SÜDITALIEN / SCHWEIZ: SOS Rosarno

von Christoph Kienholz, Solrosa, 15.11.2021

Die Stadt Rosarno in Süditalien wurde vor allem bekannt wegen unmenschlicher Arbeits-und Lebensbedingungen auf den Orangen-Plantagen in ihrer Umgebung. Die Kooperative „SOS Rosarno“ fördert vor Ort eine andere lokale Entwicklung. Der Verein „Solrosa“ in der Schweiz unterstützt diese Initiative. Im Frühjahr 2020 vernahmen wir von Problemen bei SOS Rosarno – der Lockdown traf die Kooperative unerwartet und hart. Von dem einen auf den anderen Tag blieben die Bestellungen aus. Aber Zitrusfrüchte müssen geerntet werden, sonst gibt es im darauffolgenden Jahr keine Ernte, und auch der Käse verschwand nicht, sondern stapelte sich im Keller. Grossabnehmer nutzten die Situation schamlos aus und begannen, Zitrusfrüchte unter dem Erntepreis zu kaufen; bei prekarisierten Arbeiter·innen fiel durch den Lockdown das Einkommen aus. Die Folgen des Lockdowns waren in Süditalien für die Landwirtschaft verheerend.

Die Kooperative „SOS Rosarno“ entstand nach der Revolte der afrikanischen Landarbei-ter·innen im Jahr 2010 (1) mit der Absicht, neben der kalabrischen Mafia und ihrer markt-kontrollierenden Macht in der industriellen Landwirtschaft eine Lebensmittelproduktion aufzubauen, welche sowohl die Produzierenden als auch die Konsumierenden respektiert, ohne die Natur zu vergiften. Zudem handelt es sich um ein Projekt, das für bessere Bedingungen für alle Beteiligten wie die migrantischen (Land-)Arbeiter·innen, Kleinbäuer·innen, Kleinstproduzent·innen sowie Illegalisierten kämpft. Deshalb wird ein Teil des Erlöses aller Produkte zur Finanzierung von Projekten verwendet, die für die Rechte der Landarbeiter·innen einstehen und die Ernährungssouveränität und Selbstbestimmung lokaler Gemeinschaften fördern. Dies sowohl in Italien wie auch im Ausland.

Am Anfang zu fünft, begannen wir im März 2020, einen Transport in die Schweiz zu planen. Dies ohne Vorkenntnisse, was Import, Umgang mit Speditionsfirmen und allfällige Zölle anbelangt, dafür mit einem soliden Netz an Freund·inn·en und organisatorischer Übung aus unserer Gewerkschaftsarbeit. Eine Struktur wie eine Genossenschaft oder einen Verein über-legten wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht, da wir von einer einmaligen Lieferung in vier Städte der Schweiz ausgingen. Auch ohne Werbekampagne kamen jedoch innerhalb von wenigen Wochen Bestellungen zusammen, welche unsere Erwartungen um ein Vielfaches übertrafen. Diese erste Runde war aufgrund der Umstände mit einigen zusätzlichen Schwierig-keiten verbunden. So waren – da die Industrie zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Monate gestoppt war – keine Kisten für Zitrusfrüchte und auch keine Ölkanister für SOS Rosarno verfügbar, die Speditionsfirmen launisch und damit der Liefertermin unklar. Auch dass die Früchte am Zoll durch irgendeine nicht-geregelte Formalität hängen bleiben und verderben würden, mussten wir in Kauf nehmen.

Anders handeln und wirtschaften

Mittlerweile sind wir als Verein unter dem Namen Solrosa organisiert. Dieser bündelt die Bestellungen (2) und organisiert den Transport. Von unserem Selbstverständnis her sind wir nicht gewinnorientiert ausgerichtet und sehen uns als ein politisches Projekt, um mit Direk-timport den Zwischenhandel möglichst auszuschalten und bezahlbare und gute biologische Lebensmittel zugänglich zu machen. Spenden oder „Gewinne“ werden an Projekte und Or-ganisationen weitergegeben, Lohn wird keiner ausbezahlt.

Wichtiger als die logistischen Abklärungen sind die Diskussionen innerhalb des Vereins und die Auseinandersetzung mit unserem Umgang zwischen Produzierenden und Konsumieren-den. So beschlossen wir, keine reduzierten Preise für Geringverdienende festzulegen. Dies kommt aus der Überlegung heraus, dass sich damit einerseits einkommensschwache Men-schen uns gegenüber rechtfertigen und wir andererseits sehr umständlich Preise festlegen müssten. Dagegen erwarten wir, dass zusätzlich spendet, wer kann, ohne dass wir jedes Mal dazu auffordern müssen. Eine weitere Erfahrung war auch, dass unser Vorschlag, die Preise für SOS Rosarno zu erhöhen – der Liter Olivenöl in Bioqualität kostet gleich viel wie der billigste aus dem Supermarkt –, damit sie als Produzierende mehr verdienen würden, auf überhaupt keinen Anklang stiess. Aus ihrer Perspektive legen sie als Produzierende die Preise fest und diese gälten unabhängig davon, wer wo einkaufen würde.

