Die Aufstände in Tunesien und Ägypten zu Beginn des Jahres 2011 haben die ganze Welt überrascht. Nach dem Sturz der «Führer» akzeptierten die herrschenden Oligarchien demokratische Konzessionen. Kommende Wahlen sollen Platz für neue politische Volksvertretungen schaffen. Es wird aber nicht einfach sein, den sozialen Bedürfnissen, die seit Jahren in diesen Ländern sporadisch eingefordert werden, gerecht zu werden, wenn die Massendemonstrationen auf der Straße nicht weitergehen.
Die sozialen Forderungen sind so sehr «im Verzug», dass sie ganz plötzlich und unvorbereitet in der Öffentlichkeit auftauchen. Dies treibt die Armee dazu, angesichts eines drohenden «Chaos» oder gefährdeter Interessen, auf den Plan zu treten. Dazu kommen noch die internationalen «Befürchtungen»: Die noch herrschenden Potentaten haben Angst vor einer möglichen Ansteckung, die Europäer zittern vor neuen Einwanderungsströmen, die Banker sorgen sich um ein paar kleptokratische Kunden, Israel befürchtet die Infragestellung der Blockade von Gaza und des separaten Friedensvertrages mit Ägypten usw. Alles geht sehr schnell: Politische Kulturen und soziale Klassen kreuzen sich, konfrontieren sich, und eine neue, improvisierte politische Landschaft entsteht...
Wie die Geschichte auch verlaufen wird, die anfängliche Revolte wird nichts von ihrer Größe verlieren. Es war viel die Rede von der Bedeutung des Internets für den Beginn der Revolutionen, da dadurch polizeiliche Sperrmaßnahmen quasi unmöglich wurden. Aber schon Hannah Arendt sagte, dass die Meinungsfreiheit ohne die Wahrheit der Fakten nichts wert ist. Und die Wahrheit trat ans Tageslicht durch die schrecklichen Schmerzen jener, die sich selbst verbrannten. Es ist die Wahrheit der jungen Menschen ohne Zukunft in einer ungerechten, verzerrten Welt. Und diese Wahrheit konnte nicht mehr in eine Gefahr umfunktioniert werden: die Gefahr der fanatischen «Bärtigen». Sie wurde zu einer Kraft, die in anderen Zeiten und an anderen Orten an das hinduistische Wort satyagraha (Kraft der Wahrheit) erinnert, damals ein Ausspruch Ghandis, der am Ursprung der Übersetzung des Wortes «Gewaltfreiheit» steht. Aber eigentlich bedeutet er die Forderung nach Wahrheit als eine Ablehnung der Gewalt.
Vorzeichen
Heute ist der arabisch-muslimische Raum für die internationalen Medien von großem Interesse. Aber nur wenige nahmen Kenntnis von den Vorzeichen des Aufstands. So war das Jahr 2008 in Tunesien während langer Zeit geprägt von der populären Revolte in der Region Gafsa gegen die Klientelwirtschaft, die in den Phosphatminen herrschte. Die Repression war streng, aber der Protest ging zum ersten Mal nicht nur von einer kleinen Gruppe von bekannten Aktivisten aus. Auch in Ägypten breiteten sich soziale Bewegungen aus. 2008 kam es zu einem Aufstand der Textilarbeiter in der Stadt Mahala im Nildelta. Solidarische Studenten, die damals verhaftet wurden, demonstrierten in den folgenden Jahren weiterhin unter dem Namen «Bewegung des 6. April». Und sie lancierten einen Aufruf im Internet für eine große Mobilisierung am 25. Januar, einem Feiertag, der an die ägyptischen Polizisten erinnert, die im Jahre 1952 bis zu ihrem Tode gegen die englischen Kolonialsoldaten kämpften ...
Entmystifizierung des Islamismus
Beim Sturz des Diktators Ben Ali am 14. Januar 2011 und auch anlässlich des Rücktritts von Mubarak am 11. Februar waren die so sehr gefürchteten Islamisten keineswegs ausschlaggebend.
