für dessen historischen Sieg. Dass die Blitzoperation «siegreich und mit grösster Sensibilität für die Rechte der Zivilbevölkerung abgeschlossen wurde», erfülle ihn mit Stolz, sagte er. Bewusster Zynismus? Dann forderte Erdogan den armenischen Ministerpräsident Nikol Paschinjan auf, die «Friedenshand Aserbaidschans» zu akzeptieren und «aufrichtige Schritte» in Bezug auf den Sangesur-Korridor zu unternehmen. Die Türkei und Aserbaidschan fordern Armenien ultimativ dazu auf, dieses Stück armenischen Territoriums «freiwillig» freizugeben oder, wie in Bergkarabach, eine neue Niederlage zu riskieren.
Droht ein neuer Flächenbrand?
Noch stossen die Pläne zur Errichtung eines Sangesur-Korridors in Iran auf heftigen Widerstand. Teheran betrachtet jede Änderung der Grenzen im Südkaukasus als eine «rote Linie». Es befürchtet, dass die von Ankara angestrebte «türkische Welt von der Adria bis zur Chinesischen Mauer» den iranischen Einfluss in Zentralasien sowie ihre Landverbindungen durch den Kaukasus gefährden könnte. Die uralte Rivalität zwischen dem Iran und der Türkei könnte einmal mehr einen Flächenband auslösen, der nicht nur den Südkaukasus, Iran und die Türkei betreffen würde, sondern auch Israel, das sich Aserbaidschans strategischer Verbündeter nennt, und womöglich sogar Indien, das mit dem Iran paktiert.
«Haben die Armenier eine Chance, zu überleben?» fragte der armenische Dichter Hrant Matewosjan den polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski, als dieser 1991 die kleine kaukasische Republik besuchte. Gerade war der erste Krieg um Bergkarabach ausgebrochen. «Erwartet sie nicht das Schicksal der Juden: zu existieren, jedoch nur in der Diaspora, nur als Vertriebene, dazu verurteilt, in Ghettos zu leben, über alle Kontinente verstreut?» Dass die Armenier·innen heute, gut hundert Jahre, nachdem sie Opfer eines Genozids wurden, erneut um ihre Existenz bangen müssen, ist ein Armutszeichen der Weltgemeinschaft. Um nicht noch einmal zum Kollateralschaden der Geschichte zu werden, fordern sie die UNO auf, Friedenstruppen entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zu schicken. Wird die Weltgemeinschaft darauf antworten? Momentan überwiegen die Aufrufe an «alle Konfliktparteien», sich zu einigen. Mehr als zwei Jahre lang hat dieselbe Weltgemeinschaft tatenlos zugeschaut, wie sich auf dem Südkaukasus eine ethnische Säuberung gigantischen Ausmasses abzeichnete. Die Gefahr ist gross, dass die nun mit Gewalt erreichte «friedliche Lösung» der Weltgemeinschaft ihr als neues Desaster auf die Füsse fallen wird.
Amalie van Gent, 3. Oktober 2023
*Satellitenbilder des US-Unternehmens Maxar