VENEZUELA: Radeln als kollektive Antwort

von Kathrin Samstag, EBF, 12.06.2021, Veröffentlicht in Archipel 304

Aus Venezuela dringen in den letzten Jahren selten positive Nachrichten nach Europa und «während die Elefanten kämpfen, leidet das Gras». Doch die Genossenschafter·innen von CECOSESOLA lassen sich bis heute nicht unterkriegen und bauen in ihrem seit über 50 Jahren währenden kollektiven Prozess weiterhin an jener hierarchiefreien Zukunft, die sie sich wünschen .(1)

Zur Erinnerung: Der von Hugo Chávez als Nachfolger bestimmte Nicolás Maduro wurde 2013 zum venezolanischen Staatspräsidenten gewählt. 2019 erklärte sich der damalige Parlamentspräsident Juan Guaidó zum Interimspräsidenten und wurde von den USA, der EU (und zusätzlich einzelnen EU-Staaten) sowie einigen weiteren Ländern als neuer Präsident anerkannt. An der Macht ist er bis heute nicht. Sein Einfluss schrumpft im Gegenteil ständig. Die Bevölkerung hat seit Jahren mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes zu kämpfen. Es mangelt in fast allen Bereichen: Nahrungsmittel, Gesundheitsversorgung, Ersatzteile, Trinkwasser, Strom, Gas zum Kochen, etc. Rund 3,7 Millionen Menschen verliessen Venezuela in den letzten Jahren (2), da zwischen Korruption, Wirtschaftsembargos, Misswirtschaft und Währungszusammenbruch kein Ausweg in Sicht ist.

Soziale Initiativen

Derweil knüpfen die Genossenschafter·innen von CECOSESOLA rund um die Millionenstadt Barquisimeto im zentralwestlichen Bundesstaat Lara weiterhin an ihrem weit verzweigten Netz aus Kooperativen, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. 2017 versorgten sie auf eigenen Märkten wöchentlich 100.000 Familien mit Lebensmitteln und weiteren Produkten des täglichen Bedarfs – insgesamt 10.000 Tonnen im Monat. Allein an Obst und Gemüse wurden 600 Tonnen pro Woche, vor allem aus den eigenen Produktionskooperativen, verkauft. Im Jahr 2009 wurde der bereits bestehende Gesundheitsdienst um das Gesundheitszentrum CICS erweitert. Dabei handelt es sich um ein kleines Krankenhaus mit vielfältigen Therapieangeboten. Dort und bei dezentralen Sprechstunden wurden 220.000 Menschen medizinisch versorgt. Am Sparkassen-, Krankenkassen- und Bestattungskassensystem sind ebenfalls jeweils zehntausende Familien beteiligt.

Jede neue Etappe in der venezolanischen Krise stellt CECOSESOLA vor ungeahnte Herausforderungen und zwingt zur eigenen Neuerfindung. Die mehr als tausend gleichberechtigten Genossenschafter·innen, die ihren Lebensunterhalt in den verschiedenen Strukturen des Netzwerks erwirtschaften, diskutieren alle grösseren Probleme in diversen Plena und finden gemeinsam eine für sie in der jeweiligen Situation passende Lösung: Särge werden wegen des Metallmangels nun aus Holz gefertigt, die endlosen Warteschlangen vor den Märkten werden inzwischen per Chipkarte und per Vergabe von Wartenummern durch einen Zufallsgenerator organisiert, der Saatguteinkauf wurde zwischen allen landwirtschaftlichen Produktionskooperativen kollektiv organisiert, private Autos, die zur kollektiven Nutzung zur Verfügung gestellt werden, profitieren von kollektiver Ersatzteilbesorgung, etc. (3)

Kein Diesel – kein Strom

Seit einigen Monaten zeichnet sich nun die nächste Schwierigkeit ab. In Venezuela, dem Land mit den grössten Erdölvorkommen weltweit, wird der Treibstoff knapp. Die eigene Produktion ist unter Misswirtschaft und Ersatzteilmangel zusammengebrochen. Bis Anfang November 2020 tolerierten die USA, dass die venezolanische Regierung, trotz Wirtschaftssanktionen, mit multinationalen Unternehmen Rohöl gegen Diesel tauscht. Wenige Tage vor den US-Präsidentschaftswahlen verbot die Trump-Administration diese Versorgungsmöglichkeit und die neue US-amerikanische Regierung beschäftigt sich vorerst mit anderen Problemen. (4) Die Lage in Venezuela spitzt sich nun täglich zu. Transporte von Personen und Waren sowie Notstromversorgung sind zunehmend unmöglich, da die meisten Fahrzeuge und Stromaggregate mit Dieselmotoren laufen. Die Sanktionen treffen eindeutig die gesamte Bevölkerung und müssten als völkerrechtswidrig eingestuft und sofort beendet werden.

