ATOMKRAFT– NEIN DANKE : „Atomausstieg“ und Endlagersuche

von Lucas S., 11.04.2021, Veröffentlicht in Archipel 302

10 Jahre nach der Katastrophe von Fukushima, will Deutschland, internationaler Vorreiter des „Atomausstiegs“, bis zur Mitte des Jahrhunderts siebenundzwanzigtausend Kubikmeter unbrauchbare hoch radioaktive Nuklearstoffe in tiefen geologischen Schichten vergraben. Gleichwohl dieses Verscharren als der „letzte Schritt“ des atomaren Abenteuers verkauft werden soll, bleibt Deutschland mit seiner Atomwirtschaft in Zukunft wichtiger Protagonist im Ausbau des globalen nuklearen Desasters. Dieser Artikel soll den aktuellen Weg des „Ausstiegs“ sowie Instrumente und Beteiligungsverfahren der Endlagersuche erklären und aufzeigen, warum es auf die Art keinen Ausstieg aus der Kernenergie geben kann. Denn die deutsche Heuchelei der „diskreten nuklearen Proliferation“ wird das Problem weiterhin verschärfen. Die immer gleichen werden von diesem Wirtschaftszweig profitieren, während sie die Risiken und Kosten weiterhin demokratisieren.

Der kommende „Ausstieg“

Im Jahr 2011, nach dem mehrfachen Supergau von Fukushima, war es auch den Konservativen in der BRD scheinbar zu viel der Angst, beziehungsweise, genug der Verunsicherung. Trotz jahrzehntelanger Unterstützung der Atomlobby entschied das regierende Merkel-Kabinett, auf die kurz zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung der AKWs zurückzukommen und den bereits 2001 eingeleiteten „Ausstieg“ umzusetzen. Weltweit wird seit langem auf die fortschrittliche Energiepolitik der Bundesrepublik verwiesen. Die Förderung erneuerbarer Energien seit den 1990ern bereitete den Weg für eine „grüne Wende“ (auch als Stabilisierung der Vormachtstellung der Energiekonzerne bekannt). Nach dem Super-GAU bot sich die Möglichkeit, auf die Forderung des „Abschaltens“ aus der Zivilgesellschaft eingehen zu können. Leider griff diese Forderung reichlich kurz. Denn die Forderung des „Abschaltens“ wurde in der Praxis konsequenterweise als „Teilausstieg“ übersetzt. Sie tastete keine Monopole an und beinhaltete keine Forderungen nach Demokratisierung und Dezentralisierung der Energiepolitik.

Atomstaat Deutschland heute

Deutschland und seine Konzerne sind weit davon entfernt sich von dem Geschäft mit der Radioaktivität zu verabschieden – von den Minen bis zur (Langzeit-)Verwaltung der strahlenden Fracht. Dazu einige Beispiele: Monat für Monat dient Deutschland als Drehscheibe für den Import des nuklearen Rohstoffs Yellow-Cake, etwa auf dem Weg über Hamburg zu den südfranzösischen Brennstoff-Fabriken. Angesichts verbotener Ausfuhr von Atommüll ist der Export von Materialien, die als „Wertstoffe“ deklariert werden, nach Russland gängige Praxis. Auch die Umwidmung der Siemens-Nuklearsparte in ein Unternehmen des französischen Kernkraft-Betreibers Orano spricht Bände. Sie führt zu abertausend Beschäftigten, die mit dem Ausbau des neuen Druckwasserkraftwerks EPR in Deutschland ihr Geld verdienen – jedoch unter blau-weiss-roter Fahne. Die Firma „General Nuclear Services“ (GNS), welche sich in Essen ein Gebäude mit der „Bundesgesellschaft für Zwischenlagerung“ (BGZ) teilt, verdient sein Geld auch in Zukunft mit dem Transport des Mülls. Die profitablen Anlagen zur Brennelementherstellung in Lingen und jene zur Urananreicherung in Gronau durch den Betreiber URENCO veranschaulichen ein sehr spezielles Verständnis von Atomausstieg.