Professor Olivier Roy betitelte seinen Artikel in der Zeitung Le Monde vom 12. Februar mit «Die post-islamistische Revolution». Er ist der Meinung, dass die europäische Wahrnehmung dreißig Jahre im Rückstand ist: Sie sieht immer noch das Syndrom der iranischen Revolution hinter den heutigen arabischen Revolten. Die Aufständischen der ersten Demonstrationen von 2011 sind jedoch weniger ideologisch und mehr individualistisch geprägt als die Generation der islamistischen Aktivisten der Jahre 1970/80. Dies will nicht heißen, dass die Islamisten verschwunden sind, aber sie haben sich geändert. Einige wurden radikal und engagierten sich im «internationalen Dschihad», jedoch ohne Basis im Volk. Viele andere hingegen passten sich an Kompromiss orientierte politische Regeln an. Sie waren ja auch die Oppositionellen, die der Repression am stärksten ausgesetzt waren.
Die Partei Ennahda in Tunesien zum Beispiel unterzeichnete am 18. Oktober 2005 in Paris eine Plattform. Es ging um eine republikanische Charta, die von den wichtigsten Oppositionsparteien und Menschenrechtsorganisationen verabschiedet wurde. Sie verpflichteten sich, die zivilen und politischen Freiheiten aller Mitbürger zu respektieren.
Bestimmt hat der Islam in den arabischen Staaten und in den Einwanderungsländern seine öffentliche Präsenz verstärkt. Dies kann jedoch unterschiedlich eingeschätzt werden. In seinem Artikel bestätigt Olivier Roy, dass es in den arabischen Staaten eine massive Neuislamisierung gibt. Er denkt jedoch, dass es eine optische Illusion wäre, dies mit einer politischen Radikalisierung zu verwechseln. Er meint, genau das sei das Paradox dieser Islamisierung: «Sie hat den Islam weitgehend entpolitisiert. Die soziale und kulturelle Re-islamisierung (Tragen des Schleiers, die Zahl der Moscheen, die immer zahlreicheren Prediger, die religiösen Fernsehsender) spielte sich außerhalb des islamischen Aktivismus ab. Sie schuf einen «religiösen Markt», auf den niemand ein Monopol hat; sie geht auch auf die neue Suche des Religiösen der jungen Leute ein, die individualistisch und auch wechselhaft ist. Kurzum, die Islamisten haben das Monopol der religiösen Sprache im öffentlichen Raum verloren, das sie in den 1980er Jahren innehatten.» Der Autor fügt noch hinzu, dass die mit dem Westen verbundenen Regimes keineswegs ein Bollwerk gegen den Islam waren. Sie instrumentalisierten die Religion mit Imams in der Rolle von Funktionären, deren Beamtensprache bei den Jungen auf taube Ohren stieß.
Zu Beginn der Revolte am 25. Januar in Ägypten hielt sich die islamistische Organisation vorerst zurück. Nach drei Tagen Mobilisierung gingen auch sie auf die Straße.
Obwohl sie zu den wichtigsten politischen Formationen des Landes zählten, war ihnen eine Teilnahme an den Wahlen untersagt. Sie lehnen es heute ab, einen Präsidentschaftskandidaten zu stellen, zweifellos, um keine Angst zu verbreiten. Bei anderen Wahlen wollen sie jedoch kandidieren. Es wird sich dann zeigen, wozu diese religiöse Partei in der neuen Situation fähig ist.
Die Türkei
Vor den aktuellen Umwälzungen in den arabischen Ländern half schon die Regierungsbeteiligung der Islamisten in der Türkei, diese Gefahr zu relativieren. Es kam zu keiner Apokalypse in Ankara, als die Partei von Erdogan die Macht übernahm.
