BALKANROUTE: Gemeinsam gegen Frontex

von Johannes Dahmke, EBF, 18.05.2022, Veröffentlicht in Archipel 314

Im März trafen wir uns vom Europäischen BürgerInnen Forum (EBF) endlich wieder einmal persönlich. Empfangen wurden wir von unseren Freund·inn·en der Kulturmühle Nikitsch im kroatisch sprachigen Teil des Burgenlandes in Ostösterreich. Das erste Mal seit der Pandemie fanden wir uns nicht nur unter uns, sondern auch mit Vertreter·inne·n verschiedener Initiativen wieder, die wir seit 2016 auf der Balkanroute unterstützen.

Es war eine Möglichkeit, die Aktivistinnen, die wir seit unserer ersten Delegation nach Kroatien und Bosnien nur in Aktion getroffen hatten, an einem ruhigen Ort mit Zeit besser kennen zu lernen und die Zusammenarbeit über eine finanzielle Unterstützung hinaus auszubauen. Vor allem in der Arbeit gegen Frontex. Überlagert war das Treffen natürlich von all dem Schrecken und der Unsicherheit durch den Krieg in der Ukraine. Mit etwas Verspätung kamen dann zwei Vertreterinnen aus Transkarpatien im westlichsten Teil der Ukraine zu unserer Zusammenkunft. Sie berichteten über den Empfang im Dorf Nischnje Selischtsche und all die Arbeit, die sie haben, um die geflüchteten Menschen unterzubringen, zu verpflegen und oft auch eine Weiterreise nach Polen oder Rumänien zu organisieren. Auch wenn noch Züge von Kiew nach beispielsweise Uschgorod in Transkarpatien fahren, ist die zweitägige Wartezeit an Bahnhöfen Müttern mit Kleinkindern sowie alten oder behinderten Menschen schwer zumutbar. Mit den vom EBF beschafften Kleinbussen werden Menschen aber nicht nur über die Grenzen gebracht, sondern vor allem aus bedrohten Gebieten evakuiert. Unsere Freundinnen und Freunde vor Ort haben viele Kontakte zu verschiedensten Aktivistinnen in der Zivilgesellschaft und dadurch Informationen, welche Strassen noch frei und befahrbar sind. Auf dem Hinweg in den Osten sind die Kleinbusse vollgeladen mit Hilfsgütern, die an lokale befreundete Gruppen verteilt werden.

Seit den gross angelegten Aktionen für die Flüchtenden ab 2015 auf der Balkanroute, haben sich manche spontan gegründete Initiativen von damals zu veritablen Hilfsnetzwerken entwickelt. Diese konnten jetzt für die Ukraine relativ einfach wieder aktiviert werden. So reiste zum Beispiel Milan von der österreichischen Initiative «SOS Balkanroute», der jedoch seit einem Jahr in einem Projekt mit Geflüchteten auf Gran Canaria engagiert ist und als Gast zu unserem Treffen eingeladen war, gleich nach unserer Zusammenkunft weiter. Als erprobter Logistiker von «SOS Balkanroute» in Bosnien hat er jetzt die Aufgabe übernommen, Hilfslieferungen aus Deutschland und Österreich für die Ukraine zu koordinieren.