Die Lektion: Im transnationalen Kapitalismus ist es irrelevant, an welchem Ort ein Meiler entwickelt und betrieben wird oder wurde. Ein System ist im Gange, das bei jedem der Schritte von den Minen bis zur Müllverwaltung Umwelt und Mensch bedroht, damit der Rubel rollt. Der de- facto-Fortbestand der zivilen Atommacht BRD wird durch den freien Markt verschleiert. Doch abgesehen von dieser Kritik am ach so „Atomkraft-Nein-Danke“-Deutschland bleibt in jedem Fall die zentrale Frage: Wohin mit dem Müll?

„Heldin der Republik“?

Die Frage nach dem Müll wird nach wie vor unscharf beantwortet, wenn auch deutliche Fortschritte im Vergleich zu den 1970er-Jahren zu verzeichnen sind. Es gibt eine Klarheit: Der hoch radioaktive Müll soll – in Salz, Ton oder Granit – in ein rund 500 Meter tiefes Loch versenkt werden, welches laut Atomgesetz bis 2051 gebaut und dann fünfhundert Jahre lang befüllt wird. Schliesslich kommt ein Deckel darauf und das Problem ist in etwa bis ins Jahr 1002551 abgeklungen – ernsthaft. Im Jahr 2020 wurde, kaum öffentlich wahrnehmbar, eine grosse Kampagne zur Überzeugung der Bevölkerung ob der Notwendigkeit dieser spezifischen „Lösung“ mit dem Vergraben des Mülls in tiefen geologischen Schichten in Deutschland angestossen. Symbolisch geht es um die Vermittlung der Idee vom „Ende der Geschichte“ dieses gefährlichsten Kapitels der Energieindustrie.

In dieser Neuauflage der Endlagerdebatte sind die Begriffe „Bürgerbeteiligung“, „Sicherheit“ und „Transparenz“ tonangebend. Die Ämter und Behörden, die im Prozess aktiv sind, wollen nun von der „Weissen Landkarte“ in eine „Ergebnis-offene Suche“ einsteigen: „Föderal“, „Mehrstufig“, „aus den Fehlern der Vergangenheit lernend“ und „weniger von Oben herab“. Eine „Endlagerkommission“ hat den Weg nach dem Ausstiegsbeschluss geebnet und ein Verfahren erdacht: neue Akteur_innen, einen Zeitplan und Kernargumente zur Umsetzung. „Es ist ein Neubeginn, (…) das Schreiben des letzten Kapitels“, so fasst Wolfram König, Präsident des „Bundesamtes für die Sicherung der Nuklearen Entsorgung“ (BASE; umgangssprachlich: Atommüllbundesamt) zusammen. Und: „Die Rückholbarkeit soll während dem gesamten Betrieb gewährleistet sein.“

Zentral sind bei diesem grossen Thema die grossen Worte. Der Diskurs hebt die „Nationale Verantwortung“ hervor und will die langfristig betroffene Region zur „Heldin der Republik“ machen. Der rein politisch motivierten atomaren Vermüllung des Wendlands, die der Vater Von der Leyens forciert hatte, soll nun der demokratische Dialog weichen.

Beteiligungsverfahren

Gleich einer Walze rollt nun ein Prozess, der keine Alternative zu kennen scheint. Über die letzten drei Jahre hat die „Bundesgesellschaft für Endlagerung GmbH“ (BGE) in Zusammenarbeit mit Geo-Wissenschaftler_inne_n und den Ländern die Beschaffenheit der deutschen Böden zusammengetragen und Ende September 2020 im „Zwischenbericht Teilgebiete“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Dieser „erste Schritt“ der Suche verdeutlichte, dass das Vorhaben zunächst theoretisch in rund der Hälfte der Bundesrepublik umzusetzen sei. Dem geologischen Gesamtbild werden in naher Zukunft weitere naturwissenschaftliche aber auch soziologische (Akzeptanz-) Erhebungen folgen. Der Auftrag der BGE wurde in einer Novellierung des Standortauswahlgesetzes 2017 festgelegt: Den besten Standort in Deutschland finden, der „eine Million Jahre“ (!) sicher ist. Die BGE ist Vorhabenträgerin und designierte Betreiberin des zukünftigen Standortes und wird vom Bundesumweltministerium (BMU) durch die Superbehörde BASE beaufsichtigt. Das in der Haftung beschränkte Unternehmen wird also zunächst die weitere Erforschung und die Errichtung von „Erkundungs-Laboren“ Vorort umsetzen.

