Unendlich viele Menschen - es ist mir unmöglich, eine Zahl zu schätzen, mir kam es so vor, als wäre die ganze Stadt eine Demonstration - waren heute in Teheran auf den Strassen, um sich erneut für eine gesamtgesellschaftliche Änderung der Verhältnisse im Iran einzusetzen.
Der heutige Tag, der 18.09.2009, ist der letzte Freitag im Fastenmonat Ramadan, der Al-Quds-Tag. Seit bereits 20 Jahren ruft die herrschende Meinung im Iran an jenem Tag dazu auf, an einer inszenierten Demonstration in Solidarität mit Palästina teilzunehmen. Dieser Aufruf ist mittler-weile dermassen offiziell, dass es in allen öffentlichen Kalendern gedruckt wird. Doch heute sollte die Demonstration eine andere werden. Die Menschen in Teheran, die bereits nach der (manipulierten) Wahl von Ahmadi Nejad zum Präsidenten, die Strassen zum Aufstand füllten, hatten genug von traditionellen, heuchlerischen Protesten. Es war am heutigen Al-Quds-Tag die Idee, den Raum anders einzunehmen, die Palästina-Soli-Demo zu einer kritischen, d.h. tatsächlichen Demonstration umzugestalten. Nicht, dass man damit einverstanden wäre, so ein Demonstrant auf dem Wege zur Versammlung, was die israelische Regierung in Palästina an Schrecken verbreitet - ein Land, unter Besatzung genommen und tagtäglich terrorisiert. Und obendrein stelle sich Israel als Opfer dar, indem es das Leid, was Juden in der Geschichte angetan wurde, als Freibrief zur Unterdrückung anderer Völker missbrauche. Nur sei es längst an der Zeit, in den Spiegel zu schauen, sich zu fragen: Was macht die iranische Regierung? Ist sie eigentlich besser? Wie geht es den Menschen im Iran, wie fühlen sie sich? Die Antwort ist längst kein Geheimnis mehr, auch wenn es die Regierung gerne so hätte. Die Bevölkerung im Iran ist angesichts einer Maschinerie der Unterdrückung, die den Menschen vorschreibt, wie sie zu leben, zu denken haben, bei nicht Einhalten unmenschlichen Strafmassnahmen ausgesetzt - diese Bevölkerung im Iran, der es nicht nur an Freiheiten fehlt, sondern die grossteils bis auf die Knochen ökonomisch ausgebeutet wird, in Armut leben muss, ist zutiefst unzufrieden mit der herrschenden Ordnung. So soll heute, statt platter Antiamerikanismus, statt der üblichen Politik der Ablenkung, immer wieder als Parole zu hören sein: «Stürzt den Diktator! Stürzt die Diktatur!» Als die ersten Menschen gegen 10 Uhr früh beim «Haft Tir Meidan» (Haft Tir Platz) sich vorsichtig für den erneuten Aufstand sammeln, war dort schon eine kleinere Gruppe erkennbar, die jedoch eher für die traditionelle Demo eingestimmt war, offensichtlich Anhänger der autoritären Regierung. Es beginnen sich zögerlich Blicke zu treffen, man schaut sich an, ist sich nicht sicher, wer für welchen Zweck hier ist, ob für den Aufruf im Staatskalender oder für den Aufbruch. Man ist achtsam, am Vortrag machte sich über das staatliche Fernsehen die Meldung breit, dass die Armee mit Gewalt gegen «rebellische Aktivitäten» vorgehen wird, d.h. es sind vor allem die Erkennungsmerkmale der Bewegung verboten: Hände gebunden in Schlaufen aus Grün, hochgehalten zum Victoryzeichen; schon gar nicht erlaubt, sich alternativ zu sammeln, «rebellische Parolen» zu skandieren, wie etwa: «Wenn die Regierung bleibt, wird jeder Tag wie dieser!», wie sie von allen Ecken der Stadt bis zum Sonnenuntergang noch zu hören sein werden. Die Ersten geben sich zu erkennen, zeigen Farbe, bald wird klar, dass bis auf diese kleine Gruppe, alle zur Rebellion gekommen waren. Die Menschen werden selbstbewusster, wie von Geisterhand werden es innerhalb kurzer Zeit tausende, dann unschätzbar viele; ich stehe auf einer Brücke, mache Videos mit meiner Handkamera, unendlich erscheinen die Menschen, wohin auch immer das Auge blickt. Es ist nun entschieden, der Inhalt der Demonstration ist definitiv nun ein anderer, der Aufstand war intelligent: Nutze eine Veranstaltung der Regierung, um sie umzufunktionieren: «Nicht für Gaza, nicht für Libanon, wenn sterben, dann für die Freiheit!» 1