ComPass 071 Sarajevo

Da ist zum Beispiel Ines aus Sarajevo. Vor Jahren arbeitete sie als Freiwillige in Casablanca in einem riesigen Lager für Geflüchtete mit kaum vorstellbar schlechten Lebensbedingungen. Die Kinder von dort trifft sie jetzt, Jahre später, in Sarajevo wieder. Dort engagiert sich die studierte Kunsthistorikerin bei «ComPass 071 Sarajevo». Das ist eine humanitäre Organisation, die Flüchtende auf der Durchreise in Sarajevo mit dem Nötigsten versorgt. Es gibt einen Free-shop für Kleidung und einen Waschsalon, und sie stellen Essenspakete zusammen. Ausserdem gibt es gratis Wifi. Ein Team von Frauen arbeitet ehrenamtlich. Gerne würden sie manchen Mitarbeiterinnen einen kleinen Lohn bezahlen, aber das Geld muss nun erst einmal für die Miete und die Kernaufgaben reichen. Sarajevo ist eine Stadt voller Studierenden und es gibt viele helfende Hände. Die Millionenstadt dient den Geflüchteten auch als Unterschlupf für den Winter, da die weitere Reise in der Kälte zu gefährlich ist. Ines berichtete auch vom Umzug in das neue grössere Lokal. Dort werden bis zu hundert Menschen am Tag empfangen. Gleich gegenüber liegt ein kleines Hotel. Der Betreiber hat im ersten Pandemie-Winter Geflüchtete empfangen und diese gegen die Polizei verteidigt. Sie sind also in guter Nachbarschaft.

Blindspots

Aus Leipzig kommt die Initiative von «Blindspots». Von arbeitslosen Festivalbauer·inne·n gestartet, ist «Blindspots» seit September 2020 in Velika Kladuša (Grenze Bosnien-Herzegovina/Kroatien) aktiv. Lina, sie arbeitet als Sozialarbeiterin in Berlin, berichtet von den Renovierungsarbeiten in den von Geflüchteten besetzten, leerstehenden Gebäuden. Sie bauen dort Fenster, Türen, Öfen und besorgen Holz zum Heizen und Kochen. So werden die abgewrackten Häuser zumindest rudimentär winterfest gemacht. Dort verteilen die Aktivist·inn·en Wasser und Mahlzeiten und verfassen Zeugenberichte über die illegalen Pushbacks. Sie mieten grosse Container und organisieren so selbst eine Müllabfuhr. Alle ihre Angebote richten sich natürlich auch an die lokale Bevölkerung. Das gilt übrigens für alle hier vorgestellten Initiativen.

Are You Syrious?

Milena stellt die Arbeit von «Are You Syrious?» (AYS) vor. Sie ist Psychologin und arbeitet hauptberuflich als Kulturredakteurin bei der kroatischen Tageszeitung Vecernji List. «Are You Syrious?» ist eine in Kroatien ansässige NGO, die 2015 als selbstorganisierte Bürgerinitiative zur Unterstützung von Geflüchteten begann. Über eine Facebook-Seite suchten sie Unterstützung und fanden auf Anhieb 10.000 Euro. Das kam ihnen sehr viel vor, allerdings war nach zwei Tagen das ganze Geld bereits ausgegeben. Da wurde ihnen klar, dass es eine richtige Struktur und Organisation braucht. Bis zu neun Lagerhallen hatten sie zwischenzeitlich angemietet. Heute sind 200 Freiwillige in verschiedenen Teams entlang der sogenannten Balkanroute organisiert. Von den griechischen Inseln bis nach Frankreich. Sie betreiben einen Free-shop, haben eine mobile Küche, zur Zeit in Thessaloniki, und mobile Duschen, die gerade in Zagreb aufgebaut sind. Dort unterhält »Are You Syrious?» ein Integrationszentrum, wo sie Geflüchteten, die sich in Kroatien aufhalten, Rechtsberatung, Sprachunterricht, Kleidung, Hygieneartikel und andere notwendigen Dinge zur Verfügung stellen. Seit 2015 berichtet «Are You Syrious?» aus zahlreichen Grenzgebieten und Transitzonen. Sie überwachen systematisch Menschenrechtsverletzungen und haben das «Border Violence Monitoring Network» mitbegründet. Ihr prominentester Fall ist der des tragischen Todes von Medina, einem sechsjährigen Mädchen aus Afghanistan, das kurz nach einem Pushback der ganzen Familie von Kroatien nach Serbien durch einen Zug erfasst worden war. «Are You Syrious?» reichte Klage ein. Doch die Familie von Medina wurde nach einem nächsten Einreiseversuch ein zweites Mal illegalerweise zurückgeschoben und zwar an den genau gleichen Ort, an dem ihre Tochter verstorben war. Schliesslich wurde jedoch, dank der Klage von AYS und dem «Center for Peace Studies» (Zagreb), der Staat Kroatien wegen menschenrechtswidriger Abschiebung vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof verurteilt.* Immer wieder werden die Initiativen für ihre anwaltschaftliche Arbeit schwer kriminalisiert; sie sind mit Todesdrohungen, Gerichtsverfahren, Haftandrohungen, enormen Geldstrafen und sogar dem Versuch des kroatischen Innenministeriums, ihre Arbeit in Kroatien zu verbieten, konfrontiert.