In der Folge sollen mit Fachkonferenzen (vier Expertinnen-Podien von Herbst 2020 bis Sommer 2021) und Regionalkonferenzen konkrete Endlagerstandorte festgelegt werden und bis ins Jahr 2031 Bundestag und Bundesrat über ein Gesetz zur Endlagerbestimmung entschieden haben. Dieses wäre dann juristisch anfechtbar – theoretisch.

Als demokratisches Beiwerk zum Prozess fungiert das Nationale Begleitgremium (NBG), zusammengesetzt aus 18 Persönlichkeiten und zufällig ausgesuchten Bürger_inne_n. Die Einbindung ehemaliger Gegner_innen und heutiger Realos ist ein Wesensbaustein des Gremiums, das helfen soll, die Öffentlichkeit zu überzeugen, aber keinerlei Befugnisse hat. Hand in Hand mit BASE und BGE arbeitend, scheint die Betitelung als „Feigenblatt-Gremium“ durch historische Atomkraftgegner_innen zu greifen. Jedenfalls blieb die Kontroverse in den spärlich besuchten Veranstaltungen bisher fast gänzlich aus. Das Corona-Jahr erwies sich als tauglich, um ein Verfahren in die Gänge zu bringen, das eine kreative Auslegung des im Atomgesetz verankerten „Dialogzwangs“ mit der Bevölkerung ermöglicht. Die Partizipation wurde digitalisiert und delegiert, was zu einer de-facto-Abwesenheit öffentlicher Debatten führte. Trotz der pandemischen Ausnahmesituation in 2020/2021 hielt der Bund am Zeitplan fest. Denn das Gesetz will, dass in zehn Jahren ein Standort steht. Koste es was es wolle.

Finanzierung der Endlagersuche

Der auch von der BASE als äusserst „sportlicher Zeitplan“ betitelte Prozess kostet einen Haufen Geld – und die Hast macht das Verfahren tendenziell teurer. Die Verluste der insgesamt defizitären Branche werden (wie die Risiken) demokratisiert und auch die Endlagersuche könnte ein politisches und wirtschaftliches Fiasko werden – ausser für die Konzerne. Der Staat hat mit dem Beschluss des „Abschaltens“ binnen einem Jahrzehnt, höchstrichterlichen Urteilen zufolge, in Eigentumsrechte der Unternehmen eingegriffen und muss nun mit hohen Entschädigungskosten gegenüber etwa RWE oder Vattenfall rechnen. Das Konzernquartett (obige plus EnBw und E.On) hatten sich noch geschickt von den „Altlasten“ frei gekauft: 24 Milliarden waren geflossen, um sinngemäss zu sagen: „Wir sind jetzt draussen, dafür behalten Volk und Regierung die Verantwortung über die Anlagen, deren Rückbau und die zigtausend Kubikmeter Müll.“ Nun fliesst das Geld zurück. Deutschland wollte mit diesem Fonds und den zu erwartenden Zinsen bis zu 160 Milliarden Euro (!) generieren, um nach dem Rückbau der Anlagen Mitte des Jahrhunderts eine sichere Müllverwaltung zu verwirklichen. Ob das möglich ist, hängt von einer finanzwirtschaftlichen Prognose über Jahrzehnte ab – Ökonom_inn_en geben sich skeptisch. (…)

Wo steht die Bewegung?

In Deutschland hat die Kommunikationsstrategie von Staat, Konzernen und Teilen der Bewegung nach dem Ausstiegsbeschluss 2011 zu einer allgemeinen „Atomkraft-ist-vorbei“-Stimmung geführt. Viele der ökologischen und antikapitalistischen Argumente bleiben jedoch hochaktuell. 2020 gab es, trotz Corona, einige Interventionen, wie etwa spektakuläre Kletteraktionen und Blockaden von Mülltransporten in Richtung Russland. Auch eine kritische Begleitung der Rückholung des Atommüll-Transportes aus dem britischen Windscale (seit dem INES-5 Unfall von Oktober 1957 auch „Sellafield“) schaffte Öffentlichkeit. Aber die Bewegung scheint deutlich geschwächt: Die Einbindung ehemaliger Gegner_innen in die tonangebenden Gremien entfaltet ihre Wirkung.

