Die Bewegung der "nichtangestellten" Arbeiter
Der Zusammenbruch des argentinischen Systems im Dezember 2000 hat gezeigt, wie nötig es ist, dass das Volk sich selbst organisiert. Die Koordination der MTDs Anibal Veron ist ein Beispiel dafür. Dieser Artikel, der die Bewegung vorstellt, wurde für den monatlichen Brief von Risal geschrieben, einem Kollektiv, das sehr gut über Lateinamerika dokumentiert ist.1
Horizontal strukturiert und selbstverwaltet entwickeln die MTDs zusätzlich zum Kampf um ihre Rechte verschiedene Produktions- und Arbeitsprojekte, mit denen sie die kapitalistische Logik durchbrechen und neue menschliche Beziehungen aufbauen.
Trotz der Unterdrückung, der Verfolgung, der Toten und der Ermüdung der letzten Jahre, geht das Projekt weiter. Es stellt die Trennung von qualifizierter und nichtqualifizierter Arbeit in Frage: Jede(r) hat die gleichen Einnahmen, unabhängig von ihren (seinen) individuellen Funktionen. Diese Gruppen von Frauen und Männern sagen "Basta" zur Logik des Kapitalisten, der Reichtümer anhäuft, indem er Tausende ausbeutet. Sie haben angefangen, einen hundertjährigen Prozess umzukehren, indem sie sich allmählich die Produktionsmittel wieder aneignen und verwenden.
Am Anfang
Inmitten von Gelächter, Mate (typisch argentinisch-urugayanischer Kräutertee) und Meinungsaustausch schlugen diese Menschen, die aus der Diaspora kommen, die durch die massiven Entlassungen von Arbeitern im Wirtschaftsbereich entstanden ist, einen völlig neuen Weg ein.
In der Ziegelei des MTD von Lanus versuchen sechs Männer, der entfremdenden Arbeit zu entgehen. Pepe arbeitet jetzt nicht mehr in einer Düngerfabrik, El Pelado wird kein Sodawasser mehr verkaufen und auch nicht mehr Abfälle für einen Dienstgeber einsammeln, Juan wird nicht mehr Angestellter der privaten Post sein. "Ich weiss nicht, ob ich jemals wieder für einen Chef arbeiten werde," sagt Pepe "obwohl ich vorher gut arbeitete, lebte ich in Armut. Ich glaube das hier ist die echte Arbeit. Hier verwirklichen wir uns."
Wie können die Projekte andauern, wie können sie wachsen?
"Wir wissen noch nicht, wieviel wir produzieren werden, aber unsere Idee ist, einen Teil der Produktion draussen zu vermarkten, um im Viertel hier billiger verkaufen zu können, sodass es allen Bewohnern möglich ist, ihre Häuser zu verbessern", antwortet El Pelado. Laut Juan werden die jetzigen vier Arbeitsstunden bald nicht mehr reichen, weil manchmal auch nachts die Feuchtigkeit der Ziegel kontrolliert werden muss. Pepe wiederum steckt viel Hoffnung in den geplanten Organisationskurs: "Um ihnen zu beweisen, dass wir ohne ihre Arbeitsverträge leben können."
Sich in eine Aufgabe hineinzuarbeiten, von der man keine Ahnung hat, ohne dass einem jemand sagt, was man zu tun hat, ist gar nicht einfach. "Ich habe angefangen, als Dario Santillan umgebracht wurde 2. Am Anfang war es ziemlich hart. Die Ziegel waren nicht widerstandsfähig genug. So haben wir die Versammlung von Rocanegra (Ort, an dem sich die MTDs der Koordination Anibal Veron versammeln) um Hilfe gebeten. Daraufhin hat uns ein Ingenieur in Sachen Material beraten. Seitdem verwenden wir Sand vom Steinschlag und erreichen so die Qualität, die wir wollen." Hier und jetzt
Im MTD von Esteban Echevarria, zusammengesetzt aus Vierteln von Montana, El Jaguel, Guillon, Las Colinas und Malvinas (Vorort von Buenos Aires), entwickeln sich verschiedene Projekte wie Sozialhilfe, die Volkskantine, Webereiwerkstätten, Nähateliers und Herstellung von Kleidungsstücken, eine Bibliothek, gemeinschaftliche Gemüsegärten, Bäckereien, aber auch Arbeitsgruppen gegen Gewalt in der Familie. "Die produktiven Werkstätten beschließen wir während der wöchentlichen Versammlungen im Viertel. Einige Bewohner machen Vorschläge und wenn wir alle zusammen sehen, dass diese Projekte funktionieren könnten, schauen wir, wer sich daran beteiligen will. Dann überlegen wir uns, wie wir sie realisieren können" , erklären Gloria (von Malvinas), Monica (von El Jaguel) und Paola (von Montava). "Die Bäckerei von Malvinas entstand aus den Bedürfnissen der Mitglieder des MTD. Sie produziert billiges Brot für das Viertel und für die Kameraden", erklärt Gloria,"Was wir dabei verdienen kommt der Volkskantine zugute. Wenn etwas übrigbleibt, verwenden wir es für Renovierungen der Bäckerei, oder wir spenden es einem Kameraden in Not. Manchmal werden auch Medikamente damit gekauft ".