Weiter mussten wir uns auch die Frage nach dem Wachstum beziehungsweise einer für SOS Rosarno und uns tragbaren Obergrenze stellen, nachdem der letzte und bislang auch grösste Transport einen Umsatz von beinahe 100.000 Schweizerfranken erreichte. Ein Transport in dieser Höhe zu organisieren, ist für uns als Verein noch tragbar. Jedoch werden wir zukünftig die Werbung flach halten; die Selbstorganisation von weiteren Verteil-Standorten neben Basel, Bern, Biel, Luzern und Zürich wäre jedoch weiterhin erfreulich.

Für uns ist es wichtig, dass wir uns weder institutionalisieren noch dass Abhängigkeiten und Erwartungen entstehen, welchen wir nicht entsprechen können. Von SOS Rosarno her sind die Menschen vor Ort erfreut über unsere Arbeit und sehen die Transporte in die Schweiz als gute Ergänzung zu ihrer Arbeit, so konnten sie die Saison 2020/21 zum ersten Mal in zehn Jahren ohne Schulden beginnen. Auch essen wir niemandem die Lebensmittel weg, da es lokal genügend Produzierende gibt, und wir so vielmehr ihre Projekte unterstützen können.

Diese Fragen von unserer Seite her trafen auf die Erwartungshaltung einiger Leute, die unsere Initiative Solrosa als mögliches gewinnorientiertes Unternehmen erachten und damit Geld verdienen möchten. Eine Umstrukturierung vom Verein mit viel Freiwilligenarbeit hin zu einem gewinnorientierten Unternehmen wäre aber nicht nur eine rechtliche Frage, sondern würde auch eine ganz andere Art von Umgang untereinander bedeuten, was wir nicht anstre-ben. Im Vergleich zu anderen ähnlichen Strukturen können wir Fixkosten auf ein Minimum reduzieren – die Bestellung muss an einem bestimmten Tag abgeholt werden; wir verfügen über keinen Lagerraum. Dies bedeutet, dass wir einerseits auf Spontanität und solidarische Orte angewiesen sind, aber andererseits, dass wir keinen Überschuss bestellen und auch keinen Ersatz herbeizaubern können, wenn ein Produkt nicht geliefert wird. Genau bei diesem Punkt – es gab bei jeder Lieferung Ausfälle von Produkten – ist es schnell offensichtlich, wie die Bestellenden sich selber wahrnehmen. Von uns angestrebt ist eine Lieferkette auf Augenhöhe, wobei auch Fehler möglich sind. Jedoch kein Verhalten wie im Kaufhaus. Diese Art von Umgang kann aus unserer Warte aber nicht aufgedrückt werden – im schlechtesten Falle bestellen Menschen, die sich in einem klaren Lieferant·innen-Kund·innen-Verhältnis sehen, halt kein weiteres Mal. Laufende Ausgaben und Verpflichtungen sind so tief, dass wir diese notfalls auch aus dem eigenen Sack bezahlen könnten, damit erhalten wir uns die Freiheit, uns so zu organisieren, wie wir dies als richtig erachten, und sind auch keinem Zwang ausgesetzt, Einkünfte zu generieren. Der Aufwand der einzelnen aktiven Mitglieder darf aber trotzdem nicht unterschätzt werden – auch wenn wir mittlerweile vom Abtippen von Excel-Dokumenten hin zu einem Webshop wechseln konnten, was die Nerven ungemein schont.

Gerade mit dem Webshop eröffnen sich auch neue Möglichkeiten. Dieser erlaubt es uns, mit sehr viel weniger Aufwand weitere Kampagnen zu starten. Neu können wir die Backwaren einer libertären Kommune namens Urupia aus der Nähe von Rosarno anbieten. Wenn alles klappt wie erwartet, kommen schon bald Reinigungsmittel und Seifen der selbstverwalteten Fabrik Vio.Me (3) aus Griechenland dazu, welche seit der Übernahme durch die Arbeiter·innen immer wieder staatlicher Repression ausgesetzt ist. Wenn sich in der Zukunft auch noch eine gute Alternative zu den momentan beauftragten und sehr klassisch funktionierenden Speditionsfirmen finden liesse, könnte im momentanen kapitalistischen Rahmen der Weg vom Feld auf den Teller weitestgehend menschenwürdig organisiert werden.

Was haben wir denn von dem ganzen Aufwand? Wir wissen, was wir essen, woher es kommt und wie die Arbeitsbedingungen sind – und wir können uns unser Essen selber organisieren.

Christoph Kienholz, Solrosa

Nähere Informationen zu SOS Rosarno: https://www.sosrosarno.org/ und über Solrosa: https://www.solrosa.org/

  1. Jean Duflot: „Orangen fallen nicht vom Himmel – der Sklavenaufstand von Rosarno“, Verlag Europäisches Bürgerforum/CEDRI, Basel 2011, CHF 15.-, EUR 10.- (+ Versand), zu bestellen bei: Forum Civique Européen, Postfach, CH-4001 Basel.
  2. Wie bestellen? Infos unter www.solrosa.org
  3. http://www.viome.org/