Von der Europabrücke zwischen Frankreich und Deutschland her kommend, sah man ein buntes Mosaik aus Zelten am rechten Ufer des Rheins, darunter ein paar improvisierte, aber elegante Kuppeln. Diese schützten das campinterne Zentrum für allgemeine Informationen, das sowohl eine Empfangsstelle war, als auch ein Ort, wo die Leute ihre Flugblätter und Transparente selbst herstellen konnten.
Das Camp war in acht Barrios (Quartiere) aufgeteilt, die sich rund um einen Platz für Diskussionen, um Info-Punkte, Komposttoiletten, mehr oder weniger solare Duschen formierten, und um Küchen, in denen mittags und abends Mahlzeiten ohne festen Preis zubereitet wurden. Das Abendessen war eine Gelegenheit, bei der man sich traf, wo man von Warteschlangen profitierte, um alte Freunde wiederzufinden oder um sich neue zu schaffen.
Für jeden Tag waren eine Reihe von Aktionen, Versammlungen, Diskussionen und Workshops vorgesehen. Am Abend fanden öffentliche Diskussionen und Vorführungen an verschiedenen Orten des Camps statt.
Das Indymedia-Zelt, in dem öffentlicher und kostenloser Zugang zu sechs Computern mit Internet-Anschluss bereitgestellt wurde, und das Radio-Zelt bildeten das Zentrum der alternativen Medien am Eingang des Camps. Das NoBorder-Radio war für die regelmäßige interne Information sehr wichtig. Im gleichen Bereich stand auch der Doppelstockbus der Publix-Theater-Karawane aus Wien. Dieses taktisch einsetzbare, mobile Medienzentrum, das mit einer Videoausrüstung und Internet-Anschluss ausgestattet war, begleitete Demonstrationen und plazierte sich in der Innenstadt oder in den Vororten von Straßburg.
Gleichzeitig gab die Präsenz all dieser technologischen Medien aber auch Anlass zu Diskussionen, da sie von den Industrie-Kritikern in Frage gestellt wurde. Diese hatten die Gelegenheit ergriffen, ein gemütliches und selbstverwaltetes „Anti-Tech-Café" aufzubauen, wo sie sich vorbereiteten und Pfefferminztee oder Kaffee tranken, während sie die Welt verbesserten und am Bau von Kompost-Toiletten mitwirkten.
Verschiedene Gruppen kümmerten sich um verschiedene Probleme: Kinder, Technik, Medien, Sicherheit oder auch um Gesundheit und Recht, letztere waren 24 Stunden am Tag aktiv. Um einzelne Personen nicht zu überlasten, wurden die Aufgaben auf viele Schultern verteilt und ständig neue Leute hinzugezogen. Von ihren Aktivitäten berichteten Abgesandte der Gruppen und Barrios bei den barrio-übergreifenden Versammlungen, die jeden Morgen nach den Treffen in den Quartieren stattfanden. Hier wurden die politischen und praktischen Entscheidungen getroffen, die auf kollektiver Zusammenarbeit ohne Wahlvorgänge oder erzwungenen Konsens erfolgten. Am Ende wurden die Beschlüsse dann in verschiedenen Sprachen an den Info-Punkten der Quartiere und in den Gemeinschaftsbereichen des Camps ausgehängt.
Inmitten dieser Vielfalt wurden folgende Themen immer wieder diskutiert: Die Frage, ob es notwendig ist, die Verbindungen zu den Massenmedien oder den Behörden aufrechtzuerhalten und strategisch einzusetzen; die Haltung, die es angesichts repressiver Maßnahmen einzunehmen gilt; und die Vereinbarkeit unterschiedlicher Sensibilität und verschiedener Aktionsformen innerhalb des Camps. Diese Diskussionen verwiesen auf die gegenwärtige Schwierigkeit, zusammen zu sein und zu handeln und dabei nicht die Eigenständigkeit zu verlieren, Entscheidungen zu treffen ohne Zentralkomitee oder revolutionärer Elite und ohne zuviel Chaos oder Streit, wie in einem kleinen gallischen Dorf.