Bevor Monica bei El Jaguel mitmachte, arbeitete sie in einem Gemeinschaftsrestaurant. Jetzt will sie die Bewegung vergrössern. "Wir wollen mehr Leute integrieren, wir wollen eine soziale Veränderung. Zur Zeit haben viele Menschen noch kein Vertrauen in uns. Sie glauben wir seien Punteros’ (Handlanger der peronistischen Partei). Man muss eben selber sehen, dass es hier keinen Chef und keine Delegierten gibt. Hier arbeiten wir alle zusammen."
Paola, die vor einem Jahr nach Montana gekommen ist, stellt fest: "Es hat seinen Preis, alles zu verändern, zu verstehen und daran zu glauben, dass wir alle gleichberechtigt sind und dafür verantwortlich, dass niemand herrscht, dass sich alle einsetzen und dass wir für uns selber aufkommen. Glücklicherweise fangen die Leute seit einiger Zeit an, sich für die MTD's zu interessieren und wollen mitmachen."
In El Jaguel funktioniert eine Volkskantine, in der von Montag bis Freitag 28 Kinder mit Frühstück, Mittagessen und Abendessen versorgt werden. Sie erhält Nahrungsmittel von Händlern, fordert Produkte bei der Regierung an, bekommt Brot von der Bäckerei und Gemüse aus den Gemüsegärten. "Wir Frauen kümmern uns um die Kantine, aber die Väter wissen inzwischen, dass sie uns ersetzen müssen, wenn wir die Brücke blockieren 3. Die Kinder können ja nicht ohne Essen bleiben."
In den Produktionsprojekten von Veron gibt es keinen Individualismus. Gleichberechtigung und Selbstverwaltung werden gefördert.
Trotz der Hindernisse funktioniert die solidarische Zusammenarbeit mit den Kameraden, die den Produktionsprozess besprechen und tragen. Ein Chef wird nicht gebraucht.
Weiterkommen und dabei Lernen
Sich tagtäglich einsetzen und dabei an die nähere und fernere Zukunft denken. Freiheitsbewusstsein schaffen, gemeinsam arbeiten, gerecht und solidarisch teilen und dabei neue soziale Beziehungen aufbauen, welche die Projekte lange weitertragen können. Das kann man unter anderem im Gemüsegarten und Bauernhof von Rocanegra beobachten, um die sich die Mitglieder der MTDs von Lanus und Solana kümmern. "Was auf diesem Hof hergestellt wird, muss gesund sein. Es ist die Nahrung unserer Kinder und Kameraden. Genauso kann man auch den Hühnern und Hasen nicht irgendetwas vorsetzen. Wir wollen nur gesunde Produkte herstellen. Wir müssen Regenwürmer züchten, Heu produzieren, gesundes Getreide verwenden", schlägt ein Kamerad von Solano in der Versammlung vor. Dieses Projekt trägt bereits Früchte: 11 Gemeinschaftskantinen der MTDs dieser 2 Viertel werden mit Gemüse, Eiern und demnächst zweimal wöchentlich mit Hasenfleisch versorgt. Gerade das stört die Mächtigen: Die Experimentierfähigkeit von Arbeitern, die vom kapitalistischen System ausgestossen wurden. Die Möglichkeit, ihr Leben ohne Chef zu leben, der ihnen sagt, was, wie, wieviel und wann es zu produzieren ist. Und so erklärt Pablo vom MTD Lanus: "Wenn wir uns beteiligen, müssen wir mit dem Individualismus brechen, den uns die Vertreter der politischen Parteien raten, denn er zerstört den Gemeinschaftssinn. Wir zeigen ihnen, dass wir fähig sind zu produzieren, ohne dass uns irgendjemand sagt wie. Das ist ein Problem für die Unternehmer. Das Beispiel der Arbeiterinnen von Brukman 4 oder Projekte wie dieses hier, bereiten ihnen Sorge. Denn wenn den Kameraden klar wird, dass sie alleine weitermachen können, werden sie anfangen das Privateigentum auch auf anderen Ebenen in Frage zu stellen."
Es handelt sich um die Pueyrredon-Brücke, die die Vororte von Buenos Aires vom Stadtzentrum trennt und bei Protesten regelmäßig besetzt wird
Textilfabrik in Buenos Aires, die am 18. Dezember 2001 von den Arbeiterinnen übernommen wurde