Im April 2000 beteiligte ich mich an einer internationalen Delegation des Europäischen BürgerInnen Forums (EBF) nach Andalusien in Südspanien, wo kurz zuvor in El Ejido pogromartige Ausschreitungen gegen marokkanische Landarbeiter⸱innen stattgefunden hatten. Inzwischen habe ich das sogenannte „Plastikmeer von Almeria“ mehrfach besucht, das letzte Mal im Dezember 2021.
Wir waren damals, im Jahr 2000, zutiefst schockiert von der brutalen und unerbittlichen Ausbeutung der Migrant⸱inn⸱en in den Plastikgewächshäusern, wo massenhaft Gemüse für die Supermärkte Europas produziert wird. Wir waren schockiert über einen Rassismus, der hemmungslos gelebt wurde, und dessen Verbindung zu einer ausgeklügelten Produktionsform der modernen industriellen Landwirtschaft. Im damaligen EBF-Delegationsbericht „Anatomie eines Pogroms, z.B. El Ejido“ wiesen wir auch auf die Schwächen und Anfälligkeiten dieses Systems hin: Solche menschenverachtenden Situationen rufen immer mehr Widerstand hervor; die Konkurrenz mit Marokko und anderen Ländern, in denen die Löhne niedriger sind, bedroht längerfristig die Vormachtstellung Spaniens, um weiterhin der „Wintergarten Europas“ bleiben zu können; die teuren Wasserbohrungen in immer tiefere Erdschichten (mehr als tausend Meter), um auf salzfreies Grundwasser zu stossen, und der intensive Einsatz von Pestiziden bringen zusätzliche Kosten und bedrohen die Weiterführung dieser Produktionsweise. Heute, fast 22 Jahre nach den pogromartigen Ausschreitungen in El Ejido, bin ich wieder in Südspanien.
Wie die Situation heute ist
Wieder bin ich hautnah mit der Situation der Landarbeiter⸱innen konfrontiert, was mich nach wie vor erschüttert. Neben Plakaten mit Werbung für neueste Gemüse-Hybridsorten auf Spanisch sehe ich auch Tafeln mit arabischen Aufschriften: Da werden den migrantischen Arbeiter⸱innen gebrauchte Plastikfetzen und Bewässerungsschläuche sowie Pappkartons für das Zusammenbasteln von miserablen Behausungen zum Verkauf angeboten. Diese so genannten „chabolas“ sind immer noch sehr zahlreich zwischen den Plastik-Gewächshäusern, anstatt dass die Arbeiter⸱innen korrekt untergebracht würden. Das System funktioniert weiterhin „bestens“. Auch die schwere Wirtschaftskrise in Spanien war für diesen Sektor kein Problem. Während damals von rund 30.000 Hektar Plastikflächen die Rede war, wird heute das „Plastikmeer“, welches sich inzwischen auch auf die Berghänge erstreckt, auf über 60.000 Hektar geschätzt. Und heute gibt es auch Bio- und Demeter-Betriebe, die von dieser Anbauweise profitieren, um günstig Obst und Gemüse auf den Markt zu bringen. Wenn wir vor zwanzig Jahren den Eindruck hatten, dass Pestizide ungehemmt und massenhaft eingesetzt wurden, so stossen wir jetzt auf zahlreiche Spezialist⸱inn⸱en und Berater⸱innen für den Einsatz von Nützlingen, Hormonfallen, Insektenschutznetzen und auch biologischen Produkten gegen Pilzkrankheiten und Schädlinge. Pestizide werden nun viel gezielter eingesetzt. Arbeitskräfte für diese riesigen Produktionsflächen fehlen auch heute nicht. Zwar ist ein permanenter Wechsel im Gange: Wer sich von den migrantischen Arbeiter⸱inne⸱n legalisieren kann, geht meistens woandershin. Sie werden dann von neuangekommenen, häufig papierlosen, ersetzt; die Konkurrenz unter den Arbeitssuchenden ist nach wie vor gross.
Trotzdem tut sich etwas
Die unabhängige Gewerkschaft SOC-SAT von Andalusien beteiligte sich schon damals an unserer Delegation. Mit finanzieller Unterstützung des EBF und anderer Organisationen betreibt sie seit über zwanzig Jahren drei Gewerkschaftsbüros in Almeria, El Ejido und Nijar. Die langjährige Präsenz von SOC-SAT trägt Früchte. Während den Öffnungszeiten der Lokale stehen Arbeiter⸱innen Schlange, um sich beraten zu lassen; die Anwältin Laura führt zahlreiche Prozesse, die sie in der Regel gewinnt, da die Betriebe und deren Besitzer⸱innen das Arbeitsrecht kaum respektieren. Die SOC-SAT ist die einzige Gewerkschaft, die in dieser Gegend wirklich aktiv ist. Sie schafft es, Blockaden und Streiks zu organisieren, und manchmal zeigen sich die Unternehmen schon von vorneherein kompromissbereit, weil sie die Mobilisierungskraft der SOC-SAT fürchten. Es gelang der Gewerkschaft auch in einigen Unternehmen, durch Betriebsratswahlen Delegierte durchzubringen und so Einfluss auf die Arbeitsbedingungen zu nehmen. Dabei handelt es sich oft – neben den Gemüseproduzenten – um grosse lokale Verpackungsunternehmen und Verteiler. Dank internationaler Vernetzung konnten solche Unternehmen unter Druck gesetzt werden, wenn diese Arbeitsverträge nicht respektierten oder gewerkschaftlich organisierte Arbeiter⸱innen entlassen wollten. Nach einem Bericht vom belgischen Fernsehsender RTBF im Januar 2021 über die Arbeitsbedingungen beim Biogrossisten „Biosavor“ in Almeria löste die Supermarktkette Aldi-Belgien ihre Partnerschaft auf. Dies ist nur eines von vielen Beispielen. Das SOC-SAT arbeitet auch mit den „Interbrigadistas“ aus Berlin zusammen, die sich vor Ort engagieren und auch Dokumente über die dortige Situation herausgeben.
Jetzt, anfangs Februar, kommt eine Delegation von Landarbeiterinnen aus der andalusischen Region Huelva zu uns nach Südfrankreich. Das „Codetras“, unser hiesiges Kollektiv zur Verteidigung der ausländischen Arbeiter⸱innen in der Landwirtschaft, wird sie mit den zahlreichen Menschen aus Lateinamerika, vor allem aus Ecuador, zusammenbringen, die hier in den Plantagen Südfrankreichs arbeiten. Erfahrungsaustausch, gegenseitige Hilfe, gemeinsame Feste und vieles mehr stehen auf dem Programm. Ich war gemeinsam mit Medienschaffenden und Wissenschaftler⸱innen von Codetras nach Andalusien gereist. Wir knüpften – neben unserem Besuch bei unseren Freund⸱inn⸱en der SOC-SAT – auch viele neue Kontakte, u.a. mit diesen Frauen, die in Huelva um ihre Würde und ihre Rechte kämpfen und uns jetzt besuchen kommen.
Peter Gerber, Codetras