GESTERN-HEUTE-MORGEN: Ein historisches Zeitfenster

von Alexander Behr, EBF Österreich, 13.06.2020, Veröffentlicht in Archipel 293

Die Lage, in der wir uns befinden, könnte paradoxer nicht sein: Während sich die Pandemie vor unseren Augen ausbreitet, sind Staats- und Regierungschefs rund um den Globus plötzlich zu ökonomischen Entscheidungen in der Lage, die sie bis vor Kurzem noch als Teufelszeug gebrandmarkt hätten. Was in Vor-Corona-Zeiten kategorisch bekämpft wurde, ist im Moment einhellige Meinung – quer durch alle ideologischen Lager. Billionen an Dollar und Euro liegen auf dem Tisch, der Staat greift ohne zu zögern ins Wirtschaftsgeschehen ein – das neoliberale Dogma, das besagt, dass die unsichtbare Hand des Marktes alle Probleme zu lösen imstande sei, hat sich als blanker Unsinn entpuppt. Die Krise, vor der wir stehen, kommt nicht von Zufall. Sie ist, wie Aktivist·inn·en vom oppositionellen chinesischen Blog der Zeitschrift Chuang (1) betonen, kein unwahrscheinliches Ereignis, das unabhängig vom kapitalistischen Wirtschaftsgeschehen sei. Vielmehr führt eine direkte Linie vom strukturellen Wachstumszwang des Kapitalismus hin zur Covid-Krise. Unzählige Forscher·innen haben in den letzten Wochen darauf hingewiesen, dass die Zerstörung der Biodiversität und die Zurückdrängung der Wälder die Wahrscheinlichkeit für die Herausbildung von Viren, die von Wildtieren auf den Menschen überspringen, enorm erhöhen. Die feministische Marxistin Silvia Federici hat diese Zerstörungsprozesse in ihren Büchern als fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals bezeichnet. Zur Zerstörung der Biodiversität kommt die Gefahr, die von der industriellen Tierhaltung ausgeht. Auch sie verursacht die Verbreitung von gefährlichen Viren. Darauf hat nicht zuletzt der Evolutionsbiologe Rob Wallace, Autor von Big Farms make Big Flu, hingewiesen. Auch die Verbreitung von Covid19 erfolgte nicht «zufällig»: Es war die globale Oberschicht, die durch ihre überdurchschnittlich vielen Flugreisen das Virus in rasender Geschwindigkeit rund um den Globus brachte.

Ein historisches Zeitfenster nutzen

Lassen wir nicht zu, dass sich das historische Zeitfenster wieder schliesst: Ende Mai hätte in Wien eine grossangelegte Konferenz zu Degrowth, also zum Thema der bewussten und geplanten Wachstumsrücknahme stattfinden sollen. Die Covid-Krise zeigt uns, wie wichtig es ist, natürliche Lebensräume vor dem Zugriff der industriell-kapitalistischen Zerstörung zu schützen und das Dogma des unendlichen Wirtschaftswachstums zu hinterfragen. Doch was ist nun zu tun? Vor uns hat sich ein historisches Zeitfenster aufgetan. Es wäre fatal, zuzulassen, dass es sich wieder schliesst. Auf die Wirtschaftskrise vom Jahr 2008 und 2009 folgte ein weiteres business as usual. Damals waren die globalen sozialen Bewegungen zu schwach, um eine Alternative zur neoliberalen Globalisierung durchzusetzen. Lassen wir es nicht zu, dass diesmal die tiefgreifende sozial-ökologische Transformation, die wir brauchen, verhindert wird. Angesichts der rapide voranschreitenden Klimazerstörung können wir uns nicht leisten, eine weitere Krise ungenutzt verstreichen zu lassen. Der Slogan der Klimabewegungen für dieses Jahr lautet »by 2020 we rise up» – rund um den Globus waren Massenaktionen geplant. Normalerweise wären wir also zu vielen Tausenden auf der Strasse, um unseren Forderungen nach Klimagerechtigkeit Nachdruck zu verleihen – in Österreich geben Bewegungen wie System Change not Climate Change und Stay Grounded dafür die wichtigen Impulse. Die Corona-Krise bringt uns nun in eine paradoxe Situation: Wir können uns nicht versammeln, um mittels massenhaftem zivilen Ungehorsam klimaschädliche Sektoren wie die Auto- oder Flugindustrie zu blockieren. Doch die meisten dieser destruktiven Wirtschaftszweige stehen ohnehin ganz ohne unser Zutun still. Das ist jedoch kein Grund zur Freude: Unzählige Menschen leiden nicht nur in gesundheitlicher, sondern auch in sozialer und ökonomischer Hinsicht an den Folgen der Krise.