An einem Abend berichteten Milena und Ines von ihren Erinnerungen an den Jugoslawienkrieg, den sie als achtjährige Mädchen erlebt hatten. Sie erzählten uns von den anhaltenden Ressentiments gegen die muslimische Bevölkerung, den verschwiegenen Verbrechen und dem kollektiven Trauma. Viel wird von der Polizeigewalt berichtet, wenig aber über die Unterstützung der bosnischen Bevölkerung für die flüchtenden Menschen. Nirgends auf der Balkanroute sei die Solidarität der lokalen Bevölkerung, die sich noch zu gut an die eigenen Kriegsgeschichten erinnert, so stark wie in Bosnien.

Border Violence Monitoring Network

Alexandra, Juristin aus Rumänien, berichtet über die Rolle von Frontex und wie wichtig Vernetzung und Informationsarbeit seien. Und warum das nicht mehr reiche. Sie arbeitet für das «Border Violence Monitoring Network» (BVMN). Als unabhängiges Netzwerk von NGOs und Verbänden wurde es 2016 gegründet, um vor allem in den Balkanregionen und in Griechenland Menschenrechtsverletzungen an den Aussengrenzen der Europäischen Union zu überwachen und sich dafür einzusetzen, die Gewalt gegen Menschen auf der Flucht zu beenden.

Das BVMN veröffentlicht monatliche Berichte über Pushbacks in Griechenland und entlang der Balkanroute. In jedem Bericht werden Pushbacks in bestimmten geografischen Gebieten, die Eskalation der Gewalt und andere wichtige Themen ausführlich analysiert. Alle Berichte sind frei zugänglich und dienen als Grundlage für die Lobbyarbeit des Netzwerks auf europäischer Ebene. Das BVMN nimmt an Treffen mit europäischen Parlamentarier·inne·n teil, um die Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen anzuprangern und eine bessere Organisation für Migrant·inn·en unter vollständiger Wahrung der Menschenrechte zu fördern. Das BVMN ist europaweit anerkannt für seine zuverlässigen Informationen. So fragt zum Beispiel die Schweizer Botschaft jedes Jahr bei BVMN nach, wie die Zustände in Dublin-Ländern seien, in die die Schweiz Menschen abschiebt.

Alexandra erklärt auch, warum Berichte schreiben nicht mehr reiche. Es müssen mehr Rechtsprozesse geführt werden, um die Straflosigkeit der menschenverachtenden Übergriffe der Frontex-Beamten zu unterbinden und eine demokratische Kontrolle von Frontex zu erwirken. Direkte Klagen gegen Frontex sind allerdings nicht zulässig, da sie keine juristische Person darstellt, sondern «nur» eine Agentur ist. Gegen Beamte, die für Frontex im Einsatz sind, ist es zwar möglich zu klagen, aber aus vielen Gründen äusserst schwierig, da Frontex alles dafür tut, um zu verschleiern, wer wo und wann mit welcher Aufgabe im Einsatz ist. Obendrein haben die geschädigten Migrant·inn·en oft Angst vor einer Retraumatisierung und selten die Möglichkeit, Prozesse, die sich über Jahre hinziehen können, durchzuhalten. Wir haben beschlossen, einen speziellen Hilfsfonds zur Unterstützung der Gerichtsprozesse für betroffene, geflüchtete Menschen zu schaffen.

Johannes Dahmke, EBF

  • Siehe Archipel 309 (letzte Seite), Dezember 2021