Kein Zurück mehr Das Herz schlägt höher, die Stimmung emotional, geladen; «unmöglich, es gibt für den Iran kein Zurück mehr in ein repressives System der Heuchelei, für ein Ankommen in der Zukunft!» sagt mein Freund mit leuchtenden Augen. Es geht in Richtung «Azadi Meidan» («Platz der Freiheit»). Eine Frau, kreativ, pflückt von Baum einen Ast mit grünen Blättern, hält ihn hoch in die Luft, atmet die Stimmung in Grün tief ein, die gemeinsame Farbe des Aufstandes, im Chore mit all den Anderen schreit sie heraus: «Hab keine Angst, du bist nicht allein!» Eine junge Frau 2 hält am Strassenrand ein Plakat mit einem nachdenklichen und ebenso jungem Gesicht darauf abgedruckt in den Händen: «Er hat mit uns studiert, sie haben ihn umgebracht!» Die Zahl der Toten seit dem Beginn des Aufstandes im Juni ist nicht bekannt, Dutzende werden vermutet, auch nicht wie viele in den Gefängnissen eingesperrt sind. Die Menschen schreien «Ende der Politik des Gefängnisses, Freiheit für alle politischen Gefangenen!», «Wenn Ihr uns verhaftet, werden wir Eure Hölle sein!» Beim «Valiasr Meidan» angekommen, war die Bühne für die Abschlusskundgebung aufgebaut, aber auch dort nur wenige Anhänger der Regierung, kaum erkennbar. «Wenn Ihr der Islamismus der Unterdrückung seid, sind wir der Islamismus der Freiheit!» 3 So ist die authentische Theorie die Praxis selbst: Falls die Freiheit noch immer die Freiheit des Andersdenkenden bedeutet, Demokratie etwas mit Toleranz, mit dem Aushalten der Kontroverse zu tun hat, gab es in Teheran etwas zu lernen. Die kleinen Gruppen von Regierungsanhängern, die von einer Masse der Rebellion überflutet waren, wurden nicht attackiert. Als wollte man die kommende Gesellschaft unter Beweis stellen, wurde der Opposition zur Revolte im eroberten Raum Platz gegeben. Doch nochmals mussten die Anhänger von Ahmadi Nejad ihre Fratze zeigen. So versuchten sie in einem ruhigen Moment kurz einen Angriff, - Ziel waren vor allem Khatami und Mousavi 4, die sich unter den Demonstrant/innen befanden - doch erfolglos, der Angriff war auf halben Weg schnell abgewehrt, die Angreifer wurden jedoch nicht verfolgt, eine Provokation an diesem vielversprechenden Tag wollte man nicht mitmachen.
Mehr Proteste
Freunde rufen an, auch auf der anderen Seite der Stadt, rund um die Universität haben sich Massen versammelt, ziehen durch die Strassen. Auch in anderen Orten Irans soll es zu Protesten gekommen sein: In Orumieh, Esfahan, Shiraz, Tabriz, Mashad, Hameda, Mazandaran (u.a.) wurde ebenfalls die traditionelle Demonstration vom Aufstand eingenommen. Im Staatsfernsehen werden Bilder von der Palästina-Demo vom letzten Jahr ausgestrahlt, würden Bilder von heute gezeigt werden, dann müsste das Staatsfernsehen die Revolte zeigen, müsste die Botschaft der Bevölkerung zeigen: die Regierung ist selbst jenes Ungeheuer, das es in seiner Politik der Paranoia immer wo anders verortet. Lektionen aus dem Westen? Während das Internet nicht funktioniert bzw. nur geringfügig (wir fragen uns: steht die Kommunikation etwa schon wieder unter Zensur, wurde schon wieder das Internet grossteils abgeschaltet, nur offizielle Seiten der Regierung abrufbar, wie so oft während der Tage im Juni, um das Organisieren zu erschweren?), so möchte ich die Zeit nutzen, um die Botschaft einer Freundin noch nieder zu schreiben: «Der Widerstand im Iran braucht ebenfalls keine heuchlerische Solidarität von Menschen im 'Westen'. Hand aufs Herz, was würden Eure Regierungen machen, wenn sie wirklich Angst davor hätten, gestürzt zu werden? Wir sahen Bilder vom G8 in Genua, obwohl es bei den Demos nicht einmal um Revolution ging, sondern 'nur' um Protest, wie die Carabinieri Menschen noch in ihren Schlafsäcken verprügelt haben, wie ein Demonstrant erschossen wurde; wir sehen, wie tagtäglich Migrantinnen und Migranten in 'Schubhaft' ermordet werden, die noch nicht einmal irgendeine Tat begangen haben, wir haben die Brutalität in Griechenland verfolgt, wir sahen die Bilder von Pagani... So wollen wir bitte ehrlich sein, lassen wir nicht zu, dass rassistische Stereotypen und Vorurteile unsere gemeinsame Sehnsucht nach einem anderen Leben, einer anderen Welt überschatten. Solidarität kann nicht bedeuten, dass Ihr uns wie minderwertige Länder, Kulturen betrachtet, dabei Euch selbst als ach soviel besser, als hättet ihr Euch schon von Euren gewalttätigen Regierungen emanzipieren können. So lasst uns gemeinsam kämpfen.»