Was den Islamismus in der Türkei betrifft, bestätigt er auch, was der Politologe François Burgat schon seit langem über politische Gewalt sagt: Nicht die Ideologie ist der Ursprung der Radikalisierung, sondern vor allem der politische Kontext in den betroffenen Ländern. Länder, welche die islamistischen Kräfte ins politische Spiel einbeziehen, lösen sich leichter vom Autoritarismus, als jene, die den «Integrismus» brutal unterdrücken.
Auch die schlimmsten Extremisten des Islamismus werden nicht für das beurteilt, was sie wirklich sind. Man sieht nur ihre sektiererische ideologische Seite, religiösen Eifer und ihre Verwünschungen, ähnlich wie das Bürgertum von Florenz im 15. Jahrhundert Savonarola* verurteilt hatte. Es geht nicht darum, die Extremisten zu verteidigen oder Tatsachen zu verdrängen, aber diese einseitige Beurteilung verdeckt uns die Sicht auf die politische Seite der Islamisten. Anlässlich des Prozesses gegen den ersten Amerikaner, der als Mitglied von al-Qaida angeklagt war, erklärte dieser sein Handeln damit, dass er in erster Linie gegen amerikanische Einmischung auf «islamischem Boden» protestieren wollte und nicht gegen den amerikanischen way of life.
Islamistischer Terrorismus
In Frankreich im Jahre 2007 hielt der Polizeipräfekt Squacini eine lehrreiche Konferenz über den islamistischen Terrorismus. Es war an der Universität in Aix en Provence, bevor er Chef der staatlichen Antiterrorismussektion DCRI wurde. Er zählte die drei Gründe auf, wieso Frankreich Zielscheibe eines Attentats der al-Qaida werden könnte: die Beziehungen Frankreichs zum Regime in Algerien, die französische Militärpräsenz in Afghanistan und das Gesetz von 2004, welches das Tragen des Kopftuchs im öffentlichen Raum verbot.
Seitdem hat Sarkozy die Truppen in Afghanistan verstärkt und Maßnahmen gegen die eher seltene Gesichtsverschleierung (Burka) in Frankreich beschlossen, wahrscheinlich um sich auf die Seite der USA zu stellen, seiner wichtigsten Verbündeten. Wohl geht es ihm auch darum, sich des islamistischen Risikos als Schreckgespenst zu bedienen.
Es kommt vor, dass Vertreter der Ordnungskräfte offener sind als Politiker. So beschreibt 2008 Michael Scheurer, Verantwortlicher der CIA im Kampf gegen al-Qaida, die bornierte Wahrnehmung dieses Phänomens mit einem erfundenen «Dialog»: Ben Laden sagt: «Zieht eure Truppen aus der arabischen Halbinsel ab». Washington antwortet: «Ihr werdet nicht verhindern, dass unsere Frauen in die Schule gehen». Ben Laden sagt: «Hört auf, den Genozid in Tschetschenien zu unterstützen.» Washington antwortet: «Unsere Wahlen könnt ihr nicht verhindern!» (zitiert von Violent Non-State Actors in World Politics, Hurst London.)
Das will nicht heißen, dass die Situation der Frauen in den islamischen Bewegungen und in der arabisch-moslemischen Welt im Allgemeinen unwichtig ist. Aber das Problem wird von westlichen Regierungen instrumentalisiert und schlussendlich wird im Namen der Frauenrechte gegen den Irak Krieg geführt. Und so nimmt man gar nicht mehr wahr, dass es auch in der islamischen Welt feministische Kämpfe gibt. Die Forscherin Stefanie Latte Abdallah veröffentlichte vor kurzem eine Studie «Islamischer Feminismus» (Verlag PUP). Man erfährt in diesem Buch, dass es in dieser Welt seit langem feministische Strömungen gibt und dass immer mehr Frauen den Koran auf ihre Weise interpretieren.