All diese vielen, einzelnen TeilnehmerInnen, mit oder ohne Papiere, mit ihren verschiedenen Sprachen und Kulturen, ihren unterschiedlichen Ansichten und Einsichten führten zu einer heiteren, temporären, autonomen Zone. Diese Atmosphäre wurde schnell durch die feindselige Haltung der Behörden gestört.
Die Antwort
des französischen Staates
Vor, während und nach dem NoBorder-Camp war dieses massiven Behinderungen ausgesetzt: Die Einrichtung des Camps wurde durch die Stadtverwaltung blockiert, es wurde ein Demonstrationsverbot durch Verordnung des Präfekten verhängt, wiederholt kam es zu Festnahmen, systematischen Personenkontrollen, und Übergriffen der Polizei bei Demonstrationen und Aktionen (massiver Einsatz von Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschoßen aus kurzer Distanz), Anklagen...
Einer der Teilnehmer, Ahmed Meguini, wurde während der Demonstration für Freizügigkeit und die Schließung von Abschiebezentren am 24. Juli verhaftet. Nach der gezielten und gewaltsamen Festnahme wurde er im Schnellverfahren, quasi** unter Ausschluss der Öffentlichkeit, vor Gericht gestellt, nach der Anhörung erfolgten die sofortige Räumung des Gerichts und die Entscheidung, ihn bis zum Prozess in Haft zu behalten. Seitdem ist Ahmed völlig isoliert, alle Anträge auf eine Besuchserlaubnis wurden abgelehnt, genauso wie die Forderung auf Freilassung, die er gestellt hatte, und über die ohne einen Anwalt entschieden wurde.
Im Cyberspace...
Eine der bevorzugten Aktionsformen des Camps basierte darauf, die Bevölkerung durch „Theaterinszenierungen" anzusprechen. Darunter fiel die Organisation eines Sklavenmarktes, um auf die Situation der Illegalen in Europa hinzuweisen, ein angebliches Fernsehspiel „Das Leben in Blau" über die Repression durch die Polizei, oder der „Angriff auf das SIS", von dem man an diesem Tag nie ganz genau wusste, ob es sich um einen Scherz handelte.
Am Freitag, den 26. Juli 2002 hatte sich eine Gruppe von Forschern des NSV (Noborder Silicon Valley) nach Straßburg-Neuhof begeben, wo sich das Schengener Informationssystem (SIS) befindet; Auszug aus einer Presseerklärung:
„Das Ziel dieser Arbeitsgruppe war es, einen Weg zu finden, um die Daten, die dort gesammelt werden, allgemein zugänglich zu machen.
Die Forschergruppe, die von einem Team des französischen Fernsehens und mehreren Journalisten begleitet wurde, hatte sich durch eine Lücke nahe der Strasse zum SIS gedrängt. Dies erregte schnell die Aufmerksamkeit der Polizei, die ganz offensichtlich keine Ahnung hatte, was sich da gerade abspielte, und sehr überrascht über diese eindrucksvolle Ansammlung von Pressevertretern war.
Nachdem das System gestartet und eine Verbindung mit dem SIS hergestellt war, wurden die Zugriffsrechte auf die Daten, die im SIS gespeichert sind, dahingehend geändert, dass nun jeder auf die eigene Person betreffende Informationen zugreifen und sie nach Bedarf ändern oder löschen kann. Ein einfacher Zugang über das Internet wird bald möglich sein."2
...aber auch auf den Strassen
Charakteristisch für das Camp war die Kombination von punktuellen Aktionen, wie Theater oder medienwirksame Auftritte, unterstützt durch große Demonstrationen, wie der Marsch zu den Gebäuden des Europäischen Menschenrechtsgerichts und des Europarates, oder auf den Plätzen von Straßburgs Innenstadt, mit subversiven Riesenmarionetten, durchgeknallten Graffity-SprayerInnen, mobilen Einheiten zur Verbreitung von Plakaten und zur Aussaat von Aufklebern, einer energiegeladenen Samba-Gruppe, FähnchenträgerInnen, und als Video-Überwachungskameras verkleideten Menschen, die Polizisten mit und ohne Uniform aus der Nähe begleiteten.
