Während der Mobilisierungen gegen die Ausweisungen der Roma aus Deutschland Anfang der 2000er Jahre entstanden Freundschaften, aus denen sich das Projekt Sterne über Grenzen hinaus entwickelte. Es bringt junge Roma aus Münster, Marseille und Belgrad zusammen, um ihre Diskriminierungserfahrungen aufzuarbeiten.
Roma erfahren in ganz Europa unterschiedliche Formen der Ausgrenzung. Was es heißt, «nur geduldet» zu sein, von anderen ausgeschlossen oder diskriminiert zu werden aufgrund seiner Hautfarbe, ein Land verlassen zu müssen, in dem man aufgewachsen ist, weil man von der Ausländerbehörde einen Abschiebebescheid erhalten hat, das wissen die teilnehmenden Jugendlichen aus den drei Ländern sehr genau. Im Rahmen des Sterne über Grenzen hinaus-Projektes findet eine Auseinandersetzung mit den Themen Diskriminierung, Flucht, Abschiebung und den dadurch entstehen den Ängsten statt. In Tanz-, Theater- und Videoworkshops werden die Erfahrungen und gemeinsam erarbeiteten Erkenntnisse künstlerisch umgesetzt und Werkzeuge erarbeitet, die dazu beitragen sollen, das Selbstwertgefühl der Jugendlichen zu stärken, um dem europaweit zunehmenden Antiziganismus besser entgegentreten zu können.
Diese Treffen mit jungen Roma aus Serbien, Deutschland und Frankreich finden seit zwei Jahren statt.
Kein Bleiberecht 2002 hatte Deutschland mit der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien, ein «Rückführungsabkommen» unterzeichnet, welches ermöglichte, langjährig in Deutschland lebende Romafamilien, Flüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg, zur Ausreise zu zwingen, bzw. einfach abzuschieben. Oft hatten sich diese Familien gut eingelebt, ihre Kinder gingen in deutsche Schulen und die Eltern hatten Arbeit gefunden. Dann musste man plötzlich die Koffer packen und in ein Land zurückkehren, in dem man alles verloren hatte. Für viele eine wahre Katastrophe. Wohin sollten sie gehen? Ihre Kinder konnten oft kein serbisch und wurden in ihrer Ausbildung schwer zurückgeworfen, zudem herrscht in serbischen Schulen oft krasser Rassismus gegen Roma. Und wie in einem Land überleben, in dem die Bevölkerung nach langen Jahren Krieg und einer schweren Krise alle Mühe hatte zu einem einigermassen normalen Leben zurückzukehren?
In Deutschland hatte sich eine massive Bleiberechtskampagne für Roma entwickelt, von Kirchen und Hilfswerken unterstützt, um diese Ausweisungen zu verhindern. Eines der Argumente dieser Kampagne war es, auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass Deutschland aufgrund der Naziverbrechen an den Roma und Sinti eine grosse Schuld zu begleichen hätte. Trotzdem mussten viele gehen.
Und so mussten auch Nedjat und Ivanka Sinani mit ihren beiden Töchtern das Ruhrgebiet verlassen, wo sie seit mehreren Jahren gelebt und gearbeitet hatten, zurück nach Belgrad, in das Stadtviertel Zemun, einer traditionellen Romasiedlung. Glücklicher-weise war ihr kleines Häuschen von der Familie des Bruders und der Grossmutter in Stand gehalten worden. Seitdem wohnen alle zusammen auf engem Raum.
Ein Projekt aus Freundschaft Steffi und Katrin, zwei junge deutsche Frauen hatten die Sinanis bei einer Grossdemonstration in Münster in der Grossküche für die Kundgebung kennengelernt. Daraus war eine tiefe Freundschaft entstanden, die trotz der Entfernung und der vielen Jahre lebendig geblieben ist. Eine von beiden hat sich danach in Marseille niedergelassen und in der Arbeit mit Jugendlichen mit Migrations-Hintergrund, darunter auch Roma-Kinder, engagiert. Mit dem Verein L’Artichaut haben sie es geschafft, ein Gelände mitten in Marseille der Spekulation zu entziehen und dort einen Kollektivgarten aufzubauen, in dem eine ganze Reihe von Aktivitäten mit Jugendlichen und auch Erwachsenen stattfindet: Garten- und Töpfereiworkshops, Stadtteilfeste, Pflanzungen, Filmvorführungen, usw. Ein wirklicher Sauerstoffballon, ein Ort der Kreation und des solidarischen Zusammenlebens, der mittlerweile auch von der Stadtverwaltung unterstützt wird.