\ Pseudonym. * Der Autor will sich selbst und seine Bekannten im Iran nicht gefährden
Davon gab es auch die nationalistische Version: «Nicht für Gaza, nicht für Libanon, wenn sterben, dann für den Iran! » Überhaupt konnte man durch die Parolen sehr gut die unterschiedlichen Standpunkte erkennen.
Der überwiegende Teil, zumindest in dem Kilometer, den ich rund um mich blicken konnte, waren auffallend viele Frauen, wie auch schon bei den vergangenen Demonstrationen. Man/frau sagt, dass liege vor allem daran, dass die Frauen noch ein grösseres Problem mit dem herrschenden System haben; sie sind mehrfach belastet. Das Selbstbewusstsein der Frauen bei den Demonstrationen in Teheran (aber auch im Alltag), der Mut den sie aufbringen, die Entschlossenheit für ihre Freiheit, für soziale Gleichstellung, könnte - wenn es verblendende Vorurteile zulassen könnten - vorbildhaft sein für so manche Feministin im Westen.
Der Aufstand birgt in sich unterschiedlichste politische Strömungen, neben sozialistisch/kommunistischen Weltanschauungen, bürgerlich Liberalen (Anarchismus gibt es kaum und eher als theoretische Position), doch der Grossteil steht dennoch nicht im Widerspruch zum Islamismus. Selbst Frauen, die ihre Kopftücher während den Aktionen für einen Moment fallen lassen, um damit gegen den Zwang zu protestieren, können dabei noch immer «Allah u Ekber- skandieren (das heisst «Allah ist das Grosse», vielleicht besser übersetzt mit: «Allah ist das Ganze», wobei Allah hier einfach die Einheit des Ganzen meint; also nicht ganz das selbe, was man in der üblichen abendländischen Theologie unter «Gott» als reinen Schöpfergott bzw. als Menschwerdung Gottes versteht). Islamismus wird im Iran, überhaupt im nahen und mittleren Osten grundsätzlich anders verstanden, als wie es im Westen, im «War against Terror», diskutiert bzw. propagiert wird als eine einheitliche superautoritäre Ideologie. «Islam» ist hier zunächst wortwörtlich zu verstehen, als die Hingabe an Allah, d.h. an die Ganzheit des Seins, ein gewisses Vertrauen in die Allgemeinheit der Existenz, in dessen regulative Gerechtigkeit (daher ist auch soziale Gerechtigkeit immer schon ein zentrales Thema). Man kann ohne weiteres im Iran Islamisten (in diesem Sinne) begegnen, die sogar nicht einmal an den bestehenden Koran als heilige Schrift glauben, die der Meinung sind, dass dieser schon damals von den Herrschenden verfälscht worden sei, dass gerade das islamistische Verständnis ein Buch als totale Wahrheit, d.h. herrschend über die Einheit Allahs, ablehnen müsste. Diese libertären Positionen ähneln, soweit überhaupt vergleichbar, am ehesten dem «engagierten Buddhismus», der Befreiungstheologie im Christentum oder freiheitlich sozialen Strömungen im Judentum.
Obwohl der Name Mousavi oft in Medien als der «Anführer der Opposition» genannt wird, darf man nicht vergessen, dass für viele der Wahlbetrug, der die Machtergreifung Moussavis verhindert hat, nur eine gute Ausrede ist, um auf die Strassen zu gehen. Die Meisten, so stellt es sich sehr oft in Diskussionen heraus, scheinen tatsächlich, nach 30 Jahren Unpolitik, begriffen zu haben, dass es so grundsätzlich nicht weiter gehen kann. Dennoch sind die Leute sehr vorsichtig, weil sich schon einmal eine Revolution (1979 - bzw. nach dem Sonnenkalender, der im Iran benutzt wird, im Jahre 1357) in eine falsche Richtung entwickelt hat. Vorsichtig bedeutet jedoch nicht, dass lediglich eine Reform des Bestehenden erwünscht ist. Es geht den Menschen grundsätzlich um eine andere, befreite Gesellschaft, die noch kein Modell hat.