Die neue Transnationale?
Das Schlusswort überlassen wir Shuddra (aus Indien), deren Erzählung uns als Leitfaden diente: *„Hinter den Kulissen des Camps wurde – gerade in dem Moment, als ich aufbrach, um mitten in der Nacht meinen Zug zu erwischen – während einer Diskussion über den Zusammenhang zwischen Strategien gegenüber einerseits den Medien und andererseits der Politik (zu der sich Leute aus Mittel-, West- und Osteuropa, Nordamerika, Australien, dem Nahen Osten - Araber und Israelis gemeinsam – und aus dem Süden Asiens versammelt hatten) vorsichtig die Idee dieser „neusten Internationale" vorgebracht, welche das Gespräch schnell vom Thema abkommen liess. Ich mag diesen Ausdruck, der eine Mischung aus Ironie und dem Gefühl für eine gewisse Dringlichkeit auslöst. Immer mehr denke ich, dass die heutige Zeit tatsächlich die der neusten Internationale ist, die den Widerstand gegen den Kapitalismus genauso flexibel, genauso transnational und mobil machen würde, wie es das Kapital selbst schon ist.
Während ich Straßburg verliess, um physisch und metaphysisch die Grenzen zu überqueren, die mich zurück nach Indien führten, konnte ich nicht umhin, immer wieder den Slogan zu wiederholen, den ich so oft während Demonstrationen gehört oder auf Flugblättern und Plakaten fast überall in Straßburg gelesen hatte – No Border, No Nations, Stop Deportations".
- Danke auch an all die anderen, von denen wir ohne Skrupel abgeschrieben haben und deren Mitteilungen, die auf der Koordinationsliste von NoBorder erschienen sind, wir frei übersetzten.
Weitere Informationen finden Sie unter http://www.noborder.org/strasbourg, oder wenden Sie sich an das EBF.
- Nähere Informationen erhalten Sie unter: http://www.dsec.info/
Illustration: Iannis Kounellis, Margerite mit Feuer, 1967, DR
Karawane durch die Stadtviertel gegen die Kolonialjust
Die Karawane „Gerechtigkeit in den Vororten" war eine Initiative des „Festival Permanent"** gegen rassistische Gesetze und des „Mouvement de l’Immigration et des Banlieues" (MIB, Bewegung der Immigration und der Vororte) im Rahmen des NoBorder-Camps. Als dezentrale Aktion in den Arbeitervierteln Straßburgs will sie Informationen, die sich von denen der Medien unterscheiden, verbreiten, über die Probleme im täglichen Leben der Bewohner der Arbeiterviertel, wie Unterbringung, Diskriminierung an der Arbeitsstelle, Todesfälle in Gefängnissen, das repressive System, doppelte Bestrafung, Unterdrückung und soziale Kontrolle, Stigmatisierung städtischer Gebiete, usw..
Die Karawane reiht sich ein in eine breitere Bewegung, die schon vor längerer Zeit in den Pariser Vorstädten und im Rest Frankreichs aufgrund der Probleme in den Stadtzentren entstanden ist. Es ist mehr als notwendig im Spiel der Politik, ein Zeichen von Stärke zu setzen, damit die Bewohner der Vororte nicht weiterhin angeprangert** werden (weil sie in Unsicherheit lebten, „Wilde" seien,...), und vor allem damit sie sich auch endlich wieder selbst zu Wort melden können.
Die Karawane war unterwegs und hat sich in verschiedenen Stadtvierteln Straßburgs gezeigt, bis die Staatsgewalt dem NoBorder-Camp ein Verbot jeglicher Art von Demonstration auferlegte. Die Organisatoren