Die zweite ist in Münster geblieben und arbeitet dort als Filmemacherin ebenfalls mit Jugendlichen Roma und Nicht-Roma in diversen Workshops. Und so kam zwischen diesen alten Freundinnen die Idee auf, die Jugendlichen aus den drei Ländern zusammenkommen zu lassen, Dreiländer-Treffen zu organisieren. Kann man sich vorstellen, dass junge Roma aus einem Viertel wie Zemun während der Sommerferien in ein westeuropäisches Land reisen können, anders als mit ihren Eltern auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten? Wohl kaum!
Die ersten Sommertreffen Und doch, im Sommer 2012 fand in Marseille das erste Treffen statt: 8 Kinder und Jugendliche aus Belgrad, begleitet von Nedjat und Ivanka, 8 Jugendliche Roma aus Marseille und 7 Jugendliche aus Münster, darunter ein Kurde, eine Kongolesin, eine Deutsche und vier Roma-Kinder. Während einer Woche gab es Workshops für Video, für Forum-Theater und Hip-Hop-Tanz. Es wurden Freundschaften in allen Sprachen geknüpft, viel diskuktiert und gelacht: ein Wirbelsturm im Stadtviertel Belle de Mai! Und viele Tränen beim Abschied!
Im Sommer 2013 hat sich die kunterbunte Truppe dann in Norddeutschland in Münster getroffen, wo die Uppenbergschule (eine Sonderschule) ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. Leider konnten nicht alle Kinder aus Marseille mitkommen, da die meisten Romafamilien keine gültigen Papiere besitzen und viele auch Angst hatten, während der Abwesenheit ihrer Kinder eventuell ausgewiesen zu werden. Auch hier können Roma nicht einfach herumreisen! Drei komorianische Jugendliche, ein Roma aus Rumänien und eine Franco-Madagassin waren daher mit von der Partie.
An diesem Treffen war das Thema Diskriminierung - gestern und heute der rote Faden für die Arbeit in den Workshops und es wurden auch Treffen mit Zeitzeugen der Geschichte organisiert. Horst Lübke, ein Sinto aus Münster erzählte der Gruppe die Geschichte seiner Familie, die fast gänzlich von den Nazis ermordet worden war, und von den langen Jahren der Diskriminierung, die er nach dem Krieg erfahren musste. Eine Art gewaltsame Assimilierung, aus der er erst seit ein paar Jahren auszutreten wagt, indem er sich für die Anerkennung des Völkermordes an den Roma und Sinti während des 2. Weltkrieges und für ihre Rechte heute engagiert.
Lazlo Schwarz, ein ungarischer Jude, vermittelte seinen Leidensweg als 14-jähriges Kind vom jüdischen Ghetto in Budapest über Auschwitz und andere Arbeits- und Vernichtungslager, mehrere Male dem Tode nahe und immer wieder im letzten Moment entkommen. Mit fast 90 Jahren, ein weitsichtiger und unermüdlicher Kämpfer gegen das Unerträgliche, um nie wieder Ähnliches zuzulassen. Die Jugendlichen und auch wir Erwachsene hätten wohl die ganze Nacht ihren Erzählungen lauschen können.
In den Workshops wurde das Thema der Diskriminierung sowohl durch Forum-Tanz als auch -Theater bearbeitet, wobei es darauf ankam, durch Spiel und Tanz Ausgrenzungs-Situationen zu beschreiben und diese so umzukehren, dass sich eine Aufwertung des Selbstwertgefühls einstellt, ein «empowerment», um im wirklichen Leben solchen Situationen besser gewachsen zu sein. Experimente und Erfahrungen die für alle sehr bereichernd und aufbauend waren.
