Vom 3. bis zum 10. Februar besuchte eine Delegation der andalusischen Landarbeiter_innen-Gewerkschaft SOC die Schweiz. An Informationsabenden in Genf und in Zürich sowie einem Bäuerinnen-Treffen in Kirchlindach bei Bern informierte sie über die prekären Arbeitsbedingungen in der Produktion und Verarbeitung von Gemüse und Obst im Plastikmeer von Almeria.
Höhepunkt der Tournee war die Tagung «Die sozialen Folgen der Industrialisierung der Landwirtschaft» am 7. Februar in Bern, an der mehr als hundert Personen teilnahmen. Zu dieser Veranstaltung hatten unter anderem folgende Organisationen eingeladen: Europäisches Bürger_innen Forum, Uniterre, Solifonds, Plattform für eine sozial nachhaltige Landwirtschaft, Kooperative Longo maï, Bio Forum Schweiz sowie die Gewerkschaften Unia, l’autre syndicat und Sit (Syndicat interprofessionel des travailleuses et travailleurs).
An der Tagung kamen Menschen zu Wort, die direkt von der Industrialisierung der Lebensmittelproduktion betroffen sind. So berichtete Hafida Mounjid über die Arbeitsbedingungen im Verpackungsbetrieb Biosol Portocarrero in Almeria (Andalusien), der auch die großen Schweizer Supermarktketten mit außersaisonalem Bio-Gemüse beliefert. Sie kam als Delegierte einer Gruppe marokkanischer Frauen, die – mit Unterstützung des SOC – seit mehr als zwei Jahren für bessere Arbeitsbedingungen kämpft. Im Juni letzten Jahres konnten die Frauen einen Teilerfolg erzielen. Sie erreichten unter anderem, dass Überstunden ausgezahlt, mehrere Entlassungen zurückgenommen und feste Verträge abgeschlossen wurden. Doch der ständige Druck auf die marokkanische Belegschaft und willkürliche Schikanen gehen weiter. Zu denken gibt auch, dass in diesem Unternehmen nur sieben der achtzig
Beschäftigten feste Arbeitsverträge haben, alle anderen arbeiten auf Abruf.
Auch in der Schweiz gibt es ähnlich prekäre Arbeitsbedingungen in der Verpackungsindustrie. Die Senegalesin Fatou N’dir, ehemalige Angestellte eines schweizerischen Fleischverpackungsbetriebs, berichtete über die unakzeptablen Bedingungen und das Mobbing, dem sie dort ausgesetzt war. Der prekäre Aufenthaltsstatus der Frau wurde vom Unternehmen schamlos ausgenutzt. Nur mit gewerkschaftlicher Unterstützung durch «l’au-tre syndicat» erreichte sie vor Gericht schlussendlich die Auszahlung der geleisteten Überstunden. Unhaltbare Bedingungen sind auch nach wie vor in den Gewächshäusern des intensiven Gemüseanbaus in Almeria zu finden, kommentierte Federico Pacheco vom SOC und verwies auf die miserablen Löhne, das Fehlen von Arbeitsverträgen und die katastrophalen Lebensbedingungen in den «chabolas», den Slumsiedlungen, in welchen tausende Migrant_innen hausen. Auch in der Schweiz arbeiten Landarbeiter_innen oft unter unannehmbaren Bedingungen, wie der aus dem Irak stammende Hassan Hassan schilderte, der sich Jahre lang im Weinbau verdingte. Philipp Sauvin von der «Plattform für eine sozial nachhaltige Landwirtschaft» ergänzte, dass landesweit schätzungsweise 5 000 bis 8 000 Sans-Papiers vertragslos in der Landwirtschaft beschäftigt sind.
An der Tagung kamen auch Bäuerinnen und Bauern zu Wort. Sie prangerten die sich ständig verändernden Leitlinien der Landwirtschaftspolitik und den ihnen auferlegten Wachstumsdruck an. Eric Ramseyer, ein Bauer aus der Westschweiz, beschrieb, wie die von den Behörden propagierte Vergrößerung seines Milchwirtschaftsbetriebes ihn in eine Sackgasse geführt hatte. Er stellte seine damaligen Entscheidungen in Frage. Auf Grund der damit verbundenen Abhängigkeit, würde er heute nicht mehr eine Spezialisierung auf eine einzige Produktion wählen. Weitere engagierte Beiträge aus dem Publikum wiesen auch auf die zerstörerische Natur der Industrielandwirtschaft hin, die den Menschen ausgrenzt und viel mehr Kalorien verbraucht als produziert.
Andere Teilnehmende wollten wissen, wer von der Industrialisierung der Landwirtschaft profitiert und wer welchen Anteil am Verkaufspreis von Obst und Gemüse hat. Im Plastikmeer von Almeria haben sich viele Großkonzerne ausgebreitet, die Ausrüstungsmaterial für die Gewächshäuser sowie Dünger, Pestizide und Plastik herstellen. Sie gehören ebenso zu den Gewinnern dieser Entwicklung, wie die europäischen Großverteiler. Diese weigern sich beharrlich, ihre Lieferanten bekannt zu geben. Daher ist es eine mühsame Recherchearbeit, den Weg der Produkte von der Ernte bis in die Regale der Supermärkte zu verfolgen und herauszufinden, wer welche Gewinnspannen einstreicht.