Noch ist allerdings kein Ende des Embargos in Sicht und auch bei CECOSESOLA herrscht grosse Sorge. Ohne Diesel können die landwirtschaftlichen Produkte nicht vom Land in die Stadt gebracht werden. Es besteht die Gefahr, dass die kommenden Ernten auf den Feldern vergammeln. Die meisten Produktionsstandorte sind viele Stunden Fahrt von Barquisimeto entfernt, was alternative Transportmöglichkeiten erschwert. Und selbst wenn Obst und Gemüse die Stadt erreichen, funktionieren ohne (Not-)Strom weder Licht noch Kassen und Computer – von medizinischen Geräten im Gesundheitszentrum CICS ganz zu schweigen.

Fahrräder for future

Trotz dieser sehr angespannten Lage bleiben die Genossenschafter·innen einem ihrer wichtigsten Prinzipien treu: keine Zeit und Energie auf politische Machtspiele verwenden; sich gar nicht erst abgeben mit jenen Kräften, die Sanktionen verhängen oder Gesellschaft von oben gestalten wollen. Lieber bauen sie von unten weiter an Strukturen, welche die Grundfesten des Kapitalismus ins Wanken bringen und bei denen nicht Wachstum und Gewinne, sondern die Menschen und ihre Grundbedürfnisse im Zentrum stehen. Ihre Organisierung ohne Chefinnen und Chefs legt die Verantwortung fürs Ergebnis in die Hände aller. Viel Vertrauen sowie kreative und praktische Fähigkeiten sind so über die Jahre gewachsen. Für manche war das doch nicht der passende «Job» und sie haben CECOSESOLA wieder verlassen. Jene, die über die Jahre und Jahrzehnte geblieben sind, gestalten tagtäglich einen beeindruckenden Prozess persönlicher, kollektiver und gesellschaftlicher Transformation.

Auch in der Dieselknappheit geht CECOSESOLA nun einen eigenen und vor Ort sehr ungewöhnlichen Weg. Die Genossenschafter·innen setzen auf die vermehrte Nutzung von Fahrrädern. In einem Land, in dem die Tankfüllung fürs Auto lange Zeit weniger als eine Flasche Wasser kostete, fuhren Erwachsene im Alltag kein Fahrrad. Räder gelten in Venezuela als Kindergefährte oder Sportgeräte. In Barquisimeto setzte bereits vor eineinhalb Jahren ein Umdenken ein. Nach dem Besuch zweier Genossenschafter·innen bei kollektiven Projekten in Deutschland, bei denen eigentlich alternative Gesundheits- und Bildungsstrukturen im Fokus waren, erwiesen sich die Strassen als inspirierendste Orte. «Fridays for future» begeisterte einerseits und ansonsten galt die Faszination all den jungen und alten Menschen, die überall mit Rädern unterwegs waren. Zunächst schien es eine gute Lösung für den chronischen Autoersatzteilemangel zu sein und nebenbei konnte etwas für den Klimaschutz getan werden. Gleich nach der Rückkehr nach Venezuela wurden erste Fahrradkurse organisiert und Räder repariert. Bei den Märkten entstehen derzeit Fahrradparkplätze und durch gemeinsame Radausflüge werden mehr und mehr neue Radfahrer·innen gewonnen.

Da auch in der aktuell sich zuspitzenden Lage die Energie nicht in Lobbyarbeit gegen die Sanktionen gesteckt werden soll, ist der weitere Ausbau der Fahrradflotte die beste Lösung, um länger mobil zu bleiben. Radelnd wird nun jeder Tropfen Treibstoff für wichtige Transporte gespart. Nebenbei zeichnen sich viele andere Vorteile dieser Lösung aus der Not heraus ab: Menschen riskieren weniger Ansteckung mit Covid-19 als bei gemeinsamen Fahrten; generell ist die sportliche Fortbewegungsart gut für Kreislauf und Gesundheit; ausserdem wird Zeit gespart, weil weniger Autos stunden- und tagelang vor Tankstellen warten müssen und Autoreparaturen sowie die Beschaffung von Ersatzteilen teilweise entfallen können. Wie lange die Notlösung herhalten muss und ob damit tatsächlich alle wichtigen Transporte der nächsten Wochen und vielleicht sogar Monate bewältigt werden können, ist derzeit nicht absehbar, da eine Abhängigkeit von gewissen Mindestmengen an Treibstoff weiterhin besteht. So bleibt zu hoffen, dass die Gestaltungsenergie und Ausdauer bei CECOSESOLA gross genug sind, um auch diese Krise zu überstehen.

Kathrin Samstag, EBF

in Zusammenarbeit mit dem CESOSESOLA-Netzwerk und im Namen der transkontinentalen Gruppe von Intercambio

  1. Auf https://cecosesola.org/acerca-de/ findet sich ein untertitelter Kurzfilm, der die Geschichte und das Wirken von CESOSESOLA zusammenfasst.

  2. https://news.un.org/es/story/2020/06/1476202 (21.04.2021)

  3. Weitere Beispiele zeigen die Genossenschafter·innen in ihrem Film «Reinventándonos» auf Youtube.

  4. https://amerika21.de/analyse/249246/trump-biden-venezuela-dieselknappheit (21.04.2021)