Das über vier Jahrzehnte heiss umkämpfte Gorleben schied schon im allerersten Schritt des Suchverfahrens aus: einerseits ein Erfolg der Bewegung, andererseits womöglich der Versuch, den letzten Wind aus den Segeln der organisierten Gegner_innen zu nehmen. Niemand wollte die Nachricht so recht feiern, und die Bürgerinitiativen im Wendland kündigten prompt ihr Engagement für kommende Proteste im Rahmen der Endlagersuche an. Bisher überrascht die Kritik an der Endlagersuche durch ihre politische Richtung. Das Land Bayern, traditionell rechtskonservativer Grossprofiteur der Atomindustrie, verankerte bereits im Koalitionsvertrag die Nicht-Eignung des Landes für ein Endlager. Der Christdemokrat Schünemann – ehemals niedersächsischer Innenminister, der die letzten Anti-Castor-Proteste verprügeln liess – setzte sich in Würgassen auf die Schienen, um die Pläne für ein 450-Millionen-Atom-Logistikzentrum anzufechten. Die „Not-in-my-backyard“-Argumentation scheint in Mode. Eine linke Kritik sucht neuen Halt, während sich die Grünen mittlerweile auf die Seite der Auto- und Atomkonzerne geschlagen haben.

Atomindustrie forever?

Das angeblich „letzte Kapitel“(unter dem Motto: „nach uns die Sintflut und wir buddeln ein tiefes Loch“) wird nicht nur eine weitere Gefährdung der Umwelt bedeuten. Die beteiligten Akteure und Institutionen werden sich im Namen der Sicherheit ein nachhaltiges Zukunftsgeschäft sichern und die aktuelle Situation ausnutzen, um eine kritische Debatte zu vermeiden. Der aktuelle Diskurs will die reine Wissenschaft und überragende technische Lösungen verkaufen, so wie damals bei der Einführung der Nukleartechnologie. Doch können die gleichen Leute und Denkweisen die Probleme lösen, die sie selbst in die Welt gesetzt haben?

Sämtliche Nuklearstaaten verfolgen derzeit das gleiche Ziel einer tiefengeologischen Endlagerung. Manch eine_r möchte der Atomkraft auch in Deutschland zu neuer Jugend verhelfen wie etwa Sachsens Ministerpräsident Kretschmer, der Anfang 2020 äusserte, er könne sich einen „Wiedereinstieg in die Atomkraft“ vorstellen. Die niederländische Regierung stiess jüngst Pläne für den Bau von elf neuen AKW an der deutschen Grenze an. Wie auch Macron in Frankreich bekennen sich holländische Populist_inn_en zu einer angeblich klimafreundlichen Technologie. Deutschlands Sonderweg zeichnet sich durch einen scheinbaren Schlussstrich aus, der in Wirklichkeit nur eine Verlagerung der Atomwirtschaft bei gleichzeitig anhaltender Verstrahlung des Landes beinhaltet. Wenigstens die Gefahren der Nuklearsparte und hoch angesetzte Kostenrechnungen (…) der Endlagersuche scheinen in den Köpfen der Öffentlichkeit angekommen zu sein. (…) Das Interesse derselben an der Endlagersuche ist aber bisher schwindend gering. Ein Problembewusstsein für die im weiteren Ausbau befindliche Industrie ist nicht (mehr) zu erkennen. (…) Bisher schaut die Bevölkerung, analog zu anderen Krisen der Industriegesellschaften, dauer-duldsam auf einen gut-geölten Staat, der vermittelt, er habe das Problem im Griff. Die Forderung einer „Abschaltung aller Atomanlagen weltweit“ rückt in weite Ferne und die vermeintlich so starke deutsche Antiatombewegung erscheint aktuell in trübem Licht. Kommende Fach- und Regionalkonferenzen zur Endlagersuche, das Handling der Öffentlichkeitsbeteiligung in der anhaltenden Krise und der in diesem Jahr geplante Castor-Transport aus La Hague werden zeigen, ob sich neuer Widerstand gegen die nachhaltigste aller industriellen Katastrophen aus der Deckung wagt.

Luc S., Landwirt und deutsch-französischer Medienaktivist