...und in Serbien Für den Sommer 2014 bereitet sich die Gruppe vor, um nach Belgrad zu reisen! Ein grosses Unterfangen! Unsere Roma-Freund_in-nen aus Zemun wollen uns in ihrem Viertel empfangen und uns auch in andere, neuere und noch ärmere Roma-Viertel führen, um uns ein Bild über die schwere Situation der Roma in Serbien zu vermitteln. Wir werden das ehemalige Vernichtungslager für Juden und Roma, Staro Sajmiste, am Sava-Ufer besuchen und auch über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien sprechen, neben anderen, fröhlicheren Aktivitäten. Eine Gruppe von jungen Roma, Hip Hop-Tänzer_innen wird dieses Jahr die Theater- und Tanzworkshops leiten. Aber, werden wir in Marseille genügend Roma-Kinder mit gültigen Papieren finden? Nur eine ganz kleine Minderheit ist legal im Land und ihre Situation in Frankreich ist schlichtweg katastrophal. Die Mehrzahl lebt in sehr schlimmen Verhältnissen und wird immer wieder von der Polizei vertrieben, wenn nicht sogar von den Anrainer_innen, sobald sie versuchen sich irgendwo niederzulassen. Oft werden ihre Hütten und Wohnwagen in Brand gesetzt oder mit Bulldozern zerstört.
Der Verein Vakti in Belgrad N. und I. Sinani gaben sich jedoch nicht zufrieden mit der Organisation des Jugendaustausches einmal im Jahr. Sie haben ihren eigenen Verein gegründet, Vakti («Es ist Zeit») und arbeiten das ganze Jahr an verschiedenen Programmen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Djandi-Djando («die Schlaue, der Schlaue») ist ein Projekt, das auf Hausaufgabenunterstützung und mehr Bildungsmöglichkeiten für Roma-Kinder abzielt. Sprachkurse, kulturelle Ereignisse und Exkursionen gehören dazu, sowie ein Spezialprogramm für die Förderung von Roma-Mädchen. Seit ein paar Monaten wird zu diesem Zweck ein Lokal in Zemun gemietet. Das Ziel ist, diesen Kindern bessere Chancen für ihre Zukunft zu geben, und ihnen zu helfen, über ihr Viertel hinaus Beziehungen mit anderen Menschen zu knüpfen, immer auf der Basis von Freundschaft und gegenseitiger Hilfe und Anerkennung.
Diese Programme werden von keiner offiziellen oder politischen Organisation oder Institution unterstützt, ausser von den Vereinen Balkanbiro und L’Artichaut, deren Mittel natürlich sehr gering sind. Es ist ein von Vakti selbstverwaltetes, nicht-kommerzielles Projekt und bedarf deshalb der Unterstützung von Aussen. Ein Sammel-Link auf der Homepage von Betterplace.org ist eröffnet worden. Dort finden Sie Fotos der Menschen und Orte und einen kleinen Film, der das Sommertreffen kurz beschreibt. Und natürlich verschiedene Informationen über Vakti und ihre Aktivitäten. Sie können das Projekt Djandi-Djando mittragen, indem Sie einen punktuellen Beitrag spenden, bzw. Pate oder Patin von Vakti werden und eine regelmässige Spende für das Projekt zu geben. Falls Sie sich dafür entscheiden, schreiben Sie direkt an die untenstehende Adresse. Wir suchen auch Organisationen und/oder Institutionen die das Projekt langfristig unterstützen könnten. Wenn Sie welche kennen, oder Zugang zu solchen haben sollten, bitten wir Sie uns mit ihnen in Kontakt zu bringen.
Das Treffen in Deutschland wurde im Dokumentarfilm Grenzenlos werden festgehalten. Der Film dauert 65 Minuten (Deutsch und Französisch). Er vermittelt einen Eindruck der Arbeit mit den Jugendlichen. Sie können den Film bestellen und auf Anfrage auch Vorstellungen organisieren.
Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung und bedanken uns im Voraus!
Kontakt für Informationen, Organisation von Veranstaltungen, Patenschaften:
johanna.bouchardeau(at)gmail.com
Für direkte Unterstützung von Vakti und Djandi-Djando: www.betterplace.org/p14710
Homepage von Vakti (fr, engl, dt): www.vakti.org
Das Projekt Sterne über Grenzen hinaus wird von den Vereinen Balkanbiro e.V. in Münster, Vakti in Belgrad und L’Artichaut in Marseille getragen. Die interkulturellen Treffen werden vom Deutsch-Französischen Jugendwerk und dem Programm Europeans for peace der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) finanziert, aber sehr viel wird durch ehrenamtliche Arbeit geleistet.