Umbau der Wirtschaft

Doch mit einem Mal stehen wir unvermittelt vor einer Weggabelung der Geschichte. Schon lange nicht mehr war es so offensichtlich, dass es sehr wohl Alternativen gibt – wir können, ja wir müssen das Rad der Geschichte jetzt in eine andere Richtung drehen. Für Österreich ergeben sich sofort unmittelbare Herausforderungen: Wie Lucia Steinwender von System Change not Climate Change betont hat, müssen wir sicherstellen, dass in klimaschädlichen Sektoren eine Produktionskonversion (2) eingeleitet wird. Alle öffentlichen Investitionen müssen sich an der Einhaltung des 1,5 Grad-Ziels orientieren. Die gigantischen öffentlichen Mittel, die nun zu Verfügung stehen, müssen dafür eingesetzt werden, den Beschäftigten in der darniederliegenden Flug- und Autoindustrie attraktive und gut abgesicherte ökologische Jobs anzubieten. Wir haben darauf hinge- wiesen, dass dies im Fall der Austrian Airlines sofort in Angriff genommen werden könnte. Denn Fliegen ist nicht nur ein Klimakiller, der in Europa knapp 15 Prozent der Emissionen verursacht – das Flugzeug ist auch ein Verkehrsmittel, das von Reichen ungleich mehr benutzt wird als von Armen, wie aus einer Umfrage des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ) hervorgeht. Wie Ulrich Brand und Heinz Högelsberger (3) betonen, hat der Boom der Billigflieger also in keinster Weise den «demokratisierenden» Effekt, der ihm von Lobbyisten zugeschrieben wird. Neben dem ökologischen Umbau der Wirtschaft geht es auch darum, die Krisenlasten gerecht zu verteilen. In einer Gesellschaft, in der sich 50 Prozent der Bevölkerung gerade einmal 2,5 Prozent des Nettovermögens teilt, während das reichste Prozent (der Bevölkerung) 41 Prozent des Nettovermögens besitzt und in welcher jedes Jahr 14 Mrd. Euro an leistungslosem Einkommen steuerfrei vererbt werden, ist es gerade jetzt offensichtlich, dass die Kosten für die Krise extrem ungleich verteilt sind. Das Momentum Institut (4) hat errechnet, dass durch die Besteuerung von Vermögen, Erbschaften, Spitzeneinkommen und verschobenen Gewinnen rund 12 Milliarden Euro eingenommen werden könnten. Das wäre bereits ein Drittel der 38 Milliarden Euro, die die Regierung für die Bewältigung der Krise einsetzen will.

Wirklich systemrelevant

Wir dürfen nun mit unseren Forderungen nicht bescheiden sein. Denn es liegt nicht nur «Big Money» am Tisch; wenn die progressiven Kräfte in der Lage sind, genügend Druck aufzubauen, kann man neben dem «Big Money» auch die richtigen Konzepte auf den Tisch legen. Dazu gehört der «Green New Deal», so wie ihn Alexandria Ocasio-Cortez bereits vor einem Jahr für die USA vorgeschlagen und wie ihn Bernie Sanders für seinen Wahlkampf übernommen hat. Anstatt grosse Firmen aus dem Bereich der fossilen Energie zu «retten», müssten die grossmassstäbigen öffentlichen Investitionen, die nun anstehen, dazu genutzt werden, um massenhaft Arbeitsplätze für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, dem Rückbau von Autobahnen sowie der grossmassstäbigen Gebäudedämmung zu schaffen. Auch zusätzliche, gut abgesicherte und attraktive Jobs im Bereich der Reproduktionsarbeit müssen geschaffen werden. Denn Sorgearbeit und die Sicherstellung öffentlicher Infrastruktur erweisen sich aktuell mehr denn je als diejenigen gesellschaftlichen Bereiche, die wirklich «systemrelevant» sind. Der Staat soll Arbeitsstiftungen gründen, die gut bezahlte und abgesicherte Jobs vermitteln und zugänglich machen – sei es in der Altenpflege, der lokalen Versorgung mit gesunden Lebensmitteln oder des öffentlichen Verkehrs. Die Covid-19-Krise hat der imperialen Produktions- und Lebensweise ruckartig die Grundlage entzogen. Was wir aus der Krise lernen können, ist, dass das Hamsterrad aus Lohnarbeit und Konsum, in dem wir eingesperrt sind, sehr wohl angehalten werden kann. Die Covid-19-Krise eröffnet die Möglichkeit, eine Post-Neoliberale Phase einzuleiten, in der das Dogma von Hyperglobalisierung und Freihandel fällt und ein gutes Leben für alle innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten durchgesetzt werden könnte. Auch am diesjährigen 1. Mai konnten wir nicht wie gewohnt auf die Strassen gehen – stattdessen fand unter anderem eine beeindruckende Fahrraddemo statt, mit Mundschutz und reichlich Sicherheitsabstand. Nun ist es wichtig, weiterhin vernetzt zu bleiben und aktiv zu sein. Jüngst forderten wir in einem offenen Brief (5) die sofortige Evakuierung der Geflüchteten, die auf den griechischen Inseln blockiert sind. Zahlreiche Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben sich bereit erklärt, mitzuhelfen und Menschen in den jeweiligen Gemeinden aufzunehmen. Denn es kann kein Nachdenken über Utopien für die Zeit nach Corona geben, wenn nicht hier und jetzt ein Minimum an grenzüberschreitender Solidarität aufrechterhalten wird – das ist gewissermassen der Lackmustest für die Gesellschaft, die wir nach Corona aufbauen sollten. Die Quarantäne mag uns aktuell in unserer Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einschränken – nicht jedoch in unserer Möglichkeit, uns laut und deutlich für globale Solidarität stark zu machen. Alexander Behr*

*Alexander Behr, Präsident des EBF-Österreich, ist Politikwissenschafter, Übersetzer und Journalist. Zuletzt erschienen: «Die Kraft der kollektiven Intelligenz.» In: «Jean Ziegler – citoyen et rebelle», edition 8, Zürich 2019.

  1. Soziale Ansteckung - Mikrobiologischer Klassenkampf in China, Arch. 292
  2. Keine Staatshilfen für Klimakiller: Warum wir die Autoindustrie vergesellschaften müssen https://mosaik-blog.at/autoindustrie-vergesellschaftung/
  3. Staatshilfen für die Luftfahrt nur unter bestimmten Bedingungen, Gastkommentar in der Wiener Zeitung vom 14.04.2020
  4. Massnahmen für eine gerechte Verteilung der Krisenkosten, momentum-institut.at
  5. siehe auch Archipel Nr. 291 sowie unsere website: forumcivique.org