Der Kampf gegen den Terrorismus als Regierungsform war eines der Themen des 4. europäischen Treffens für die Analyse von politischen Gesellschaften, die Anfang Februar im CERI (Centre d’Etudes en Relations Internationales), einem Studienzentrum für internationale Beziehungen, in Paris stattfand. Das Treffen trug den Titel: «Ich hasse, also bin ich, die soziale Konstruktion des Konflikts.» Die Konstruktion eines neuen Feindbildes wurde so präsentiert: «Wir werden euch einen Bärendienst erweisen, wir berauben euch eures Hauptfeindes», erklärte damals Gorbatschew. Doch einmal mehr wurde der Kapitalismus unterschätzt. Mit der neuen Situation konfrontiert, fabrizierte die ‚westliche Industrie zur Herstellung von Sündenböcken’ blitzschnell einen neuen Gegner. Eine ‚neue Weltordnung’ braucht einen neuen Feind. Die Geiselnahmen durch einige bewaffnete algerische Gruppen in der Sahelzone sind ein flagrantes Beispiel dafür, wie mit sterilen Aussagen und selbstproduzierten Prophezeiungen ein neues Feindbild geschaffen werden kann. Nigeria und Mali wurden in einen ‚Krisenbogen’ eingeordnet, der sie mit Ereignissen des afghanischen Operationsschauplatzes verband. Dies legitimierte und stärkte die antiimperialistischen und islamistischen Splittergruppen der Organisation al-Qaida im islamischen Maghreb (Aqmi). Sie konnten sich so eine soziale Basis schaffen. (…)»
Werden die arabischen Revolutionen zur Infragestellung der islamophoben Paranoia führen? Eine schwierige Frage. Ein Test könnte die Behandlung von ausländischen Islamisten in Frankreich sein: Der Tunesier Salah Karker zum Beispiel, Mitbegründer der Partei Ennahda, wurde 1993 vom damaligen Innenminister Charles Pasqua unter Hausarrest gestellt. Seither verlangen die Liga für Menschenrechte, das EBF und andere Organisation, dass er vor Gericht gestellt werden solle, falls man ihm etwas vorzuwerfen habe. Aber es ist nichts dergleichen geschehen. Karker ist halbseitig gelähmt und der Ausländer mit dem längsten Hausarrest in Frankreich. Ein anderer skandalöser Justizirrtum: die Affäre des Franko-Algeriers Djamel Beghal. Die antiterroristische Justiz verurteilte ihn 2005 zu zehn Jahren Gefängnis für ein geplantes Attentat gegen die US-Botschaft in Paris. Dank der Enthüllungen von Wikileaks wird allerdings ersichtlich, dass der Richter Ricard dem Botschafter mitgeteilt hat, dass nicht genügend Beweise für eine Verurteilung vorlägen.
Es scheint unwahrscheinlich, dass diese Affären eine Lösung finden, die Behörden schrecken davor zurück, eigene Fehler einzugestehen, zumal die öffentliche Meinung in unseren Gesellschaften oft islamophob ist.
Die Entmystifizierung des Islamismus, die sich heute in den arabischen Ländern abspielt, wird zweifellos für die Identitätsbezogenheit einen politischen Raum schaffen. Sie wird aber die westlichen Mächte nicht daran hindern, die Angst vor dem Islamismus zu schüren. Wenn die Bärtigen die Ufer von Karthago auch nicht zerstören werden, können sie sich immer noch damit begnügen, auf das Syndrom al-Qaida oder auf die kulturellen islamischen Zeichen in unseren westlichen Ländern zurückzukommen: Wie zum Beispiel das Tragen des Schleiers als Beweis einer schleichenden Islamisierung, der unsere nationale Identität bedroht.
Sollte sich die freie Meinungsäußerung im Süden des Mittelmeerraums entwickeln, bekämen wir sicherlich verstärkt die Wut der Araber gegen die Mauer der europäischen Visa oder gegen die israelische Besetzung zu hören.
* Savonarola war ein italienischer Dominikaner und Bußprediger. Er erregte Aufsehen mit seiner Kritik am Lebenswandel des herrschenden Adels und Klerus und war de facto Herrscher über Florenz von 1494 bis zu seiner Hinrichtung 1498