Der 44 Tage andauernde Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan ist beendet. Am 10. November trat ein Waffenstillstandsabkommen in Kraft, das von Russland, Armenien und Aserbaidschan unterzeichnet wurde. Armenien hat sich verpflichtet, Aserbaidschan die Bezirke des sogenannten Karabachischen Sicherheitsgürtels wieder abzutreten. Friedensaktivist_inn_en formulierten einen Appell für vertrauensbildende Massnahmen. In Berg-Karabach sind für fünf Jahre russische Friedenstruppen stationiert, deren Präsenz verlängert werden kann. Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan teilte am 16. November mit, dass seit dem 27. September etwa 2400 armenische Soldaten getötet wurden, hunderte werden vermisst. Aserbaidschan hat seine Verluste nicht veröffentlicht. Laut Vladimir Putin forderte der Konflikt über 4000 Menschenleben und 8000 Verletzte, zehntausende Menschen sind auf der Flucht. Die Unterzeichnung des dreiseitigen Friedensabkommens wurde in Armenien als Kapitulation empfunden, da es ja tatsächlich den Kontrollverlust über Berg-Karabach bedeutet. Dies führte zu Unruhen im ganzen Land. Paschinjan übernahm die Verantwortung für die nationale Katastrophe in Arzach (die armenische Bezeichnung für Berg-Karabach), die parlamentarische Opposition fordert seinen Rücktritt. Unterdessen stehen in Berg-Karabach die Häuser in Flammen. Die armenische Bevölkerung verlässt massenhaft die Region und verbrennt bei der Abreise ihre Häuser, um sie nicht Aserbaidschaner_inne_n zu überlassen. Aus einem Dorf wurde berichtet, dass die Bevölkerung die Verstorbenen am Friedhof ausgräbt, aus Furcht vor Grabschändungen durch die nachrückenden Aserbaidschaner_innen. Die Fünfjahresfrist des Friedensabkommens lässt sich als Aufforderung an die armenische Bevölkerung interpretieren, die Region zu verlassen. Für sie stellt sich nun die Frage, wie und wo ein neues Leben beginnen. Wir haben den aserbaidschanischen Friedensaktivisten Bahruz Samadov gefragt, wie Berg-Karabach in fünf Jahren aussehen wird. Samadov ist einer der siebzehn Unterzeichner.innen eines Friedensappels, der am 30. September veröffentlicht wurde: „Wir verurteilen entschieden jeden Schritt, der zur Verlängerung des Konflikts und zur Vertiefung des Hasses zwischen den beiden Völkern beiträgt. Mit einem Blick auf die Geschichte möchten wir Massnahmen ergreifen, die zur Vertrauensbildung zwischen unseren Gesellschaften und der Jugend unerlässlich sind. Wir lehnen alle nationalistischen und militaristischen Narrative ab, die ein gemeinsames Leben in diesem Land verunmöglichen.“1
Archipel: Wie hat die aserbaidschanische Bevölkerung auf die Unterzeichnung des Friedensabkommens reagiert? Wie stark ist das Gefühl des Revanchismus? Seit der Auflösung der Sowjetunion war die Rückgewinnung von Berg-Karabach ein wichtiger Bestandteil der nationalen Identität. Diese Einstellung vertrat konstant sowohl die Regierung als auch die Opposition und ein Grossteil der mehrheitlich unpolitischen Bevölkerung. Menschen, die weder an Wahlen noch sonst am politischen Leben des Landes teilnahmen, empfanden die Wiedererlangung der hoheitlichen Kontrolle über Berg-Karabach als überaus wichtig. Sie betrachteten Berg-Karabach als „unser verlorenes Land“. Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens gab es unterschiedliche Reaktionen. Die Opposition äusserte sich kritisch, da sie denkt, dass Russland in Zukunft die vollständige Übernahme Berg-Karabachs durch Aserbaidschan verhindern oder sich in innere aserbaidschanische Angelegenheiten einmischen könnte. Die Bevölkerung sieht die Präsenz der russischen Soldaten eher neutral, aber die Menschen wollen, dass die gesamte Provinz unter aserbaidschanische Kontrolle kommt. Ich würde das nicht Revanchismus nennen, für die Leute bedeutet es einfach den Sieg. Der Teil Berg-Karabachs, der den Armeniern überlassen wurde, scheint ihnen nicht so wichtig. Aber das Gebiet, das nun unter aserbaidschanischer Kontrolle ist, das empfinden sie als absoluten Sieg, vor allem, weil nun die Rückkehr der aserbaidschanischen Bevölkerung in ihre frühere Heimat möglich ist.
Bahruz Samadov: Vor dem Hintergrund der Passivität der internationalen Gemeinschaft profilieren sich die russischen Friedenssoldaten wie ein Rettungsring. Könnten sie langfristig das Überleben einer armenischen Enklave garantieren? Die russischen Friedenssoldaten sehen jetzt tatsächlich wie Retter aus, der ganze Rest der Welt hat den Karabachkonflikt ja fast ignoriert. Auch ich wurde bereits beschuldigt, prorussische Positionen zu vertreten, obwohl ich mich stets kritisch zu autoritären Regimes äussere. Aber derzeit sieht die Situation klar so aus: Solange russische Friedenssoldaten vor Ort sind, wird es keinen neuen Krieg geben. Nach dem militärischen Sieg wird Aserbaidschan kaum die Bildung einer armenischen Enklave in Berg-Karabach akzeptieren. Und fünf Jahre sind zu wenig, damit sich die Lage stabilisiert. Ich denke, dass auch in fünf Jahren russische Friedenssoldaten dafür sorgen müssen, dass es zwischen Armenier_inne_n und Aserbaidschaner_inne_n zu keinen bewaffneten Auseinandersetzungen mehr kommt. Und auch die Frage des Status Berg-Karabachs wird nicht zu lösen sein. Russland hat keine konkreten Vorstellungen, wie diese Frage zu lösen wäre, ansonsten wäre davon im Waffenstillstandsabkommen die Rede. Die Konfliktparteien haben ja in Wirklichkeit diesbezüglich auch keine Idee. Ich denke, in fünf Jahren wird alles so sein wie jetzt. Ob das gut oder schlecht ist, weiss ich nicht, aber immerhin gibt es keinen Krieg.
Es ist derzeit sicher sehr schwierig, über Versöhnung zu sprechen, aber wie könnte es langfristig dazu kommen? B.S.: Eine Versöhnung hängt sicher in erster Linie von einer Demokratisierung Aserbaidschans ab, von der Pflege einer demokratischen Kultur, von der Arbeit oppositioneller und nichtstaatlicher Gruppierungen in diesem Sinn und auch von der Einmischung des Westens und Russlands. Aber das ist wohl eher Wunschdenken, ich glaube nicht daran, dass es dazu kommen wird. Falls Aserbaidschan zu einem demokratischen Land wird, dann nicht früher als in 20 bis 30 Jahren. Dabei spielt die Beteiligung von nichtstaatlichen Organisationen eine wichtige Rolle. Vielleicht können so die Traumata irgendwann überwunden werden. Solange wir in Aserbaidschan ein autoritäres Regime haben und die Opposition nicht demokratische und progressive Werte vertritt, scheint dies unmöglich. Vielleicht kann ein Generationenwechsel dazu führen; ich hoffe, dass dann junge friedliebende Leute die Kriegstreiber ersetzen.
Das Gespräch führte Nailya Ibragimova, EBF-Ukraine
- Der vollständige Appell ist hier zu finden: https://www.criticatac.ro/lefteast/anti-war-statement-of-azerbaijani-leftist-youth/