An der Tagung wurde wieder deutlich, dass die Industrialisierung der Landwirtschaft gravierende Folgen für Landarbeiter_innen, Bäuer_innen und Beschäftigte in der Nahrungsmittelindustrie hat. Sie sind die schwächsten Glieder in der Produktionskette und oft schutzlos dem Preis- sowie dem damit verbundenen Lohndumping ausgeliefert. Die weiterhin fortschreitende Industrialisierung der gesamten Nahrungsmittelproduktion muss gestoppt werden. Dazu braucht es eine radikale Wende in der Landwirtschaftspolitik zugunsten einer breit abgestützten sozialen und ökologischen Landwirtschaft, die von Konsument_innen und Produzent_innen gemeinsam getragen wird. Dieser großen Herausforderung müssen wir uns schon aus eigenem Interesse stellen, denn die Sicherheit unserer Ernährung steht auf dem Spiel.
Wir müssen auch vermehrt auf politischer Ebene aktiv werden. In diesem Sinn wurde anlässlich der Tagung ein Forderungskatalog zusammengestellt, der sich an den Bundesrat und das Parlament richtet. Er wurde den Landwirtschaftsverbänden, den Gewerkschaften, den Konsument_innenorganisationen und den politischen Verantwortlichen zugestellt. Seine Forderungen zielen darauf ab, die ärgsten Missstände zu beheben. Weitere Treffen werden darauf ausgerichtet sein, Ansätze für eine alternative Landwirtschafts- und Ernährungspolitik zu formulieren.
P.S. Die Landarbeiter_innengewerkschaft SOC braucht auch in Zukunft eine breite Unterstützung, um ihre Arbeit weiterführen zu können. Deshalb sind auch Delegationen in anderen europäischen Ländern geplant: vom 13. bis 18. April in Österreich und vom 19. bis 24. April in Deutschland. Genaue Tourneepläne finden sich unter: www.forumcivique.org
Forderungskatalog Anlässlich des Seminars vom 7. Februar 2013 in Bern haben die Teilnehmenden die sozialen Folgen der Industrialisierung der einzelnen Sektoren in der Landwirtschaft analysiert und daraus Forderungen zum Schutz und zur Besserstellung der Direktbetroffenen formuliert.
Frauen sind von der Industrialisierung der Landwirtschaft besonders hart betroffen. Deshalb fordern wir, dass:
Gleichberechtigung und Mitbestimmung der Frauen in der Landwirtschaft auf allen Ebenen durchgesetzt werden. Konkret heisst das:
Landarbeiterinnen müssen gleiche, gerechte Anstellungs- und Arbeitsbedingungen haben wie ihre männlichen Kollegen; Bäuerinnen müssen Entscheidungsbefugnisse, gleichberechtigte Teilhabe am Einkommen und die rechtliche Gleichstellung bezüglich der Besitzverhältnisse erhalten.
Die Arbeitsbedingungen der Arbeiter_innen in der Landwirtschaft und der landwirtschaftliche Produkte verarbeitenden Industrie sind unhaltbar. Deshalb fordern wir, dass:
die Arbeitsbedingungen der landwirtschaftlichen Angestellten durch die Ratifikation und die Anwendung der diesbezüglichen internationalen Konventionen verbessert werden. Im Besonderen die Konvention Nr. 184 (2001) der ILO (International Labour Organisation) betreffend die Sicherheit und die Gesundheit in der Landwirtschaft; in der Schweiz die Landwirtschaft unter das Arbeitsgesetz gestellt wird und dass ein bindender nationaler Normalarbeitsvertrag für die landwirtschaftlichen Angestellten mit Arbeitsbedingungen, die anderen Wirtschaftssektoren entsprechen, geschaffen wird.
Migrant_innen werden in der industrialisierten Landwirtschaft ausgenutzt. Deshalb fordern wir, dass:
die internationalen Konventionen zum Schutz der Wanderarbeiter_innen und ihrer Familien unterzeichnet, ratifiziert und umgesetzt werden; die in der Landwirtschaft beschäftigten Sans-Papiers regularisiert werden.
Die Industrialisierung der Landwirtschaft bedroht die Existenz vieler Bäuerinnen und Bauern. Deshalb fordern wir, dass:
als vertrauensbildende Maßnahme für Produzent_innen und Konsument_innen eine langfristige Landwirtschaftspolitik ausgearbeitet wird; die bäuerliche Landwirtschaft gestützt wird, indem Fair-Trade-Kriterien für die Produkte aus der bäuerlichen Landwirtschaft aufgestellt und umgesetzt werden und der Mehrwert in der Produktionskette gerechter verteilt wird; attraktive Voraussetzungen geschaffen werden, damit vermehrt Jugendliche in die Landwirtschaft einsteigen; Beratungs- und Unterstützungsangebote für landwirtschaftliche Betriebe im psychosozialen Bereich geschaffen werden; eine Kontrollinstanz geschaffen wird, die zum Ziel hat, das Preisdumping der Großverteiler zu verhindern.
Die Großverteiler vermarkten Obst und Gemüse, das unter unannehmbaren sozialen Bedingungen produziert wurde. Deshalb fordern wir, dass:
soziale Minimalstandards für die Produktion landwirtschaftlicher Güter festgelegt werden; bei offensichtlicher Missachtung sozialer Standards, die Großverteiler zur Verantwortung gezogen werden.
Bern, den 7. Februar 2013